Sprecherin:

Jean Paul Sartre war nicht nur Philosoph, sondern auch Schriftsteller. Er verstand es, seine Ideen und philosophischen Thesen in Romanen und Theaterstücken zu veranschaulichen. In seinem existentialistischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts begegnet man zahlreichen Beispielen und Episoden, die seine Gedanken gleichsam in Szene setzen. Eine beginnt so:

 

Sprecher:

"Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und am Rande des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehen diesen Menschen, ich erfasse ihn als Objekt, gleichzeitig auch als Menschen. Was will ich damit sagen, wenn ich von diesem Objekt behaupte, daß es ein Mensch ist? ... Ich drücke das zum Beispiel aus, indem ich sage, daß die­ser Mensch den Rasen sieht oder daß er dabei ist, den Rasen trotz der Verbots­tafeln zu betreten usw. ... Ein ganzer Raum ordnet sich um den Anderen herum an, und dieser Raum wird aus meinem Raum gebil­det; es ist eine Neuordnung al­ler meinen Mikrokosmos anfüllenden Dinge, der ich beiwohne und die sich mir entzieht. ... Dieser grü­ne Rasen wendet dem Anderen eine Seite zu, die mir ent­geht. ... Ich kann das Grün nicht so erfassen, wie es dem Anderen erscheint. So ist plötzlich ein Gegenstand sichtbar geworden, der mir die Welt gestohlen hat."

 

Sprecherin:

Sartre schildert in dieser Szene das Erschrecken des Subjekts, das sich allein und einzig dünkt, beim Auftauchen eines an­deren Menschen. Der Andere sieht die Dinge anders, er macht andere Erfah­rungen als ich. Vielleicht erlebt er die­selbe Welt auf eine ganz andere Weise. Erlebt er nicht sogar eine andere Welt? Gibt es am Ende verschiedene Welten? 

Der österreichische Schriftsteller Robert Musil hat seiner Hauptfigur Ulrich, dem Mann ohne Ei­genschaften im gleichlautenden Roman, in einer frühen Fassung den Namen Anders gegeben. Dieser Romanheld sinniert über das metaphysische Pro­blem des Anderen. Gibt es nur eine einzige Sicht der Dinge oder viele verschiedene, einander widerstreitende Wahrheiten. Halbironisch meint er einmal: "Denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein." 

 

Sprecher:

Im 20. Jahrhundert ist die Idee einer universalen Vernunft zuneh­mend in Zweifel gezogen worden. Ihr Anspruch, eine allge­meingül­tige Ordnung aus­­zu­­­bilden, wird verdächtigt, Gewalt ge­genüber dem An­­deren, insbe­sondere Naturzerstörung, aber auch Rü­stungs­denken und politische To­talitarismen mitverursacht zu haben.

Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas spricht kritisch von einer "Egologie" des gesamten abendländischen Denkens. Er klagt die Philosophie an, der Vernunft eine selbstsüchtige Ausrichtung gegeben zu haben. Die Vernunft sei egozentrisch strukturiert. "Von ihrem Beginn an", schreibt Lévinas, "ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, von einer un­überwindbaren Allergie."

 

Sprecherin:

Cogito, ergo sum - Ich denke, also bin ich - so lautet das berühmte Axiom Descartes', auf dem die neuzeitliche Philosophie basiert. Die Erkenntnis der Dinge mag fraglich, die Welt zweifelhaft sein, im Cogito jedoch, d.h. in der Gewißheit seiner selbst und seines eigenen Denkens besitzt der Mensch ein unerschütterliches Fundament. Deshalb hat René Descartes auch das Problem, einen anderen Menschen zu verstehen, auf die Frage zurückgeführt, wie man sich selbst versteht.

 

Sprecher:

Das scheint eine selbstver­ständliche und auch vollkommen unproble­matische Konsequenz darzustellen. Wo­von sollte ein Denken auch ausgehen, wenn nicht von dem Grundsatz, daß die Gedanken, die mir kommen, auf mein Bewußtsein verweisen, und daß ich, wenn ich andere Menschen begreifen will, sie nur von mir aus und im Vergleich mit mir selber verstehen kann?

Aber so selbstverständlich ist Descartes' Prinzip gar nicht, wie Bernhard Waldenfels, Philosoph an der Ruhruniversität Bochum, mit Blick auf die Antike ausführt.

 

O-Ton, Bernhard Waldenfels:

"...wenn man die große griechische Philosophie anschaut, die ja doch bewun­dernswert vielfältig ist: sie ist ohne einen zentralen Begriff des Ich ausgekom­men, das Ich ist kein philosophischer Be­griff bei den Griechen, wohl aber der Logos. Wie kommt es, daß plötzlich das Ich so in den Mittelpunkt rückt? Dieses Ereignis läßt sich ungefähr datieren. Bei Descartes ist das Ego Cogito, also das Ich, das ich sagt, zugleich ein ganz zentraler Problemti­tel, und ich denke, das entsteht genau in der Situation, wo der große umfassende Kosmos zusammen­bricht, die Natur zersplittert in Wirkzusammenhänge, die als solche auf kein Ziel zulaufen, und was Descartes tut, er sucht im denkenden Ich ein Epizentrum, das von diesen Erschütterungen als ein Restbestand verschont bleibt.

 

Sprecherin:

Mit der Reformation ist die Einheit der mittelalterlichen Welt endgültig zerbrochen. Aber zugleich herrscht, wie der andere Epochentitel Renaissance ausdrückt, eine große Aufbruchstimmung. Es ist die emphatische Stunde des Indi­viduums und seiner Emanzipation. Der neuzeitliche Mensch löst sich aus den mittelalterlichen Bindungen. Er schüttelt den unbedingten Autoritätsanspruch der Kirche ab und beginnt sich von der Macht der Tradition zu befreien. Das Individuum sucht nach einem neuen Fundament der Erkenntnis und findet es in sich selbst - im Denkvermögen des Ich. Doch dafür zahlt es einen hohen Preis. Denn Descartes zieht zunächst alles in Zweifel: das Dasein Gottes, die Wirklichkeit der Welt, ja sogar die Existenz seines eigenen Körpers. Der neue Ausgangspunkt, das neue Selbstverständnis ist Ergebnis eines totalen Mißtrauens. Vielleicht - so argwöhnt Descartes - ist alles eine große Täuschung, vielleicht steckt hinter allem ein böser Geist:

 

Sprecher:

"Ich werde also unterstellen, daß nicht ein allgütiger Gott, eine Quelle der Wahrheit, sondern irgendein bösartiger Dämon sei, und daß eben dieser, höchst mächtig und verschlagen, seinen ganzen Fleiß darein gesetzt habe, mich zu täuschen; ich werde annehmen, daß Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und das Gesamt al­les Äußeren nichts anderes sei als ein Gaukelspiel der Träume, durch daß er meiner Leichtgläubigkeit hinterlistig Fallen stellt; ich will mich selbst so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, nicht irgendwelche Sinne, sondern meinte bloß fälschlich, dies alles zu haben."

 

 

Sprecherin:

Die neue Selbstgewißheit, - ich denke, also bin ich -  wird erkauft mit einer künstlichen Konstruktion des Menschen. Das Subjekt, wie Descartes es entwirft, ist kein leibhaftiger Mensch, kein soziales Wesen inmitten der Welt, sondern ein isoliertes Bewußtsein - genauso souverän, weil es von nichts und niemandem abhängig ist - wie armselig, da es nur aus Denken besteht.

 

Sprecher:

Der Ausgang vom Cogito enthält fatale Konsequenzen: Descartes und die Aufklärung ent­werfen im Ich-Denke eine Subjektivität, die völlig autonom ist, gleichsam einen Souverän, auf den alles An­dere als bloßes Objekt be­zogen ist. Das Subjekt erhält kraft seiner Vernunft einen Sonderstatus in der Ordnung des Seins. Wie von einem Thron blickt der neuzeitliche Mensch auf die Natur, auf den anderen Menschen und auf den eigenen Körper herab. Aber der Preis dieser vermeintlich großartigen Position ist die Einsamkeit, der Verlust der Beziehung zum Anderen.

 

Sprecherin:

Der philosophi­sche Ansatz der Neuzeit treibt einen tiefen ontologischen Riß in die Welt. Es ent­steht eine fundamentale Kluft, die sich nicht mehr schließen wird und die in einer Reihe von Dualismen die neuzeitliche Philosophie bis heute durchzieht: die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, zwi­schen Geist und Natur, zwischen Verstand und Sinnlichkeit, zwi­schen Ich und Welt.

 

 

 

Sprecher:

So bezahlt der Mensch der Neuzeit seine Autonomie mit einer ge­waltsamen Abspaltung von Anderem, wobei das Andere in dreifacher Weise zu verstehen ist: Das Vernunft-Subjekt trennt sich vom Ande­ren der äußeren Natur, vom Anderen der inneren Natur des eigenen Leibes und schließlich vom Anderen als Mit­mensch.

 

Sprecherin:

Aber dort, wo der unmittelbar gelebte Zusammenhang mit dem Anderen abgebrochen ist, entsteht ein Gewaltverhältnis: Das Ver­nunft-Ich versucht nun aus einer Machtposition heraus, das Andere zu unterwerfen und sich anzueignen. Zuerst und vor allem geht es um eine Beherr­schung und Aneignung der äußeren Natur. Die Brüder Gernot und Hartmut Böhme haben in ihrem Buch "Das Andere der Ver­nunft" herausgearbeitet, daß das Ver­nunft-Ich und sein Projekt der Naturbeherrschung im historischen Prozeß kon­krete Gestalt an­nehmen. Dazu gehören nach Gernot Böhme, der Philosophie in Darmstadt lehrt, bestimmte sozialgeschichtliche Bedingungen:

 

O-Ton, Gernot Böhme:

Die sozialhistorischen Voraussetzungen sind erst einmal (...) ein Umbruch in der Sozialstruktur der Gesellschaft: das allmähliche Aufsteigen des Bürgertums zur herrschenden Klasse. Das Bürgertum setzte ja im Gegensatz zur angestammten Feudalklasse auf Leistung, auf das Erreichen eines bestimmten Sozialstatus. Wäh­rend die  feu­dale Klasse ihren Sozialstatus durch Tradition, d.h. durch Abstam­mung erhält. Dieser Hintergrund ist natürlich einer, der Vermögen wie Arbeit und Vernunft aufwertet, weil hier eben durch eigene Leistung in diesen Berei­chen der Mensch seine Stellung in der Ge­sellschaft erreichen kann. (...) Im wei­teren Sinne muß man natür­lich hinzunehmen, das gewandelte Verhältnis zur Na­tur. Das setzt natürlich in der Feudalklasse bereits ein, (...) noch stärker ist das natürlich dann im Bürgertum. (...), daß die Natur prinzipiell als Bereich ver­wertbaren Materials angesehen wird und im ganzen entworfen wird als Ressource für menschliche Tätigkeit und Produk­tion."

 

Sprecher:

"Die Natur wird", so hat Martin Heidegger es einmal ausgedrückt, "zu einer ein­zigen riesenhaften Tankstelle." Die Natur hat keine Würde mehr. Sie hat ihre Ho­heit verloren, die die Menschen vormals anerkannten. Denn Natur - das war ei­nerseits schreckliche Über­macht, die man fürchten und gegen die man sich be­haupten muß, aber andrerseits auch große Mutter, die nährt und neues Leben schenkt.

 

Sprecherin:

Von der Antike bis in die Neuzeit galt die Natur als Organismus, als ein lebendiges Anderes. Nun aber sinkt sie zum bloßen Objekt herab, das beherrscht und ausgebeutet wird: aus der Mutter, latei­nisch mater, wird Materie, schließlich Material. So ist die Natur gewissermaßen schon begrifflich getötet, nämlich zum bloßen Ver­wertungsmaterial herabgesetzt, ehe sie in diesem Jahrhundert auch faktisch zugrunde gerichtet wird.

 

Sprecher:

Daran ist jedoch nicht allein das kapitalisti­sche Nützlichkeitsdenken schuld, ein bürgerlicher Utilitarismus, der Wert auf Verwertbarkeit reduziert. Hartmut Böhme, der Kultuwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität lehrt, betont, daß auch andere historische Gesellschaftsformen, etwa der Feudalismus, und im besonderen die höfische Welt des Barock diesen Entfremdungsprozeß gegenüber der Natur in Gang gebracht haben.

 

O-Ton, Hartmut Böhme:

Im Feudalismus kann man sagen, oder noch deutlicher im Absolutis­mus, daß der höfische Mensch mit dem König an der Spitze den Na­tur- und Körpervollzügen gegenüber weitgehend schon entfremdet war, und daß er ein hochgradig stili­siertes und diszipliniertes Verhältnis zu sich und zu den Dingen und zur Natur an den Tag legte, was ausschließlich Strategien der Beherrschung folgte. Der französische Garten mit seiner Geometrie zeigt das am sichtbarsten an, daß hier die Natur gleichsam anzutreten hatte, in Reih' und Glied, in geordneten Mustern und Arabesken, die zum Schmuck des Menschen, zu seiner Verherrlichung, zum Ausdruck seiner Souveräni­tät werden sollte. Und darin sieht man, daß bestimmte Herrschafts­attitüden alter Art längst da waren, bevor bürgerliche Rationali­tät in gewisser Hinsicht eleganter und auch unauffälliger dieses Programm der Natur­beherrschung (...) dann endgültig durchgesetzt hat.

 

Sprecher:

Herrschaft setzt Distanz voraus. Man muß sich radikal von dem An­deren distan­zieren, wenn man ihn beherrschen will. So ist der Mensch gezwungen sich von der Natur abzutrennen, um sie dann als Objekt in den Blick nehmen, begrifflich analysieren, schließlich technisch be­herrschen zu können.

Aber um sich so gründlich von der Natur abzu­trennen, muß der Mensch sich von seiner eigenen Naturhaftigkeit di­stanzieren. Er muß das Andere bei sich selbst überwinden, seine eigene leibliche Natur unterwerfen. Und was sich daran nicht un­terwerfen läßt, muß radikal aus­gegrenzt und verdrängt werden. Denn Herrschaft über die äußere Natur ist er­folgreich nur in dem Maße, wie Beherrschung der inneren Natur gelingt: Naturbeherr­schung ver­langt Selbstbeherrschung.

 

Sprecherin:

Der Soziologe und Historiker Norbert Elias hat rekonstruiert, wie  der fortge­schrittene Prozeß der Zivilisation seit dem Spätmittel­alter einen Menschentypus formt, der unter einer extrem hohen Selbstkontrolle steht. Zunächst waren es noch Vorschriften von au­ßen, Gebote und Verbote, die so elementare Bereiche des Verhaltens wie Essen, Schlafen, Sich-Waschen oder das Verhältnis zum anderen Geschlecht regelten. Aber zunehmend übernahm im Menschen selbst ein innere Instanz diese Funktion der Kontrolle.

 

 Sprecher:

Aus Fremdzwang wird Selbstzwang -  Elias fomuliert ein Zivilisati­onsgesetz, das in jeder Kindererziehung aufs neue wirksam wird. Auch Sigmund Freud hat, ganz in der Tradition der Aufklärung, er­klärt, Kultur basiere auf Triebverzicht. Man muß sich auf die Re­alität einstellen, die Befriedigung von Bedürfnissen auf­schieben, darf sich nicht von Gefühlen lenken lassen, sondern muß ganz im Gegenteil die eigenen Wünsche und Phantasien den erreichbaren Zielen unter­ordnen, mit einem Wort: vernünftig sein.

 

Sprecherin:

Ganz sicher verdankt die Moderne dieser gesteigerten Selbstkon­trolle die enor­men Leistungen und Errungenschaften der Wissen­schaft, der Technik und der Kultur. Aber den Menschentypus, den die Aufklärung formt, charakterisiert eine überzogene Zentrierung auf das rationale Ich. Seine Psyche wirkt zwanghaft und starr. Elias nennt es die "Gepreßtheit der zivilisierten Seele".

 

Sprecher:

Das Ver­nunft-Subjekt duldet keinen Pluralismus im Innern des Menschen. Seine Einheit basiert auf Zwang, auf der Unterdrückung der inneren Vielfalt der Gefühle und Sinnlichkeiten, der Wünsche und Phanta­sien zugunsten eines durchgehaltenen panzerhaften Selbst. So ist der Vernunftmensch der Aufklärung mit einer Reihe von gewaltsamen Ausschließungen belastet, wie der Darmstädter Philosoph Gernot Böme erläutert:

 

O-Ton, Gernot Böhme:

"Die Vernunft ist ja ein Vermögen im Menschen, das sich schon von sich selbst her gegen anderes im Menschen abgrenzt. Also die Ver­nunft ist eben nicht der Leib, die Vernunft ist eben nicht der af­fektive Bereich, die Vernunft - und das ist gerade für das 18. Jahrhundert von Bedeutung - ist nicht die Einbildungs­kraft. Also diese Bereiche stehen dem schon entgegen. (...) Wenn man dann wei­tergeht und sieht, inwiefern die Vernunft realisiert ist, und das menschliche Le­ben und Zusammenleben gestaltet, dann wird wiederum einiges herausgedrängt. (...) zum Beispiel ist es der Mann, der sich selbst als Vernunftwesen stilisiert, dann bleibt die Frau draußen, dann ist die Frau das Andere der Ver­nunft. Das sieht man beispielsweise sehr deutlich in Rousseaus Er­ziehungsprogramm, der ja in seinem Emile einen Bürger erzieht, der ja sein Leben im wesentlichen nach rationalen Prinzipien gestal­tet, während seine zukünftige Partnerin, die Sophie, explizit und bewußt im Naturzu­stand erhalten wird, und gewissermaßen nicht so­viel Erziehung erhalten soll, um diesen Zustand nicht zu verlas­sen."

 

Sprecherin:

Die Idee der Vernunft ist universal: Vernunft hat im Prinzip jeder Mensch, und Kants Wahlspruch der Aufklärung: "Habe Mut, Dich dei­nes eigenen Verstandes zu bedienen" richtet sich an alle.

Wenn man sich aber den konkreten gesellschaftlichen Träger der Vernunft, nicht nur im Zeitalter der Aufklärung, anschaut, stößt man auf eine Mehrheit von Aus­geschlossenen: Nicht die Frau, nicht das Kind, nicht der psychisch Kranke, und schon gar nicht der An­gehörige einer außereuropäischen Kultur gelten als ver­nünftig. Vernunft beansprucht für sich allein der Mann - als Familienober­haupt, als Gelehrter, als Geschäftsmann. Und es ist sein, von ganz bestimmten Interes­sen durchzogenes Einzel-Ich, das sich für das allgemeine, von Sonderinteressen freie Vernunft-Subjekt ausgibt.

 

Sprecher:

So hat sich das Vernunft-Ich vor allem im Bür­ger konkretisiert, der kühlen Kopfes seinen Geschäften nachgeht und sich gegen den Anderen durchzusetzen versucht. Dabei gerät Vernunft immer mehr zur strategischen Rationalität, zum Mittel der Selbstbehauptung des einen Ich gegen das andere Ich. Hegel hat diesen Kampf als Drama von Herrschaft und Knecht­schaft reflektiert.  Die Vernunft leistet der strategischen Vereinnahmung durch Ein­zelinteressen Vorschub, eben weil in ihrem Modell alles Erkennen und Handeln vom Ich aus­geht und zum Ich zurückkehrt.

 

Sprecherin:

Jedoch ist die Vernunft noch in einem zweiten Sinn egozentrisch, und das ist weit problematischer: Die neuzeitliche Vernunft ist ein Denken, dem es um sich selber geht, um den Triumph seiner ei­genen Logik. Max Horkheimer und Theodor Adorno und ha­ben in ihrem Buch Dialektik der Aufklärung kritisiert, daß in der Vernunft ein fataler Wille zum System, ein Zwang zur Vereinheitlichung wirksam sei. Die Ver­nunft will die Vielfalt der Phänomene ordnen und in eine begriffliche Einheit bringen. Die begriffliche Einheit aber ist im letzten im­mer die Systematik der Vernunft selbst, die dem Anderen aufgenö­tigt wird. In diesem Sinne hat Kant die Natur vor den Gerichtshof der Vernunft zitiert mit den Worten:

 

Sprecher:

"Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein überein­kommende Er­scheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand , und mit dem Experiment (...) in der ande­ren, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität ei­nes Schülers, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt."

 

Sprecherin:

Kein Gespräch also mit dem Anderen, die Natur darf sich nicht mit­teilen und von sich aus zu uns sprechen. Stattdessen vollstreckt die Vernunft ihre eigenen Be­griffe und Experimente am Anderen: was sich ins System einverleiben läßt, wird angeeignet, was sich einer Einverleibung verweigert, wird abgewehrt und ausge­grenzt.

Die Vernunft scheint - zumindest in ihrer historischen Konzeption - tatsächlich in einer bestimmten Weise selbstsüchtig strukturiert: Sie arbeitet daran, das Andere sich selber gleichzumachen, buchstäblich die ganze Welt zu rationali­sieren. Auf diese Weise mißbraucht die Vernunft das Andere, um sich in ihm zu bestätigen und narzißtisch zu spiegeln. Aber woher rührt dieses narzißtische Moment in der Vernunft?

Dazu der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme:

 

O-Ton Hartmut Böhme:

Narzißmus der Vernunft wäre, daß wir in unserer Vernunft ein Ver­mögen vorfin­den, was dem Vermögen Gottes gleichkommt, eine Gleichrangigkeit zur Vernunft Gottes selbst. Und dieses würden die Griechen Hybris nennen, also wo wir nicht mehr damit rechnen, daß wir endlich, beschränkt, hinfällig, ephemer also und auch in unse­rem Erkenntnisvermögen beschränkt sind, sondern so etwas anstre­ben wie die Unendlichkeit der Vernunft, quantitativ und qualitativ. Und das ist in der Tat eine Selbstüberhebung, an der wir nach wie vor arbeiten. Denn die heutige Entwicklung der künstlichen Intel­ligenz läuft ja auch in die Richtung, das was an der biologischen Intelligenz des Menschen imperfekt ist, zu überwin­den, zu perfek­tionieren, um genau dieses Programm einer unendlichen, der Komple­xität der Welt gleichrangigen Vernunft zu entwickeln. Und ich glaube, daß dieses hochmoderne Programm nach wie vor diesem alten Impuls der Gottähnlich­keit folgt, und daß wir es vielleicht eher nötig hätten, uns um Fragen der Be­grenzung als der Grenzüber­schreitung zu kümmern.

 

Sprecher:

Der neuzeitliche Mensch folgt einem unbedingten Willen zur Überschreitung und Überwindung aller Grenzen, als wolle das Subjekt sich letztendlich von der Erde lösen und den Platz Gottes einnehmen. Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter hat zu recht der neuzeitlichen Vernunft einen Gotteskomplex diagnostiziert. Wo jene Ge­borgenheit im mittelalterlichen christlichen Glauben zer­fiel, da sollte die Vernunft den verlorenen Gott ersetzen und den Menschen narzißtischen Trost bieten. Die Aufklärung hat Allmachts­vorstellungen auf die Vernunft übertragen, die bis heute fortbe­stehen als Machbarkeitsdenken, als Wahn, der Mensch könne mittels Wissenschaft und Technik alle Probleme lösen und damit im Dies­seits zu seinem eigenen Erlöser werden.

 

Sprecherin:

Der Narzißmus mit seinem Größenwahn aber - so lehrt die neuere psychoanalyti­sche Forschung - bedeutet ein gestörtes Verhältnis zum Anderen und auch zu sich selbst. Denn die übersteigerte Eigen­liebe und das zur Grandiosität verklärte Selbst verbergen genau Gegenteiliges: Erlebnisse von Ohnmacht, Kränkungen, Erfahrungen von realer Abhängigkeit und unverarbeitete Trennungen.

 

Sprecher:

Der Narziß­mus leugnet solche Ohnmachtserfahrungen, indem er sie mit All­machtsphantasien überdeckt. Da aber die Macht des Anderen bestehen bleibt, wächst untergründig die Angst sich zu verlieren und aufzu­lösen, eine Angst, die niemals eingestanden werden darf, und die deshalb unversehens in Wut und Ge­walt gegen das Andere umschlagen kann. Max Horkheimer und Theodor Adorno haben ein sol­ches Gemisch aus Angst und Gewalt auch im Untergrund des Vernunftsubjekts aufgedeckt.

 

 

 

Sprecherin:

Horkheimer und Adornos Buch Dialektik der Aufklärung erschien 1945, es entstand unter den Erfahrungen des Nationalsozialismus, unter dem Schock von Auschwitz. Horkheimer und Adorno unterzogen die Vernunft einer schonungslosen und radikalen Selbstkritik. War der Rückfall in die Barbarei ein historischer Betriebsunfall, der einer zivilisierten Gesellschaft und Kultur gleichsam von außen widerfuhr? Oder steckt gar in der abendländischen Kultur, in ihrem Konzept von Vernunft selber ein Fehler, ein gewalttätiges Moment, das  zu einer solchen Brutalität gegenüber dem Anderen eskalieren kann?

Zu dieser Kritik an der Vernunft äußert sich Wolfgang Krewani, der an der Essener Gesamthochschule Philosophie lehrt:

O-Ton, Wolfgang Krewani:

Ich denke eigentlich, daß was man so die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nennt, also der Faschismus und die Judenverfolgung, daß das zusammenhängt mit einer Überstrapazierung der Ratio und der Vernunft, der Verwissenschaftlichung des  Lebens derart, daß der Mensch sich in der Welt, so wie sie sich ihm bot, nicht mehr wiederfand, so daß daraus die umgekehrte Richtung entstand, eine Kritik an dem Allgemeinen, an dem Intellektuellen, - Intellektualismus ist ja das Thema einer beliebten Kritik gewesen, auch im Nationalsozialismus, auch am Beginn unseres Jahrhunderts - so daß man nun sich darum bemühte, das Leben in seiner Unmittelbarkeit wiederzufinden. Und das Leben in seiner Unmittelbarkeit ist ein an das Sinnliche gebundenes Leben, das nun solche Dinge wie Rasse, Blut, Sport auch, Körperlichkeit in den Vordergrund traten und dann so etwas wie eine theoretische Grundlage für den Nationalsozialismus und den Faschismus überhaupt geboten haben. Das scheinen mit die Gründe zu sein: ...  Es ist eher eine Art Anti-Intellektualismus, eine Art Anti-Vernunft, die sich darin ausdrückt, weil der Anspruch der Vernunft vielleicht auch zu abstrakt geworden ist, vielleicht auch zu schwierig geworden ist. Es wäre ja vernünftig, daß man mit anderen Menschen Ge­mein­samkeiten sucht, der Begriff ist nichts anderes als das Allgemeine, worauf sich Verschiedene einigen können, was dann auch unter Umständen Gemeinsamkeit stiftet.

 

Sprecher:

Schon zu Beginn des Jahrhunderts rückte auch in der Philosophie das Problem des Anderen und seiner Anerkennung in den Blickpunkt. Dabei konzentrierte sich die philosophische Dis­kussion auf die Frage nach dem anderen Menschen, angesprochen war aber auch das Anderssein der Natur, der Dinge und der Erfahrungen.

Es war vor allem Edmund Husserl, der mit seiner neuen philosophi­schen For­schungsrichtung, der Phänomenologie, die Diskussion um den Anderen eröffnete. Husserl versuchte die Quadratur des Krei­ses. Er wollte die Intersubjektivität, d.h. die faktische Mehr­zahl der menschlichen Subjekte anerkennen, aber dennoch die Tradi­tion des einen Vernunft-Ich retten.

 

Sprecherin:

Das Ich, das weiterhin die einzige Quelle aller Erfahrung bleibt, soll sich nach Husserl durch Einfühlung und Spiegelung in den An­deren hineinversetzen. Dann ist der Andere ein Alter Ego, ein an­deres Ich also, das ich mir prinzipiell gleichwertig denke, ausge­stattet mit dem gleichen Denkvermögen und der glei­chen Freiheit wie ich selbst. Martin Heidegger, der ein Schüler Husserls war, hat dann ausgeführt, daß der Andere nicht primär als ein äußeres Erkenntnisproblem auftaucht, vielmehr versteht das Subjekt sich immer schon als jemand, der mit anderen und in einer gemeinsamen Welt lebt. Der Andere ist eine existentielle Dimension, die wesentlich zur eigenen Subjektivität hinzugehört. An diesem Punkt setz­te, wie der Bochumer Philosoph Bernhard Waldenfels ausführt, Jean Paul Sartres Reflexion des Anderen an:

 

O-Ton, Bernhard Waldenfels:

Nun was Sartre angeht, er ist natürlich sehr stark von Husserl und auch von Heidegger beeinflußt, offensichtlich, und er hat natür­lich zur Erfahrung des An­deren Bemerkenswertes beigesteuert. In seiner großen Schrift Das Sein und das Nichts, ist die Beschrei­bung des fremden Blicks doch etwas von dem Eindrucks­vollsten in diesem Buch. Was er gegen Husserl, auch noch in gewisser Weise ge­gen Heidegger eingewandt hat, ist formuliert in einem ganz einfa­chen Satz: "Ich konstituiere den Anderen nicht, sondern ich begegne ihm." Damit ist gemeint, die Erfahrung des Fremden läßt sich nicht sozusagen buchstabieren, mit den Ele­menten und den Mitteln des Ei­genen wie Husserl es noch versucht hat, sondern ich stehe im Blick des Anderen, (...) ich fühle mich gesehen, davon geht Sartre aus.

 

Sprecher:

"Nehmen wir an", schreibt Sartre, "ich sei aus Eifersucht, aus Neugierde oder lasterhafterweise so weit gekommen, mein Ohr an eine Tür zu legen oder durch ein Schlüsselloch zu spähen. Ich bin allein, ... Es gibt also nichts, zu was ich meine Akte in Bezie­hung setzen könnte ... ich bin sie, (als) reine Art, ... mich in der Welt zu verlieren, mich von den Dingen aufsaugen zu lassen wie die Tinte von einem Löschblatt. ... Jetzt habe ich Schritte im Vorsaal gehört: man sieht mich. Was soll das heißen? Das soll hei­ßen, daß ich in meinem Sein plötzlich von etwas betroffen werde: ich schäme mich. Die Scham bewirkt, daß ich die Situation eines Erblickten erlebe. (Sie) ist Scham über mich selbst, sie ist Aner­kennung des Tatbestandes, daß ich wirklich jenes Objekt bin, daß der Andere ansieht und aburteilt. Ich kann mich nur über meine Freiheit schämen. ... Meine Scham ist ein Geständnis ... und sie ist (eine Art), in der ich den Anderen als unerreich­bares Subjekt anerkenne."

 

Sprecherin:

Unter dem Blick des Anderen erstarrt das ertappte Ich: Es ist die­se jämmerliche Figur, dieser Voyeur und sonst nichts. Für einen Augenblick ist mein Ich nur das, was der Andere sieht. Der Blick des Anderen ist ein Medusenblick, unter dem meine freie Subjekti­vität versteinert.

Mit Absicht hat Sartre solch eine peinliche Szene ausgewählt, um das Verhältnis zum Anderen darzustellen. Sartre hält sie für para­digmatisch: Immer wenn ein anderes Subjekt mich sieht, erleide ich eine Entfremdung, denn ich mache die leidvolle Erfahrung, ein Ob­jekt zu sein.

 

Sprecher:

"Der Blick des Anderen", sagt Sartre, "formt meinen Leib in seiner Nacktheit, läßt ihn entstehen, modelliert ihn, ... sieht ihn, wie ich ihn nie sehen werde." Das Bewußtsein des Ande­ren raubt mir gleichsam mein Sein. Darauf kann es Sartre zufolge nur eine Antwort geben: Es gilt sich selbst wieder in die Position des Subjekts zu bringen, es gilt selbst wieder derjenige zu sein, der sieht, urteilt und handelt, um auf diese Weise im Gegenzug den Anderen zu objektivieren.

 

 

 

Sprecherin:

So entsteht nach Sartre ein ewiger Kampf gemäß der Devise: Ich oder der An­dere. Jeder von beiden beansprucht das Zentrum der Welt zu sein, jeder rekla­miert absolute Freiheit für sich. Dann bedeu­tet die Freiheit des Einen immer die Vernichtung der Freiheit des Anderen. Und eine friedliche und ausgewogene Ko­existenz kann es nicht geben. Sartre entwirft in dem Theaterstück Bei geschlosse­nen Türen sein Bild der Hölle: Es ist eine Situation, in der drei fremde Personen für eine schlaflose Ewigkeit einander ausgeliefert sind. Die Hölle: das sind die anderen.

 

Sprecher:

Aber Sartre hat die Frei­heit zu absolut gedacht. Hier ist das alte Subjekt mit seinem gren­zenlosen Autonomiewillen zurückgekehrt, das Heidegger schon verabschiedet hatte. Sartre interpretiert die Beziehung zwi­schen dem Ich und dem Anderen, also ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis, ganz nach dem alten Subjekt-Objekt-Schema. Damit fällt Sartres Modell der Anerkennung des Anderen wieder in die egozentrische Tradition zurück: abwechselnd stoßen das Ich und der Andere sich gegenseitig vom Thron des autonomen Subjekts.

 

O-Ton, Bernhard Waldenfels:

Die Grenze seiner Theorie der Intersubjektivität scheint mir darin zu liegen, daß er das Subjekt weiterhin so eigenmächtig denkt, daß es alles sich selbst ver­dankt. Das Subjekt ist das, was alles, was ist, setzt und auch sich selbst setzt und in dieser Selbstsetzung auf andere Wesen stößt, die auf gleiche Weise sich selbst und den Anderen setzen und objektivieren, und es entsteht dort eine Dia­lektik von Herr und Knecht, (...) ohne daß irgendeine Gemeinsam­keitszone ent­steht. Nur ist dieser Ansatz mit außerordentlichen Voraussetzungen belastet, auch phänomenal damit belastet, daß die Sprache keine Rolle spielt. Wenn man den Blick etwa nimmt, besteht der Blick nur darin, daß ich den Anderen fest­nagle oder mich fest­genagelt fühle? Gehört zum Blick nicht auch eine Art von Angespro­chensein durch den Blick, ein Angesprochensein, das durch den fest­nagelnden Blick zum Schweigen gebracht wird? Also es fehlt ganz und gar die dialogische Komponente, die Sie bei anderen phä­no­menologischen Autoren dann sehr zentral finden.

 

Sprecherin:

Früher noch als andere phänomenologische Denker wie etwa Merleau-Ponty, hat der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber ein radi­kal dialogisches Denken entfaltet. Buber geht weder wie Sartre vom Ich, noch geht er vom Anderen aus. Und er setzt auch keine überge­ordnete Totalität voraus, also eine Ganzheit, die beide umfaßt und ihren Gegensatz neutralisiert. Stattdessen entfaltet Buber eine Philosophie, in der das Ich und der Andere allererst aus ihrer gemeinsamen Beziehung hervorgehen. Ich und Anderer entspringen im selben Moment, sie verdanken ihre jeweilige Subjektivität der gemein­samen Beziehung. Buber entwickelt eine Philosophie, in der die Sphäre des "Zwischen" grundlegend ist. "Geist", schreibt Buber, "ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du."

 

Sprecher:

In seiner Hauptschrift "Ich und Du" von 1923 hat Buber in einer hymnisch-bild­haften Sprache eine solche Philosophie des Zwi­schen vorgelegt. Buber unter­scheidet darin zwei Grundhaltungen des Men­schen gegenüber dem Anderen: für die eine steht das Grundwort Ich-Du, für die andere das Grundwort Ich-Es.

Das Wortpaar Ich-Es ist nur ein anderer Name für das Subjekt-Ob­jekt-Verhältnis der Neuzeit. In der Ich-Es-Einstellung wird ana­lysiert und erkannt, berechnet und kalkuliert, besprochen und ein­geordnet - so entsteht eine verdinglichte Welt, wo alles Andere buchstäblich zum Gegenstand wird und die lebendige Ver­bindung zwi­schen Ich und Anderem durchtrennt ist.

 

Sprecherin:

Aber das Ich-Es-Verhältnis ist nur sekundär. Es ist ein Zerfall der ursprüngli­chen Zusammengehörigkeit des Ich mit dem Du. Der An­dere ist im Grunde ein Du, und wo sich die Nähe zum Du wiederher­stellt, findet auch das Ich wieder zu sei­nem eigentlichen Wesen. "Der Mensch wird am Du zum Ich", schreibt Buber. Und weiter heißt es: "Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie... Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorweg­nahme... Alles Mittel ist Hindernis, Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung."

 

Sprecher:

Buber entwirft eine Utopie des Gesprächs und der Nähe. Er ideali­siert den Dialog zur Zwiesprache, in der das Ich und der Andere sich rückhaltlos einander öff­nen. Du-Sagen bedeutet: ich wende mich dem Anderen unbedingt zu, ich akzep­tiere ihn in der ganzen Spannweite seines Wesens und nehme meine ganze Per­son in diese Hinwendung zum ihm hinein. Begegnung bedeutet, daß mir dieselbe Zuwendung auch von seiten des Anderen widerfährt.

 

 

Sprecherin:

Aber ist eine solche uneingeschränkte Gegenseitigkeit zwischen Ich und Anderem denkbar? Kann man sich das Verhältnis zwischen Ich und dem Anderen als voll­ständige Entsprechung vorstellen, wie Buber es tut?

Wolfgang Krewani, der an der  Essener Gesamthochschule Philosophie lehrt, macht auf die problematischen Annahmen aufmerk­sam, die im Ansatz von Martin Buber enthalten sind:

 

O-Ton, Wolfgang Krewani:

Das Ich-Du-Verhältnis ist kein gegenständliches Verhältnis. Aber ob bei Buber nicht doch wiederum eine Schwierigkeit auftritt, die darin liegt, daß Buber den Antagonismus von Ich und Du dadurch überwindet, daß er eine vorhergehende Einheit annimmt. Keine ge­genständliche Einheit, keine begriffliche Einheit, aber wenn das der Fall ist, also wenn man von einer vorhergehenden Einheit aus­geht, dann ist die Frage, wie trennen sich die beiden. Das ist eine philosophisch au­ßerordentlich wichtige Frage, wie aus der Ein­heit die Zweiheit hervorgehen kann oder die Dreiheit, überhaupt die Zahl. Und einer der Einwände, die vor allen Dingen Lévinas ge­gen Buber immer wieder gemacht hat, an verschiedenen Stel­len, ist, daß Buber ein Verhältnis der Gegenseitigkeit sieht. Und in diesem Ver­hältnis der Gegenseitigkeit ist die Gefahr, daß das Ich im Du oder das Du im Ich aufgeht.

 

Sprecher:

Aus dem Spektrum jüdischer Geistigkeit gibt es einen anderen Den­ker, den fran­zösischen Philosophen Emanuel Lévinas, für den in gleicher Weise wie für Buber die Bezie­hung zum Anderen das vorrangige Thema der Philosophie darstellt. Aber er ent­wickelt eine völlig andere Vor­stellung vom Anderen.

Emmanuel Lévinas hat die Gewalt der Totalitarismen gegenüber dem Anderen in diesem Jahrhundert selbst erfahren müssen. Seine ge­samte Familie wurde in ei­nem KZ in Litauen umgebracht, er selbst war in einem Lager für jüdi­sche Kriegsgefangene in der Nähe von Hannover interniert.

Lévinas, der 1995 beinahe 90jährig in Paris verstarb, gilt heute als der bedeutendste Denker der Ethik. Wolfgang Krewani hat mehrere Schriften von Lévinas übersetzt und eingelei­tet, unter anderem auch ei­nes der Hauptwerke, "Totalität und Un­endlichkeit".

 

O-Ton, Wolfgang Krewani:

Man hat versucht den Denkweg von Lévinas zu verfolgen. Ich habe das ver­sucht, das ist außerordentlich kompliziert und sehr verwir­rend, sehr schwierig. Aber ich denke, wenn man das tut, dann kommt man darauf, daß in der Philoso­phie von Lévinas der Begriff des An­deren eine ständige Vertiefung erfährt. Das ist der Ansatzpunkt: Transzendenz ist nicht Transzendenz zum Sein, (...) Son­dern Trans­zendenz ist für ihn immer Transzendenz zum Anderen, so daß für ihn die zentrale Frage ist: Was ist der Andere? Wenn der andere ein­fach etwas Be­griffliches wäre, dann würde er schon wieder in der Einheit des Ich-Denke auf­gehen, würde darin einbegriffen und würde darin seine Andersheit verlieren. Der Andere kann eigentlich nur anders sein, dadurch daß (....) der Andere Pro­zeß ist.

 

Sprecherin:
"Ein Unbekannter hat an meiner Tür geläutet. Er hat meine Arbeit unterbrochen, um mir seine Angelegenheiten zu erklären. Ich habe ihn um ein paar Illusionen ärmer gemacht; er aber hat mir seine Schwierigkeiten eröffnet und dadurch mein gutes Gewissen getrübt."

 

Sprecher:

Lévinas schildert in seinem Werk "Die Spur des Anderen" diese kleine alltägliche Störung und die Rückkehr zur Tagesordnung. Man beschwichtigt sich selbst und den Anderen damit, keine anderen Möglichkeiten zu haben, und zieht sich wieder ins eigene Tagespro­gramm zurück. Und die Überraschung durch den Anderen?

 

Sprecherin:

"Man wird", fährt Lévinas fort, "diese Überraschung in Abrede stellen. Man wird auf die Ordnung achten, in der die Störung auf­gehoben ist, auf die Geschichte, in deren Rechnung die Menschen wie auch ihr Elend, ihre Verzweiflung, ihre Kriege und Opfer, das Furchtbare und das Erhabene aufgehen. ... So wäre alles, was wirk­lich ist, sinnvoll, und jede Handlung erschiene als der Abschluß einer Beweisführung."

 

Sprecher:

Dennoch bleibt in der kleinen Szene etwas zurück, das sich nicht einordnen läßt. Das fremde Gesicht an der Tür hat irritiert, ein Gesicht, so nahe und direkt vor mir, ganz und gar Ausdruck, aber aus der Tiefe eines Anderen, die sich niemals ausloten läßt. Wie immer mir ein Gesicht auch entgegenschaut, offen oder verschlos­sen, ängstlich oder fordernd, es wahrt eine letzte Fremdheit und un­überwindliche Ferne. Lévinas spricht deshalb vom Antlitz des An­deren. Diesen Begriff erläutert Bernhard Waldenfels:

 

O-Ton, Bernhard Waldenfels:

Man könnte das, was Lévinas das Antlitz nennt, (...) so verstehen, daß in jedem der mir begegnet immer schon mehr da ist, als die be­stimmte Rolle, als die be­stimmte Gruppe, in die ich den Betreffen­den einordne, daß also immer ein be­stimmter Überschuß da ist der Fremdheit in dem, wie der Andere mir begegnet. Das, denke ich, gilt wohlgemerkt auch für die nächste Nähe. Wenn man den Ge­danken von Lévinas wirklich radikal nimmt, so bedeutet es, daß jedes mensch­liche Verhältnis nur lebendig bleibt, wenn es darin Möglich­keiten gibt, die nicht verwirklicht werden, die auch in der Kommu­nikation im besten Falle ausgeschlos­sen sind.

 

Sprecherin:

Für Lévinas rückt der Andere niemals in die Vertrautheit des Du, von dem Bu­ber spricht. Der Andere bleibt ein Er, auch in der eng­sten Beziehung. Denn der Andere entzieht sich im letzten meinem Verstehen und meiner Vorstellung, er ist buchstäblich unvorstell­bar und unerreichbar: dort wo ich ihn zu verstehen meine, finde ich nur mehr die Spur des Anderen. "Einem Menschen begegnen", sagt Lévinas, "heißt von einem Rätsel wachgehalten zu werden".

 

Sprecher:

Lévinas meint allerdings kein Rätsel, das in erster Linie unserem Verstand und unserem Erkenntnisbemühen aufgegeben ist. Es handelt sich vielmehr um ein exi­stentielles Ereignis, das die menschliche Subjektivität bestimmt und in ethisch grundlegender Weise angeht.

"Die Nacktheit des Gesichts ist Not," sagt Lévinas, "und in der Di­rektheit, die auf mich zielt, ist es schon inständiges Flehen.... Das Gesicht nötigt sich mir auf, ohne daß ich gegen seinen Anruf taub sein oder ihn vergessen könnte, d.h. ohne daß ich aufhören könnte, für sein Elend verantwortlich zu sein."

 

Sprecherin:

Das Antlitz des Anderen, von dem Lévinas spricht, ist eine unbe­dingte ethische Instanz: Ich kann den Anderen zwar töten, aber dann habe ich ihm nicht ins Ge­sicht gesehen. Das Gesicht des Anderen sucht mich heim, es ist wortloser An­spruch, der mich auffordert und der mich in eine Verantwortung ruft. Das Gesicht hat meine Soli­darität bereits eingeklagt, bevor ich mich auf meine Freiheit besinnen kann.

Dazu Wolfgang Krewani:

 

O-Ton, Wolfgang Krewani:

Ist das nicht etwas was unmittelbar präsent ist? Oder was man sel­ber unmittel­bar erfährt? Man kann natürlich in einem zweiten Schritt gegen diese Ansprüche angehen, denke ich. (...) Ich weiß nicht, ob nicht Kinder, das fällt mir immer ein, allen Erwachsenen gegenüber zunächst das Gefühl haben, daß sie verantwortlich sind, daß sie verantwortlich gemacht werden. Kinder haben gegenüber Dritten nicht das Gefühl, daß sie dieselbe Bedeutung haben wie der Andere, also ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit besteht, sondern man kann Kindern sehr leicht ein Schuldgefühl suggerieren, ich denke, daß Kinder das sehr oft haben und viele Erwachsenen haben das auch. Also der Andere tritt immer als ein fordernder auf. Und dieser Forderung komme ich zunächst nach. Vielleicht auch nur durch einen kleinen Schock, der mich bewegt. Und dann richte ich mich auf und wende mich vielleicht dagegen. Das scheint mir eine angemessene Beschreibung zu sein. Ich denke nicht, daß man das ab­leiten kann, das kann man so wenig ableiten wie den Kategorischen Imperativ. Von dem Kant ja gesagt hat, das sei ein Faktum.

 

Sprecher:

Beide jüdischen Denker, Martin Buber wie Emanuel Lévinas, versu­chen die ego­zentrische Tradition des Abendlandes zu korrigieren, die sich bei Sartre noch einmal artikuliert. Sartre geht vom Ich aus, der Andere ist ein Gegen-Ich, das mit mir um die größtmögli­che Freiheit kämpft. Sartre denkt den Anderen als Ri­valen.

 

Sprecherin:

Buber hingegen geht von einer Beziehung aus, in der das Ich und der Ande­re immer schon zusammengehören, eine höhere Einheit also, an der beide teilhaben. Der Andere ist für Buber im vollen Wortsinn ein Partner. Deshalb gibt es bei Buber auch keinen letzten Widerspruch zwischen Freiheit und Verantwortung.

 

Sprecher:

Lévinas schließlich denkt radikal vom Anderen her. Aber es ist nicht der urver­bundene Andere Bubers, sondern ein ewig Fremder, der sich mir entzieht und zugleich aufnötigt, weil er mich unbe­dingt angeht. Lévinas stellt die Verantwor­tung für den Anderen hö­her als die Freiheit des Ich. Es ist eine unbedingte Verantwor­tung, die schon Geltung hat, ohne daß eine Gegenseitigkeit besteht oder von mir überhaupt zur Bedingung gemacht werden kann.

 

 

 

Sprecherin:

Damit kritisiert Lévinas die Rangfolge, die in der neuzeitlichen Philosophie vor­herrschte und bei Sartre weiterhin gilt: Erst die Freiheit, dann die Verantwor­tung. Sartre kann nur eine zunächst zugesprochene absolute Freiheit nachträg­lich einschränken: Frei­heit soll selbstverantwortet werden. Aber in dieser Ent­scheidung kommt der Andere nicht mehr vor. Sartres Rangordnung ergibt eine Welt der Selbstbehauptung gegenüber dem Anderen. Darin setzt sich fort, was Thomas Hobbes formuliert hat: "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf." Natur ist der Kampf aller gegen alle, und Friede kann es nur durch Beschränkung einer Raubtierfreiheit geben.

 

Sprecher:

Lévinas hingegen kehrt die Rangfolge um: Verantwortung besteht schon vor aller Freiheit. Der Mensch ist immer schon aufgerufen, für den Anderen einzustehen: die Erde, alles Andere, was er selbst nicht gemacht hat, ist ihm anvertraut. Diese Verantwortung besteht schon, bevor Freiheit möglich ist und überhaupt ir­gendeinen Sinn annehmen kann. "Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkli­ches Antworten gibt." sagt Martin Buber. Er hat damit deutlich gemacht, daß Verantworten und Antworten, also ethisches und dialogisches Verhalten in einem engen Zusammenhang stehen.

Jemandem anderen wirklich zu antworten, heißt aber sich auf ihn und auf die Frage einzulassen, ohne sich hinter Prinzipien und Regeln verstecken zu können. Bernhard Waldenfels:

 

 

 

O-Ton, Bernhard Waldenfels:

Zunächst einmal paradox gesagt: Antwort geben heißt, etwas geben, was man nicht hat. Da ist die radikale Enteignung. Es gibt viele Antworten, die sind all­tägliche Antworten, wo eine gewisse Norma­lität vorliegt, jeder Schalterbeamte gibt Ihnen Antworten, die er parat hat, und deshalb kann eine Maschine auch unter bestimmten Umständen diese Funktion abnehmen. Aber wenn es eine Frage ist, wie: 'Bist Du glücklich?', kann ich nicht im Repertoire nach­schauen, sondern frage, was soll die Frage überhaupt bedeuten, warum wird sie mir gestellt. Die Antwort, die ich darauf gebe, entsteht in der Antwort selbst. (...) ich gebe eine Antwort, die ich gar nicht habe, ich gebe, was ich nicht habe. Das nenne ich eine produktive oder kreative Antwort, die die Antwort erst ent­stehen läßt als Antwort auf eine Herausforderung.

 

Sprecherin:

Waldenfels spricht von einer responsiven Rationalität, von einer Vernunft, die antwortet. Hier dominiert nicht länger die Vorstellung eines Geistes, der von sich her, mittels seiner eigenen Logik, die Welt erkennt, durchdringt, ordnet und beherrscht; hier herrscht nicht länger die Idee einer Vernunft, die als Besitzstand von Prinzipien und Normen anzusehen ist. Stattdessen zeichnet Waldenfels das Bild einer Vernunft, die sich im offenen Dialog mit dem Anderen entwickelt.

Solche Konzepte deuten daraufhin, daß die Philosophie sich wandelt. Wolfgang Krewani entdeckt dabei eine Wiederanknüpfung an verlorene Motive aus dem Ursprung der Philosophie:

 

 

 

O-Ton, Wolfgang Krewani:

Mir scheint, daß die Philosophie von Anfang an, vor allem wenn ich den Gedanken von Lévinas folge, aus einer Inspiration kommt, die mit dem Anderen zu tun hat, daß nämlich jene Fraglichkeit des Seins, die man an den Anfang der Philosophie stellt, das Ergebnis der Begegnung mit dem Anderen ist. Es gibt ja seit Platon den Topos, daß die Philosophie mit dem Staunen anfängt, dieses Staunen hat Platon im Dialog Theaitetos auch beschrieben. Da steht gar nicht Staunen, da steht im Griechischen der Ausdruck skotodinio, und skotodinio heißt eigentlich der Schwindel in der Finsternis , d.h. also der vollkommene Verlust aller Orientierungen. Und wenn man das mit Lévinas als eine Orientierunglosigkeit interpretiert, die damit zusammenhängt, daß das eigene Weltbild fraglich wird, weil wir feststellen, daß es andere gibt, die sehen die Welt eben anders, so daß das meine relativiert wird, möglicherweise auch das des Anderen, daß wir auf einmal aber nicht mehr wissen, was ist denn die Wirklichkeit, dann wird man die Philosophie etwas anders sehen, als wenn man einfach sagt, das ist der Aufstand der Vernunft, die sich da bemächtigt bei  den Griechen und die jetzt versucht, die Welt sich verfügbar zu machen.
Und dann kann man die ganze Philosophie interpretieren als den Versuch, dieses Moment der Offenheit, der Relativität, (...) im Sinne der Relativität der eigenen Welterfahrung, dieses Moment offen zu halten gegen alle Dogmatisierung. ... Das wäre eine Perspektive auf die Philosophie, wie sie von Lévinas her möglich wäre.

 

Sprecher:

Philosophie, die über zwei Jahrtausende meist an ihrer eigenen Logik, am Prinzip der Ordnung und an der Herrschaft des Subjekts orientiert war, die sozusagen ein Denken aus dem Zentrum heraus darstellte, beginnt sich zu verlagern und zu dezentrieren: Das Ver­hältnis zum Anderen, seine Anerkennung, über­haupt der Umgang mit Grenzen, zieht die philosophische Aufmerksam­keit auf sich.

Eine Philosophie der Anerkennung des Anderen könnte auch eine andere Philosophie werden. Nicht mehr so sehr ein Den­ken, das auf Selbst­sicherung an­gelegt ist und das vorrangig auf Erkenntnis des Ande­ren abzielt; vielmehr ein Denken, das vor allem ein Ethos des Um­gangs mit dem Anderen auszubilden ver­sucht.

 

Sprecherin:

Und es scheint ein gefährlicher Irrglaube, die Andersheit des Anderen durch Verstehen oder Integration letztendlich auflösen zu können. Der Wunsch nach Einheit und Verschmelzung, die Vorstellung einer Harmonie ist mit dem Hang zur Unterdrückung verquickt. Stattdessen wäre die Andersheit des Anderen auszuhalten. Die französische Philosophin Julia Kristeva nennt das den "Respekt vor dem Unversöhnbaren".