Weckerklingeln

(danach:) lautes Uhrticken

 

O-Ton, Mutter:

Ich stehe so gegen halb sechs, viertel vor sechs auf und mache das Frühstück für die Kinder und wecke dann meinen Kleinen, der hat Probleme mit dem Aufstehen, da überschlägt sich alles. Bis wir um halb acht mit dem Kleinen aus dem Haus gehen, überschlägt sich alles. Also, ich muss mich fertig machen, ich muss Frühstück für die Kinder machen, ich muss ihnen Brote machen, muss Kakao machen – ich weiß nicht, da läuft mir die Zeit weg. Alles muss wie am Schnürchen klappen, da vergehen die Minuten ganz schnell, - zack, zack, zack, fünf Minuten, fünf Minuten, fünf Minuten - wenn der Kleine dann nicht aufsteht und ich ziehe ihn an und ich sage ‚Komm jetzt, mach!’ - das ist zum Beispiel stressig.

 

Sprecherin:

Elisabeth Haradzaris, Mutter von zwei Söhnen, sechs und acht Jahre alt, schildert den allmorgendlichen Wettlauf gegen die Uhr. Daniel, der achtjährige, hat sich schon ein bisschen an die Hektik gewöhnt, doch der sechsjährige Marios möchte noch kuscheln, schläft wieder ein. Er verweilt in einer Zone zwischen Traum und Tag. Darin folgt er seiner eigenem Rhythmus, lebt Übergänge und lässt sich nicht von der Uhr kommandieren.

 

Lautes Uhrticken:

 

O-Ton, Mutter:

Ich sage ihm jetzt schon immer ‚Wenn der große Zeiger unten ist, müssen wir weg. Und dann muss Du noch das und das und das machen.’ Und dann wenn der Zeiger auf fünf vor halb ist, merkt er auch ‚Jetzt muss ich los ja.’ Er will alles gründlich machen und mit Muße. Das bewundere ich ja auch: Zähneputzen, - das macht er alles mit Muße, weil er denkt, das muss so sein, und er macht es in seinem Rhythmus. Zum Beispiel wenn er seine Zahnbürste hier eine Viertelstunde lang abspült, und ich finde es auch toll, dass er bestimmte Dinge in seinem Rhythmus macht, aber wenn ich unter ganz großem Druck bin, dann werde ich einfach sauer.

 

Lautes Uhrticken:

 

Sprecher:

Der kleine Marios lebt noch  in einer Zeit ohne Uhr,  in einer Welt, wo alles Erleben und jeder Vorgang sein inneres Zeitmaß enthält. Bald ist es damit vorbei.

Kinder lernen nicht nur die Uhr lesen, sie müssen sich ihr auch unterwerfen, spätestens mit Schulbeginn.

Sprecherin:

Für die Erwachsenen scheint die Zeit ein immer knapperes Gut. Sie verbringen ihren Alltag eingepfercht zwischen Terminen und Telefonaten, Abfahrts- und, Öffnungszeiten, Sprechstunden und Abgabefristen, zwischen Verspätungen und Versäumnissen, schnellen Erledigungen und noch schnellerem Essen, d.h. einem Leben voller Hast und Hetze. 

 

Sprecher:

„Ich habe keine Zeit“ – hört man allenthalben und immer noch scheinen Tempo und Zeitdruck zuzunehmen. Zeitforscher wie der Münchener Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geissler bestätigen diese Entwicklung.  

 

O-Ton, Karlheinz Geißler:

Ja, die Diagnose stimmt. ... seit der Erfindung der mechanischen Uhren gehen wir mit der Zeit so um, als sei die Zeit eine Ware. Und diese Ware muss immer schneller umgesetzt werden. D.h. die Zeit muss immer schneller laufen, damit sie, weil wir sie an Geld koppeln, immer mehr Profit liefert. Und wir leben in einer marktwirtschaftlichen Organisation und sind massiv von ihr abhängig. Wir müssen Zeit zu Geld machen, und das immer schneller und immer hektischer. Deshalb sind wir in der Situation, dass sich ganz viele Leute unter Zeitdruck fühlen – es gibt Untersuchungen: drei Viertel aller Menschen fühlen sich unter Zeitdruck, übrigens in Japan auch – und aus dieser Situation kommen wir schlecht heraus, die Dynamiken der Globalisierung werden das eher verschärfen als mindern.

 

Sprecherin:

Time is money, Zeit ist Geld – lautet die Formel einer Konkurrenz, die den Globus umspannt und weder Tages- noch Nachtzeiten kennt. Mobilität, Flexibilität, permanente Erreichbarkeit lauten die Kriterien, die erfüllen muss, wer mithalten will. Die Informationsgesellschaft hat dafür die technischen Möglichkeiten bereitgestellt: schnelle Verkehrsmittel, die nur noch von noch schnelleren Kommunikationsmitteln übertroffen werden.

 

Sprecher:

Selbst Wissenschaftlern verbleibt immer weniger Zeit, um in Bibliotheken zu forschen oder in Laboratorien zu experimentieren. Ihre Aufsätze und Vorträge entstehen en passant - auf Flughäfen und in Zügen, unterwegs von einem Kongress zum nächsten.

 

Bahnhofsszene: Bahnsteigeräusche, Züge, Ansage,  Laufschritte,  Handy, Verspätungen.

 

Musik

Life is out of Balance (Philipp Glass)

(im folgenden unterlegen)

 

Sprecherin:

Die enormen Fortschritte in den Transport- und Informationstechnologien sind kein rein technisches Phänomen, das der Gesellschaft äußerlich bliebe. Sie formen vielmehr das soziale Leben bis in den Alltag hinein, sie prägen die Erfahrungs- und Wahrnehmungsweise der Menschen.

Auto, ICE und Flugzeug lassen das ehemals Ferne erreichbar werden, rücken es ins eigene Erlebnis- und Handlungsfeld.  Je schneller sich Kontakte via Handy und Email herbeiführen lassen, desto zahlreicher sind sie möglich und zumutbar. Und je schneller sich Wege zurücklegen und Aufgaben bewältigen lassen, um so mehr Platz für andere Projekte wird frei, um so ungeduldiger drängen weitere nach.

 

Sprecher:

Das Angebot, dessen was wir tun können oder sollen, setzt uns unter Entscheidungsnot.  Das Hier und Jetzt des Menschen wird gleichsam überfüllt. So entsteht unabhängig vom individuellen Charakter jene strukturelle Hektik, jener Zeitdruck, den der Soziologe Arnold Gehlen als gestörtes Zeitbewusstsein der Gegenwart diagnostiziert hat.

Wie gehen wir mit der Zeit um? Wohin wird die allgegenwärtige Hektik uns führen? 

 

Musik

Life is out of Balance (Philip Glass)

 

Sprecherin:

Die Frage nach der Zeit hat die Menschen schon immer beschäftigt. Philosophisch gehört sie zu den Urfragen, auf die jede Kultur eine Antwort zu geben versucht, ohne ihr Rätsel doch auflösen zu können. Es geht uns wie Augustinus, der gestand:

 

Zitator:

„Was also ist die Zeit? Solange mich niemand fragt, ist mir`s, als wüßte ich`s, doch fragt man mich und soll ich es erklären, so weiß ich`s nicht.“

 

Sprecher:

Klassische Philosophie und Physik entwickelten in der Vergangenheit völlig entgegengesetzte Auffassungen vom Wesen der Zeit: Für Immanuel Kant gehört die Zeit dem menschlichen Geist an, sie stellt ein Raster dar, ein Schema des Vorher-Nachher, mit dem der Mensch seine Wahrnehmung und Erfahrung ordnet. Die Zeit entspringt demnach dem menschlichen Subjekt.

 

Sprecherin:

Dagegen begreift die Physik die Zeit als etwas Objektives, als Eigentümlichkeit der außermenschlichen Natur, des Kosmos. Die klassische Physik vor Einstein bestimmte die Zeit als ein gleichmäßiges einförmiges Kontinuum. Diese Auffassung hat sich durchgesetzt und ist im Bild von der Zeit als einem Fluss, der stetig und irreversibel in eine Richtung strömt, Gemeingut geworden.

 

Sprecher:

In den letzten anderthalb Jahrzehnten ist das Thema der Zeit jedoch verstärkt ins Blickfeld der Sozialwissenschaftler geraten. Sie heben hervor, dass die Zeit vor allem ein soziales Phänomen sei, wie der Soziologe und Volkswirt Gerhard Bosch erläutert. Bosch lehrt an der Universität Duisburg und ist am Landesinstitut Arbeit und Technik vor allem mit dem Thema Zeit in der Arbeitswelt befaßt.

 

O-Ton, Gerhard Bosch:

Das ganze soziale Leben ist zeitlich strukturiert, die Familie - wann steht man auf, wann nimmt man die Mahlzeiten zu sich, wann gehen die Kinder in die Schule, wann gehen die Eltern, der Vater oder die Mutter zur Arbeit, wann kommen sie wieder, wann macht man Ferien, - alle diese Dinge sind zeitlich strukturiert, und es gibt zum Beispiel als erstes Problem das Koordinationsproblem, wie koordiniert sich eine Gesellschaft, wann wird gearbeitet, wann wird Freizeit verbracht - in der Familie, wann kann man sich austauschen außerhalb  der Arbeitszeit, wann ist Zeit für gemeinsame kulturelle Ereignisse, das war die Bedeutung des Sonntags - das alles sind Fragen, die den Soziologen interessieren, und dann natürlich auch die Frage der wirtschaftlichen Effizienz, die heute zunehmend dringlicher wird; die Soziologen haben sich lange Zeit mit der kulturellen Bedeutung der Zeit befaßt, ... heute ist unsere Zeit doch sehr stark durch die Ökonomie bestimmt.

 

Sprecherin:

Die Sozialwissenschaften betonen also den gesellschaftlichen Charakter von Zeit.  Der 1990 verstorbene Soziologe Norbert Elias schrieb, eine Erforschung der Zeit handle nie von dieser allein, sondern spreche immer auch über den sozialen Zusammenhang, in dem Erfahrung, Kommunikation und Handeln zeitlich geordnet sind. Elias veröffentlichte ein Werk mit dem Titel Über die Zeit, worin er die heutige Diskussion angestoßen hat. Joachim Winkler, Soziologe an der Universität Köln und Elias-Kenner erläutert dessen Ansatz.

 

O-Ton, Joachim Winkler:

Elias stellt sich eigentlich nicht die Frage, was die Zeit ist, sondern er geht davon aus, dass man eigentlich von Zeitbestimmen oder Zeitbestimmung reden müsste, ... das heißt Zeit ist eigentlich für ihn ein In-Beziehung-Setzen verschiedenster Geschehensabläufe in der Physik, in der Natur, im Sozialen; mit Hilfe der Zeitbestimmung verortet sich der Mensch selbst, ... Die Uhr ist natürlich das zentrale Beispiel, das Zifferblatt. Und das Zifferblatt als von Menschen geschaffenes Symbol sendet uns Mitteilungen und bestimmt, wie wir bestimmte Bereiche in unserem Leben regulieren, wie wir unser Verhalten regeln, wie die Menschen ihr eigenes Verhalten aufeinander abstimmen. Das geht häufig über Mitteilungen, über Uhrzeiten, über Zifferblätter.

 

Sprecher:

Mit Hilfe der Uhr möchte der Mensch die Zeit kontrollieren und in Besitz nehmen. Er glaubt daraus Vorteil zu ziehen, nämlich Zeit sparen zu können.  Der Dichter Rainer Maria Rilke hat diese Annahme schon recht früh desillusioniert.  In seinem Werk Die  Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge  stellt ein kleiner Beamter die Überlegung an, dass man doch sehr viel Zeit besitzt, wenn man die verbleibenden Jahre „in Tage, in Stunden, in Minuten, ja, wenn man es aushielt in Sekunden umwechseln“ könnte. Aber bald merkt er, dass er sehr viel Zeit ausgibt, und beschließt:

 

Zitator:

„Ich werde mich einschränken, dachte er. Er stand früher auf, er wusch sich weniger ausführlich, er trank stehend seinen Tee, er lief ins Bureau und kam viel zu früh. Er ersparte überall ein bisschen Zeit. Aber am Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, dass er betrogen sei. Ich hätte nicht wechseln dürfen, sagte er sich. Wie lange hat man an so einem Jahr. Aber dieses infame Kleingeld, das geht hin, man weiss nicht wie.“

 

Sprecherin:

Dichter, die Seismographen des Seelischen, spürten sehr früh, was sich heute auch dem sozialwissenschaftlichen Blick offenbart: Die Uhr und ihre Normierung der Zeit sind keineswegs selbstverständlich. Zwar stützt sich die Einrichtung der Uhr auf kosmische Fakten, darauf daß sich die Erde jeden Tag einmal um die Sonne dreht. Aber nichts nötigt dazu, diesen Prozeß in 24 gleichlange Stunden zu unterteilen, jede Stunde nochmals in exakt 60 Minuten und diese wiederum in Sekunden. Und erst recht besteht keine Naturnotwendigkeit, diese Zeiteinteilung zu einem universalen Maßstab zu erheben, an dem sich jeder andere Prozeß, jedes soziale Geschehen auszurichten habe. Anders gesagt: Uhren und Kalender sind soziale Konstrukte, in ihnen spiegelt sich ein bestimmtes Verständnis von Zeit und ein entsprechender Umgang mit ihr wider.

 

Sprecher:

Elias kämpft mit seinen Reflexionen gegen den substantialistischen Schein der Sprache: Die Zeit ist kein Ding, ihr eignet nichts Substantielles. Sie ist vielmehr eine Form, eine Weise der sozialen Orientierung und Ordnung, ein ‘timing’, wie es im Englischen heißt und wofür sich im Deutschen kein entsprechendes Wort findet.

 

Sprecherin:

Uhren und Kalender stellen soziale Zeitregulatoren auf universalem Niveau dar, denen ihrerseits eine Fülle spezieller Zeitgeber aufsitzen: Fahrpläne, Termine, Öffnungszeiten von Ämtern, Büros und Geschäften, Wochenarbeitszeiten, Ferienregelungen und so weiter und so fort - ein immer dichter geknüpftes Netz von Zeitregelungen hat sich - so Joachim Winkler - über den Alltag der modernen Gesellschaft gelegt:

 

O-Ton, Joachim Winkler:

Ich würde davon ausgehen, daß die Uhr, die Zeiteinteilung im Grunde Formen der Strukturierung des Alltags sind. Der Alltag wird getaktet, wenn ich einmal ein Bild aus der Musik nehme, und in der gesellschaftlichen Entwicklung unserer Industriestaaten hat man das Gefühl, daß dieser Takt schneller wird, daß die Strukturierung des Alltags enger wird, und je schneller die Taktung des Alltags wird, ums so eher kommen wir in solche Phänomene des Streß, des Druckes, des Termindrucks, des Zeitdrucks, also die Schnelligkeit der Taktung des Alltags stößt an eine Grenze.

 

Musik

Klangprojekt – Strichpunkt, Passage Time (mit peitschendem Takt)

(im folgenden unterlegen)

 

Sprecher:

In den hochindustrialisierten Ländern bilden Herz-Kreislauf-Erkrankungen den Grund für etwa zwei drittel aller Todesfälle.  In Indien stirbt daran nur ein Prozent der Bevölkerung. Ist es ein Zufall, dass in einer Kultur, die fortwährend ihr äußeres Tempo erhöht, die inneren Rhythmen durcheinander geraten und kollabieren. Ist der Herzinfarkt eigentlich ein Zeitinfarkt?

 

Musik

Klangprojekt – Strichpunkt, Passage Time (mit peitschendem Takt)

 

 

O-Ton, Joachim Winkler:

Der Körper ist auch in einem bestimmten Prozeß, Stoffwechsel und was man sich dort vorstellen kann, und hat auch im täglichen Funktionieren seine Grenzen, das Herz kann nur bis zu einer bestimmten Grenze schneller schlagen, langsamer schlagen, der Blutdruck hat bestimmte Grenzen, wenn diese Grenzen überschritten werden, haben sie ein bestimmtes Krankheitsbild: Hypertonie. Das heißt der Körper kann letztendlich nur begrenzt auf eine Beschleunigung des Alltags reagieren. Irgendwo sind die Grenzen, wo er dann streikt, und das ist das, was wir dann letztendlich Krankheit nennen.

 

Musik

Klangprojekt – Strichpunkt, Passage Time (mit peitschendem Takt)

 

 

Sprecher:

Wie soll man das hohe Tempo in der modernen Gesellschaft, die enorme Beschleunigung des gesamten sozialen Lebens beurteilen? Gibt es andere Formen im Umgang mit der Zeit, die für Mensch und Natur verträglicher sind? In dieser Hinsicht ist sinnvoll, den Blick zuvor auf vergangene Epochen zu richten, natürlich um die historische Entwicklung zu verstehen, aber auch um Maßstäbe zu gewinnen.

 

Sprecherin:

Wie sind die Menschen früher mit der Zeit umgegangen?

Zu dieser Frage bietet Elias in seiner Arbeit historisches Vergleichsmaterial. Wie schon in seinem Hauptwerk Über den Prozeß der Zivilisation versteht sich Elias als ein Sozio-Historiker, der langfristige Veränderungen erfassen und auf den Begriff zu bringen versucht. Große Synthesen, nicht Detailanalysen charakterisieren seine Forschungsarbeiten. Andere Zeitforscher wie Karlheinz Geißler haben Elias’ Vorgehensweise aufgegriffen und fortgesetzt:

 

O-Ton, Karlheinz Geißler:

In der Vormoderne war zeit überhaupt kein Thema. Niemand hat über Zeit gesprochen, sondern alle haben – wenn sie denn über Zeit gesprochen haben – über das Wetter gesprochen. So ist ja auch unser Begriff der Zeit entstanden. In allen romanischen sprachen ist der Begriff der Zeit identisch mit dem des Wetters – tempo, tiempo, temps – im Deutschen und im Englischen bei – times und Zeit – steckt ein naturbezogener Hintergrund in diesem Begriff nämlich tide, Gezeiten, d.h. also dass der Rhythmus der Natur, und der Rhythmus des Wetters den Umgang mit dem Zeitlichen und mit Vergehen von Zeit bestimmt hat. Und deshalb musste man – wenn man sich am Wetter ausrichtete und an den Gezeiten, brauchte man keine Uhr, und brauchte nie über Zeit zu reden.

 

Atmo:

Hahnenschrei u. a. Naturgeräusche (Vogelstimmen, Wind, Wellen)

 

Sprecher:

Die Menschen früher kannten keine Pünktlichkeit im modernen Sinne. Es galt die Dinge zur rechten Zeit zu tun. Dabei liess man sich Zeit, hetzte nicht, es sei denn die Naturgewalten trieben zur Eile.

 

Atmo:

Gewitter, Wind, Regen, Donner

 

Sprecher:

Wenn ein Gewitter drohte, mussten die Bauern schnell machen und das Heu einfahren. Zur Erntezeit gab es überlange anstrengende Arbeitstage, ansonsten lebte und arbeitete man eher in einem gemächlichen Rhythmus.

 

Sprecherin:

Die Menschen der Vormoderne stellten sich die Zeit nicht als fortlaufende Linie, sondern vielmehr als einen Kreis vor, orientiert am Kreislauf der Natur, an der Wiederkehr der Jahrzeiten, von denen eine Agrargesellschaft bestimmt ist.

 

O-Ton, Joachim Winkler:

Das Charakteristische war vor allem das Leben und Denken in Jahresrhythmen, in Jahreszeiten - nicht die Parzellierung von Zeiten mit Hilfe von Uhren, die bekanntlich erst sehr spät allgemein verbreitet waren, sondern der Rhythmus des Jahresablaufs bezogen auf die Landwirtschaft, auf die Ernährung, man musste wissen, wann man zu säen hatte, zu ernten, dazu brauchte man erste Formen der Zeitbestimmung, das waren häufig Priester, die die Aufgabe hatten, den Lauf der Gestirne zu beobachten, und dann zu sagen, wann es rechte Zeit ist zu säen, oder wann ist die rechte Zeit da, ein bestimmtes Fest zu feiern, oder wann ist die rechte Zeit da zu ernten.

 

Zitator:

Ein jegliches hat seine Zeit,

und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;

pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;

töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;

abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;

weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;

klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;

Steine werfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;

....

Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.

 

Sprecher:

Dasselbe Zeitverständnis, das beim Prediger Salomo im Alten Testament zum Ausdruck kommt, nannten die Griechen Kairos, das bedeutet die rechte Zeit und das richtige Zeitmaß, in dem Dinge geschehen.

Traditionelle Gesellschaften besaßen ein qualitatives und kein quantitatives Zeitverständnis. Der Wechsel von Arbeit und Muße folgte einem inhaltlichen Zeitmaß und keinem abstrakten Stundensoll. Allerdings datieren die Anfänge einer äußerlichen Normierung der Zeit, wie sie uns heute selbstverständlich ist, bis ins späte Mittelalter zurück.

 

Liturgischer Gesang

Psalmengesang (Horen) mittelalterlicher Mönche

 

Sprecher:

Der Benediktinerorden führte im 14. Jahrhundert eine hochdisziplinierte Zeitordnung ein. Damals wurden die ersten mechanischen Uhren im Zeichen des Ora et labora zum minutiösen Wechsel von Gebet und Arbeit eingesetzt.

 

Glocken

 

Sprecherin:

Im selben Jahrhundert errichtete man auch die ersten öffentlichen Uhren in den großen Handelstädten.

 

Schläge der Turmuhr

 

Sprecherin:

Hier wurde das Prinzip des time is money geboren. Aber eine wirklich breite Durchsetzung der Uhr als Normierung der sozialen Lebenswelt erfolgte erst im Zuge der Industrialisierung, wie der Soziologe Gerhard Bosch erläutert:

 

O-Ton, Gerhard Bosch:

Vor der Industrialisierung hatten die Landwirte und die Handwerker Phasen mit sehr langen Arbeitszeiten, aber sie hatten auch sehr große Ruhezeiten, im Winter wurde geschlafen, ein bißchen Holz gehackt, am Wochenende hat man frei gehabt, das hat sich mit Beginn der Industrialisierung geändert,  und das größte Problem für die Unternehmer war eigentlich, diese Bevölkerung, die nicht an regelmäßige Arbeit mit langen Arbeitszeiten gewöhnt war, industriell zu disziplinieren. die Beschäftigten mußten auf einmal dreitausend Stunden im Jahr arbeiten, und sie haben vorher in der Landwirtschaft vielleicht 1500, 1700, 1800 Stunden im Jahr gearbeitet.

Und es wurde auf einmal Elektrizität eingeführt, d.h. die Fabriken war völlig unabhängig von der Wasserkraft, vom Wasserstand, sie produzierten das ganze Jahr hindurch, ... man konnte damit Licht produzieren und nachts die Produktion durchfahren, all das hat zu einer enormen Verlängerung der Arbeitszeit geführt, und dagegen haben sich die Beschäftigten gewehrt.

Das war auch eine maßlose Ausbeutung, es gab Arbeitstage bis zu 18 Stunden, und das war auch der Beginn der gesamten sozialen Konflikte, und erst mit der Herausbildung von Gewerkschaften, in Deutschland war es so um 1860, 1870, gab es einen Widerstand gegen diese enorm langen Arbeitszeiten, und die Arbeitszeiten wurden verkürzt auf 2500 Stunden im Jahr, und das hat angehalten bis heute, heute sind wir etwa bei 1600 Stunden in Deutschland.

 

Fabriksirene, Fabrikgeräusche, stampfender Maschinentakt

 

Sprecher:

Die so genannten Maschinenstürmer zu Beginn der Industrialisierung richteten ihre Aggressionen zunächst nicht gegen die Maschinen, sondern - wie Sozialhistoriker aufzeigten - gegen die Uhren über den Fabriktoren, gegen diese verhassten Symbole und Kontrollorgane einer unmenschlich langen Arbeitszeit. In den Fabrikuhren verkörperte sich die Tyrannei einer neuen Zeitbestimmung, die den menschlichen Rhythmus durch den mechanischen Takt ersetzte und den Arbeiter zwang, sich der Maschine zu unterwerfen.

 

Sprecherin:

Die industrielle Revolution war auch eine Revolution des Zeitverständnisses. Sie bedeutete, dass ein rein quantitativer Zeitbegriff, wie ihn die Physik für die Erkenntnis der Natur verwandte, auf Bereiche der sozialen Welt übertragen wurde.

 

O-Ton, Gerhard Bosch:

Mit der Industrialisierung wurde auch die wissenschaftliche Betriebsführung eingeführt. Und diese wissenschaftliche Betriebsführung beruht auf einer Messung der Arbeitszeit, und man versuchte die Arbeitstätigkeit in einzelne Handgriffe zu zerlegen, den Aufwand hierfür zu messen, Zeitvorgaben zu formulieren, und den Arbeiter zu zwingen, die Arbeit in einer genau vorgeschriebenen Art und Weise zu verrichten und innerhalb ganz genau festgelegter Zeitrhythmen. Alle Beschäftigten mussten gemeinsam morgens beginnen, zur gleichen Zeit ,sie hatten alle zur gleichen Zeit Pause, und das symbolisierte die Sirene, - als kleiner Junge, erinnere ich mich noch, dass ich noch die Sirene gehört habe, die um zwölf Uhr und um fünf Uhr ertönte in der Stadt, und es gibt heute noch Länder, da braucht man gar nicht so weit zu reisen, in Portugal habe ich es auch erlebt, dass um Punkt ein Uhr die Sirene in der ganzen Stadt ertönt, - das hat natürlich auch noch viele andere Gründe, damals hatten viele Leute auch noch keine Uhr. Und brauchten diese Sirene und das Signal.

 

Sprecher:

Der Arbeitszeit tritt in der spätindustriellen Gesellschaft die Freizeit gegenüber. Freizeit erschöpft sich zwar nicht mehr wie im Frühkapitalismus in der notwendigen Regeneration nach einem überlangen zermürbenden Arbeitstag, aber dennoch sind - der Ideologie des Wortes zum Trotz - in der Freizeit soziale Zwänge und ökonomische Imperative wirksam. Vor allem als Konsumsphäre ist die Freizeit heute unmittelbar an den Produktionsprozess angekoppelt und bildet dessen notwendiges Gegenstück. Tourismus und Freizeitindustrie sind inzwischen zum mächtigsten Wirtschaftszweig avanciert. So ist Freizeit keineswegs mit selbstbestimmter freier Zeit gleichzusetzen.

 

O-Ton, Gerhard Bosch:

Ich denke, daß ein großer Teil der Nichtarbeitszeit - ich würde gar nicht immer von Freizeit sprechen - gebunden ist an die Arbeit: zum einen die Regeneration: wir müssen schlafen, die Körperpflege, das sind notwendige Dinge, die erledigt werden müssen, da können wir nicht viel daran drehen und wenden, dann geht es auf unsere Gesundheit, - dann gibt es einen zunehmend größeren Block, der neuerdings als arbeitsgebundene Zeit bezeichnet wird, das ist z.B. Pendeln zum Arbeitsplatz, das ist ein zunehmend größerer Anteil unserer Zeit, weil die räumlichen Siedlungsformen sich vollkommen verändert haben. Die Beschäftigten wohnen eben nicht mehr neben ihrer Fabrik, sondern nehmen lange Fahrtzeiten in Kauf; und ein weiterer Punkt der arbeitsgebundenen Zeit ist Bildung, man muß heute, um im Arbeitsleben bestehen zu können, sich weiterbilden, und wer das nicht tut, der wird Verlierer sein, im Arbeitsprozeß; und dann gibt es natürlich frei verfügbare Zeit, und die ist wesentlich größer als früher und da haben wir Spielräume, und es ist eine kulturelle Frage, wie wir diese Spielräume nutzen, ob wir uns von den Medien verführen lassen, Fernsehen schauen oder ob wir andere Dinge tun.

 

Sprecherin:

Auch wenn die Menschen heute über mehr Freizeit verfügen, die sie eifrig mit Plänen und Phantasien besetzen, so geschieht dies doch in einer Gesellschaft, die sich nach wie vor über Arbeit, zumal über Erwerbsarbeit definiert. Erwerbsarbeit verschafft Einkommen und ökonomische Sicherheit, verhilft zu sozialer Anerkennung und entsprechendem Status. Viele Menschen finden vor allem in der Arbeit Bestätigung und Sinn, d.h. eine wirklich erfüllte Zeit.

 

Sprecher:

 

Der Umstand, über sehr viel freie brachliegende Zeit zu verfügen, führt keineswegs in ein wohliges Schlaraffenland, wie die Freizeitwerbung suggeriert, sondern bereitet im Gegenteil große Probleme. Das zeigen insbesondere Untersuchungen zur Langzeit-Arbeitslosigkeit. Joachim Winkler:

 

O-Ton, Joachim Winkler:

Landläufig würde man meinen, Arbeitslosigkeit würde sehr viel Zeit, Freizeit schaffen, aber diese Zeit erweist sich als ... ein tragisches Geschenk.... Die Strukturierung ist nicht mehr so eng, die Zeit wird als lähmend erfahren. Die Abläufe verlangsamen sich: Man hat in einer Studie in Marienthal über die Arbeitslosen versucht, die Gehgeschwindigkeit oder das Sprechverhalten zu messen, und hat festgestellt: die Arbeitslosen brauchen länger für bestimmte Wege: die dreihundert Meter der Dorfstraße werden in der doppelten Zeit durchwandert, man bleibt stehen, man trifft sich, verweilt, redet, geht weiter, alles verlangsamt sich ... Es ist das Faszinierende an dieser Studie, daß die Zeit nicht genutzt wird, im Gegenteil, alle Tätigkeiten, die man landläufig als Freizeittätigkeiten kennzeichnet, werden sein gelassen: man tritt aus dem Verein aus, man geht nicht mehr in die Bibliothek und holt sich Bücher, weil die fehlende Arbeit das Zentrale ist, was die Köpfe der Menschen bewegt.

 

Sprecherin:

Freizeit bezieht ihren Wert aus dem Spannungsverhältnis zur Arbeit, ohne diesen Gegenpol verödet sie und zerfällt. Das Verhältnis von Arbeit und Freizeit, von fremdbestimmter und frei verfügbarer Zeit hat sich allerdings gewandelt: Die starre Zeitordnung früherer Jahrzehnte hat einem Geflecht flexibler und dynamischer Regelungen Platz gemacht. Die alte Stechuhr ist von der Gleitzeit abgelöst worden; flexible Altersgrenze, Jobsharing und Zeitarbeit lauten weitere Stichworte aus der Arbeitswelt.

 

Sprecher:

Im öffentlichen Leben wurde das Ladenschlussgesetz gelockert, weitere zusätzlich Einkaufszeiten an Abenden und Feiertagen werden diskutiert, überall drängt man auf flexible Zeitregelungen, die dem herrschen Pluralismus der Lebensformen entsprechen.

Karlheinz Geissler geht noch weiter, er behauptet, dass sich gegenwärtig eine entscheidende Veränderung in unserem Zeitverständnis vollzieht:

 

O-Ton, Karlheinz Geißler:

Das Zeitalter der Standardisierung durch die Uhr geht zuende. ... Heute wird nicht mehr Standardisierung verlangt, sondern Flexibilität: d.h. Karriere machen die Flexiblen nicht die Pünktlichen. Wer pünktlich ist, zum Beispiel beim Winterschlussverkauf, bekommt nur noch das, was die Flexiblen übriggelassen haben. ... d.h. man muss am Punkt sein, aber nicht unbedingt pünktlich. Und um am Punkt zu sein, muss man elastisch mit Zeit umgehen, Sie merken das am deutlichsten daran, dass die Uhren, die öffentlichen Uhren abgebaut oder nicht mehr repariert werden, und dass das Mobiltelefon wichtiger geworden ist als die Uhr, manche haben nur noch ein Mobiltelefon, aber keine Uhr mehr - warum? Weil es kurzfristig Flexibilität möglich macht in erheblichem Maße. Sie sehen das auch an dem trivialen Beispiel: Wenn sie heute eine Verabredung getroffen haben, und Sie kommen zu spät, dann bekommen Sie nicht mehr den Vorwurf zu hören: "Warum bist Du zu spät gekommen?" sondern : 'Warum hast Du nicht angerufen?'

 

Sprecherin:

Wie schaut es auf dem Arbeitsmarkt aus? Wird die Flexibilisierung in einer Weise verwirklicht, dass die Menschen stärker selbst über ihre Arbeitszeit bestimmen können - mit einem Wort Zeitsouveränität erhalten?

Das Landesinstitut für Arbeit und Technik, wo Gerhard Bosch tätig ist, hat eine Reihe von innovativen Arbeitszeitmodellen vorgestellt:  individuelle Arbeitszeitkonten, Teilzeitarbeit, Sabbatjahr und Telearbeit lauten die Stichworte.

 

Sprecher:

Doch an der Überstunden-Unkultur hat sich bis jetzt wenig verändert: Die Unternehmen wollen keine neuen Mitarbeiter einstellen, weil sie Angst haben, diese wieder entlassen zu müssen. Und die Beschäftigten wollen die Möglichkeit eines Zusatzverdienstes nutzen. In der Gesellschaft zählt Güterwohlstand mehr als Zeitwohlstand, wie es Karlheinz Geißler pointiert.

 

Sprecherin:

Mit besonderer Aufmerksamkeit werden Versuche beobachtet, Telearbeit einzuführen. In NRW ist die landwirtschaftliche Versicherungsanstalt in Münster das bekannteste Beispiel. Dort hat man allerdings nur erfahrenen Beschäftigten angeboten, die Hälfte ihres zeitlichen Arbeitsvolumens am heimischen Arbeitsplatz zu erbringen. Bedenken gegenüber dem Modell Telearbeit gibt es dabei auch unter den Telearbeitern selbst, zum Beispiel die Sorge, auf Grund ihrer häufigen Abwesenheit vom Betrieb in eine Außenseiterposition zu geraten, was Beförderung und kollegiale Kontakte angeht. Gleichwohl dominieren, so

Gerhard Bosch in einer Zwischenbilanz, positive Reaktionen:

 

O-Ton, Gerhard Bosch:

Die Mehrheit ist schon außerordentlich zufrieden, weil Fahrtzeiten entfallen, man hat individuell größere Flexibilität, also wenn das gut gemacht wird, glaube ich, dass man auf sehr große Resonanz stößt, wobei die Erfolgsbedingung natürlich auch ist, dass die Unternehmen die Kosten für die Ausstattung zu Hause übernehmen. Und die Erfolgsbedingung ist, dass man zu Hause überhaupt Platz hat, weil die übliche Vorstellung, dass man mit dem Baby auf dem Schoß eine Lebensversicherung bearbeiten kann, natürlich illusionär ist: die Unternehmen fordern im Gegenteil von dem Beschäftigten, einen vom Privatleben abgeschlossenen Arbeitsplatz zu Hause zu haben, wo man auch störungsfrei arbeiten kann.

 

Sprecher:

Die Flexibilisierung der Arbeitszeit eröffnet Spielräume individueller Lebensgestaltung und verheißt dem Einzelnen mehr Zeitsouveränität in seinem Alltag. Aber diese Verflüssigung der Zeit hat auch ihre Kehrseite: Es droht eine Zersetzung der sozialen Rhythmen, wenn jeder zu einer anderen Zeit arbeitet bzw frei hat – konkret: Mit wem verbringe ich meine individuell gewählte Freizeit, wenn die Kinder in der Schule, die Freunde  und Bekannten arbeiten oder auf Reisen sind? Wie sollen überhaupt noch gemeinsame Feste zustande kommen, wenn es keine gemeinsamen Zeiten mehr gibt?

 

 

Sprecherin:

Eine wildwüchsige Preisgabe der geregelten Arbeitszeiten führt dazu, dass jeder den anderen und letztlich auch sich selbst verfehlt, verloren im einem Nirgendwo zwischen Arbeitsplatz und Wohnung, zwischen Job und Kurzurlaub.

Gerhard Bosch teilt die Bedenken.

 

O-Ton, Gerhard Bosch:

Der Vorteil der klassischen industriellen rigiden Arbeitszeit war, daß man immer wußte, wann man Freizeit hatte, der Sonntag und der Samstag war der Tag, das gilt im übrigen heute auch noch, der Sonntag und der Samstag sind die populärsten Tage, interessanterweise der Samstagnachmittag ist der wichtigste Tag im Leben der Deutschen, dort findet auch das Familienleben, Parties usw statt, und die Unternehmen haben ganz große Schwierigkeiten Schichten an diesem Zeitpunkt einzuführen, was zeigt, daß unsere Rhythmen noch leben, aber ich sehe die Gefahr, daß mit einer Flexibilisierung auch diese Bereiche zersetzt werden, und man merkt das ja auch im Privatleben: es wird immer schwieriger gemeinsame Begegnungen auch im Familienleben zu organisieren, aber das ist nicht allein die Zeit, sondern auch die räumliche Situation, die Leute wohnen an verschiedenen Orten, hier spielen mehrere Faktoren zusammen.

 

Sprecher:

Im Zeitalter der neuen Informationstechnologien zeigt die Beschleunigung des sozialen Lebens eine noch steilere Kurve. Die globale Verflechtung von Politik und Finanzen, Produktion und Verkehr verdichtet sich in ungeahntem Maße. Politische Veränderungen, ökonomische Schwankungen, technische Innovationen irgendwo auf der Welt, verlangen umgehende Reaktionen und schnelle Entscheidungen. Nicht nur Manager müssen und wollen immer und überall erreichbar sein. An den modernen Menschen ergeht der Imperativ, sich auf den neuen Takt einzustellen.

 

Sprecherin:

Und die  Freizeit stellt dabei nicht das Gegenteil der Arbeitshektik dar, sondern bildet gleichsam deren spontane Fortsetzung in anderen Bereichen – als ob die Menschen das hohe Tempo trainierten. Die Hypothese wirft ein interessantes Licht auf den Hypermobilismus der Gegenwart: auf die unzähligen Reisen, Ausflüge und das ständige Unterwegssein. Die Menschen üben das enorme Tempo ein, nicht nur um ihre Flexibilität und Dynamik für die Arbeitswelt unter Beweis zu stellen, sondern um sich umfassend in diese Gesellschaft zu integrieren. Aus Fremdzwang wird Selbstzwang, so nannte Elias einen elementaren menschlichen Anpassungsvorgang, in dem der Mensch das zunächst von außen auferlegte Tempo verinnerlicht, bis es ihm zur zweiten Natur geworden ist.

 

Sprecher:

Aber der Tempowahn kommt nicht allein von außen, ein Motiv, ein Drang ist in uns wirksam, der in der europäischen Neuzeit tief verwurzelt scheint. Es ist als ob wir alle die Wette Fausts mit dem Teufel wiederholen.

 

Zitator:

Werd ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch! Du bist so schön!

Dann magst Du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zugrunde gehn.

 

Sprecher:

Faust verflucht die Geduld und schwört jedem Innehalten ab, er ist der Prototyp des ruhelos aktiven, vorwärtsdrängenden, tempobesessenen Menschen, dem wir– um im Bilde zu bleiben – nachrasen.

 

Sprecherin:

Aber wie weit kann diese Entwicklung gehen, wie viel halten wir aus?  Seit der Romantik sind gegenläufige Sehnsüchte und Bedürfnisse wachgeworden. Zuletzt war es Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit, inzwischen in alle Weltsprachen übersetzt, der die Utopie eines anderen Umgangs mit der Zeit entwirft. Nadolny entdeckt die Langsamkeit als menschenfreundliches Prinzip.

 

Sprecher:

Vor zehn Jahren gründete der Philosoph Peter Heintel in Klagenfurt einen Verein zu Verzögerung der Zeit, ein Netzwerk vieler Menschen, die Gedanken und Projekte gegen die hektische Betriebsamkeit entwickeln.

Den Chancen solcher Konzepte einer Entschleunigung steht Winkler, Soziologe an der Universität Köln, allerdings skeptisch gegenüber.

 

O-Ton, Joachim Winkler:

Ich glaube nicht, daß man einfach hingehen kann und sagen: ich organisiere jetzt meine Zeit, oder meine Freizeit, so wie ich mir das vorstelle, also ich verlangsame sie zum Beispiel, dann läuft man natürlich Gefahr, daß man aus dem allgemeinen Rhythmus herausfällt. ... Ich glaube nicht, daß wir auch im Sinne von Elias, Prozesse stoppen oder wenden können, die Prozesse laufen, sind Produkt des Handelns von vielen Menschen, die Prozesse entwickeln sich teilweise auch so, daß keiner gewollt hat, wie es gekommen ist, aber trotzdem bleibt es Produkt, und man kann nicht als einzelner Mensch, solche Prozesse versuchen zu wenden oder zu stoppen, zu verlangsamen oder zu beschleunigen.

 

Sprecher:

Individuelle Korrekturen an der Tempo-Kultur der wissenschaftlich-technischen Zivilisation sind sicherlich zum Scheitern verurteilt. Sie führen bestenfalls in ein Außenseitertum. Nichtsdestoweniger bleibt die Frage bestehen, wie das steigende Tempo und der allgegenwärtige Zeitdruck bewältigt oder kompensiert werden können.

 

Sprecherin:

Auch der Verein zur Verzögerung der Zeit hängt nicht naiv dem Glauben an, Zeit verlangsamen zu können. Der Verein will aber - mit dem Titel provozierend - überflüssige Beschleunigung kritisieren und überhaupt die Frage eines angemessenen Umgangs mit der Zeit ins Bewusstsein rücken.

Die österreichische Soziologin Helga Nowotny diskutiert in ihrem Buch mit dem Titel Eigenzeit Konzepte eines anderen Umgangs mit der Zeit, die der menschlichen Natur, seinen eigenen Rhythmen gerecht werden. Sie betont, daß wir nicht mehr in einer einzigen Zeit oder Tempozone existieren, sondern Anteil an verschiedenen Rhythmen haben.

 

Sprecher:

Karlheinz Geissler vertritt eine verwandte Position. Auch er nimmt nicht einseitig für oder gegen Schnelligkeit Stellung, sondern plädiert für eine Zeitenvielfalt, ein ebenso sinnvolles wie humanes Nebeneinander von Schnelligkeit und Langsamkeit:

 

O-Ton, Karlheinz Geißler:

Die Vielfalt der Zeiten, sowohl die schnellen, als auch die langsamen, wird bei uns nicht produktiv gemacht. Bei uns wir die Schnelligkeit produktiv gemacht, über Beschleunigung aber nicht die Vielfalt, z. B. lernt man in einem Zeitmanagement nicht das Warten. Warten ist aber in der Ökonomie eine ganz wichtige Dimension. Warten muss man zum Beispiel dann lernen, wenn man ein neues Produkt auf den Markt bringt, Mercedes hat zum Beispiel bei der A-Klasse nicht gewartet, hat sie ein halbes Jahr zu früh auf den Markt gebracht, und musste dafür fünfhundert Millionen Mark bezahlen, weil sie diese A-Klasse nicht vernünftig ausgetestet hat. Oder Medikamente, oder Automobile heute haben ganz große Zusatzkosten, sie müssen zurückgerufen werden, da müssen die Bremsen überprüft werden, müssen die Reifen überprüft werden. Bei Medikamenten stellt sich später heraus, dass sie doch mehr Nebenwirkungen haben, als man erwartet hat, weil man nicht warten konnte, weil man es zu schnell auf den Markt geworfen hat.

Und genauso – ein Beispiel ist: die Produktivität der Pause wird zu wenig erkannt: Die New Yorker Börse macht zum Beispiel, wenn der Dow Jones-Index um 350 Punkte fällt, eine Zwangspause von einer halben Stunde, damit man sozusagen aus der Hektik herauskommt, und überlegen kann. Man merkt: die Pause macht das System stabil.

 

Sprecherin:

Den Wert des Wartens anzuerkennen, die Pause, ja sogar das Nichtstun zu schätzen, ist ein schwieriges Unterfangen. Es passt nicht in eine Welt, die die Zeit nach dem ökonomischem Muster der Ausnutzung begreift. Die Arbeitszeit soll produktiv und effizient sein, und in die Freizeit stopft man möglich viele Hobbys, Güter- und Medienkonsum hinein. Die Zeit wird in beiden Sphären gleichsam ausgepresst: Immer soll etwas herausspringen: hier Leistung, Geld, Erfolg - dort Vergnügen, Unterhaltung und Lustgewinn.

 

Sprecher:

Aber wer die Zeit voll stopft und wer sie nach Managermanier bis in kleinste Einheiten organisert, um auf diese Weise verfügbare Stunden zu gewinnen, der erreicht das Gegenteil. Ein durchökonomisierter Tageskalender, eine kleinzellig eingeteilte Zeit bringt den Planer erst recht in Termindruck und forciert damit genau jenes Übel, das er loszuwerden trachtet. ‚Je mehr Zeit man spart, desto weniger hat man.‘ Oder anders gesagt. Wer sich zum Herrn der Zeit machen will, endet als ihr Sklave.

 

Sprecherin:

Zeit gewinnen hieße paradoxerweise – sie nicht besitzen zu wollen, sondern die Zeit loszulassen, sich Zeit zu lassen. Dort wo nichts geschieht, jenseits der vermeintlichen Leere oder Langeweile, die viele zunächst empfinden, kann sich Wesentliches ereignen: Entspannung und innere Entwicklung, seelisches Wachstum, eine Zeit, in der Menschen wieder zu sich selber kommen.

 

Sprecher:

Nicht zufällig ereignen sich solche Prozesse dort, wo sich die innere Natur des Menschen in den Rhythmus der äußeren einschwingt. Denn wir selber sind, mit unserem Blutkreislauf rhythmisch organisiert. Beim Wellenschlag des Meeres insbesondere, fühlt man sich mit seinem eigenen Rhythmus aufgehoben in dem größeren der Natur.

 

Meeresrauschen, Wellenschlag, Wind, Möwen, dann

Musik: (Sitting on) the Dock of the Bay

 

Sprecherin:

Gibt es ein solches Verweilen nur noch in den Reservaten des Urlaubs, in den Tagträumen der Außenseiter?  Aus denen man dann ins kalte Wasser des Alltags zurückgeworden wird. Wichtig wäre, die Kunst der Übergänge neu zu erlernen, die alle Kulturen in ihren Ritualen gepflegt haben. Und die man auch an Kindern wahrnehmen kann, z. b. wenn man ihnen beim Erwachen zuschaut, wo sie eine Weile zwischen Traum und Tag hin- und herschwingen.

 

Sprecher:

In der Erwachsenenwelt benutzt man dagegen das Wort ‚umschalten’. Es bezeichnet sehr treffend, das wir nach der Logik der Maschine leben, nach dem Schema: ein oder aus, Strom oder Nichtstrom. Zum angemessen Umgang mit Zeit würde gehören, den Sinn für Übergänge und Rhythmen zu schärfen. Der Philosoph Edmund Husserl zeigte auf, dass die Wahrnehmung nicht punktuell geschieht, in einem abgetrennten Jetzt. Unser Erleben stellt vielmehr einen Bewusstseinsstrom dar, in dem Gesehenes nachwirkt und Gehörtes nachklingt, während unsere Erwartung sich dem Ankommenden schon entgegenstreckt.  Wäre es nicht so, könnten wir gar keine Melodie erfassen und genießen, sondern würden nur eine getrennte Folge von Tönen aufnehmen.

 

Sprecherin:

Das Erleben von Übergängen gilt auch für größere Zusammenhänge: Vorfreude und Einstimmung gehören ebenso zum Urlaub hinzu, wie das Erzählen hinterher und die Zeit der Freunde und Kollegen, die dabei zuhören.

 

O-Ton, Karlheinz Geißler:

Übergänge sind ein schönes Beispiel für Zeitformen, die wegrationalisiert werden in unserer Gesellschaft. ... Früher wurden am Bahnsteig Freunde und Verwandte verabschiedet, indem sie hinter dem Zug herwinkten, mit den Leuten noch am offenen Fenster geredet haben, und sich verabschiedet haben, in den Armen gelegen haben, beim Abschied oder auch beim Ankommen. Das können Sie heute nicht mehr, die Fenster lassen sich nicht mehr öffnen, Sie können beim ICE nicht einmal mehr durchschauen, und Sie haben keinen Platz mehr, in der Beziehung beim Abfahren einen Übergang zwischen dem Dasein und dem Wegsein hinzubekommen. Sie können nur noch telefonieren und das ist ein ganz schaler Übergang. ... Wenn ein Mensch ins Konzert geht, ein gehetzter Manager, dann kriegt er die ersten zehn Minuten des Konzerts gar nicht mit, denn er braucht eine gewisse Ruhe, um überhaupt etwas zu hören, da denkt er eher an den Ölpreis als an den Sologeiger. Denn da muss erst einmal ein Übergang geschaffen werden, wo man das Hirn freimacht, um zu etwas neuem zu kommen.

Deshalb kommen die Leute zu nichts Neuem, das ist innovationsfeindlich, die Übergänge wegzurationalisieren.

 

Sprecher:

Inzwischen haben auch Zeitmanagement-Experten wie Lothar Seiwert den Wert der Übergänge und der Pausen erkannt. Sie raten in ihren Manager-Seminaren dazu, nicht die gesamte Zeit zu verplanen. Dabei verlassen sie jedoch nicht das Schema der Bewirtschaftung, Planung und Rationalisierung von Zeit.

Über die Zeit zu bestimmen ist jedoch eine zwiespältige Angelegenheit. Sicherlich ist es besser, wenn man selbst über seine Zeit bestimmt und nicht der Chef. Aber der Gedanke der Zeitsouveränität verlässt noch nicht den Gestus des Herrschens und Verfügens. In der Durchsetzung allein liegt kein Glück. Eine erfüllte, eine glückliche Zeit, ist jedoch die Erfahrung, dass ich nicht nur meine eigenen Bedürfnisse und Rhythmen leben darf, sondern auch dass ich mich darin aufgehoben fühle in der Welt und im Einklang mit anderen.

 

Sprecherin:

Wie kann ein maßvoller Umgang mit der Zeit aussehen, der beides - Selbstbestimmung, aber auch die soziale Harmonie zeitlicher Rhythmen berücksichtigt.  Die Frage wird nicht abstrakt entschieden, sie kann auch nicht von Politikern von oben herab geregelt werden. Es geht vielmehr darum, -so Gerhard Bosch - welchen Weg die deutsche Gesellschaft im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gehen will: 

 

O-Ton, Gerhard Bosch:

Für mich ist der entscheidende Punkt, dass es bei der Mehrheit der Bevölkerung auch ein starkes Eigenbedürfnis nach sozialen gemeinsamen Zeiten geben muss, und der größte Treiber für die 24-Stunden-Gesellschaft ist im Grunde genommen die Kinderlosigkeit unserer Gesellschaft. Wenn ich nach Skandinavien blicke, Länder, in denen Beruf und Familie sehr gut miteinander vereinbart werden kann, da sehe ich auch, die Zeitrhythmen dieser Gesellschaft sind völlig anders als in Deutschland. Hohe betriebliche Flexibilität, aber auch hohe Dominanz der Anforderungen, die sich aus dem Familienleben ergeben. ...

,die meisten Familien haben Kinder mehr als in Deutschland, die Rahmenbedingungen für individuelle Flexibilität sind gut, Ganztagsschulen und Kindergärten, in Dänemark etwa Kinderkrippen von Null bis Drei Jahre – was natürlich die Flexibilität erhöht, Sie werden aber sehen, dass in diesen Ländern sehr wenige Beschäftigte rund um die Uhr arbeiten, mehr als 40 Stunden die Woche, sondern die Gesellschaft insgesamt hat einen langsameren Rhythmus und die Bedürfnisse der Beschäftigten spielen dabei eine große Rolle.

 

Sprecher:

Vor über hundert Jahren schrieb Friedrich Nietzsche:

 

Zitator:

"Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt, die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken."

 

Sprecher:

Nietzsche macht auf ein Missverhältnis sichtbar: Eine Seite im europäischen Mensche, die Vita activa ist überentwickelt: rastlose Aktivität, Wille, Leistung. Darin liegt sein weltweiter Erfolg, aber auch seine – krass gesprochen – Krankheit, sein Unglück. Die vita contemplativa – die beschauliche, besinnliche, empfängliche Seite ist mehr und mehr verpönt worden als Faulheit, Müßiggang und Nichtsnutz.

 

Sprecherin:

Doch in der vita contemplativa liegen Ruhe und Nachdenklichkeit, eine Haltung der Gelassenheit, die Zeit - sein - lassen - kann.

In Zukunft gehört der Fortschritt vielleicht nicht den Schnelleren, vielmehr hinken die Langsameren unserer Zeit voraus, mit ihrer Sensibilität, ihren Erfahrungen und Ideen eines anderen Umgangs mit der Zeit.

 

O-Ton, Karlheinz Geißler:

Ich hatte früher einmal Kinderlähmung, kann nicht so schnell gehen wie der gesunde Rest der Bevölkerung, und sicher hat mich dies auf das Thema Zeit gebracht, das hat Vor- und Nachteile, ich habe natürlich viele Nachteile, dass ich nicht einen Bus oder ein Verkehrsmittel, das schnell herannaht, erreichen kann, ich kann aber meinen Alltag so organisieren, dass ich den nächsten Bus erreiche, und keinen Schaden habe. Also ich richte mich auf diese Situation ein, und schaue wahrscheinlich ein bisschen sensibler als mancher Rasende auf die Zeit, - kleine Episode am Rande: Weil ich durch meine Behinderung eher langsam gehe, finde ich ganz häufig Geld auf der Straße, was die Schnellen immer verlieren.

Das finde ich sehr lustig: Wenn man langsam geht, sieht man eben viele Dinge, die andere nicht sehen. Und so geht’s mir auch, was die Zeit betrifft, zum Beispiel Warten macht mir gar nichts aus, die Leute müssen immer auf die Uhr schauen, eine völlig sinnlose Tätigkeit beim Warten. Während ich gar keine Uhr trage, mehr mit Leuten ins Gespräch komme oder mir etwas anderes anschaue, was ich vorher nicht gesehen habe. ... Und so gehe ich etwas anders mit der Zeit um, vielleicht hinke ich der Zeit etwas voraus.

 

Musik zum Ausklang:

My Funny Valentine (Gerry Mulligan Quartet with Chet Baker)