Sprecher:

In der Politik regieren allzu selten Vernunft und moralisches Recht. Statt um Moral geht es meist um Macht, sei es um den kruden Machterhalt der gerade Herrschenden oder um ein Machtgleichgewicht zwischen Staaten, oder aber um die Absicherung einer ökonomischen, technologischen oder politischen Vormachtstellung in der Welt. Darüber werden Menschen- und Völkerrecht immer wieder mißachtet.

 

Sprecherin:

Philosophen seit Platon haben darüber nachgedacht, wie man Moral und Macht, Vernunft und Politik in ein besseres Verhältnis setzen könnte. In seinem Entwurf eines idealen Staates schrieb Platon vor 2400 Jahren:

 

Sprecher:

"Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, ... gibt es ehedem keine Erholung von dem Übel für die Staaten."

 

Sprecherin:

Am Hof des sizilianischen Herrschers Dionysios versuchte Platon sein Staatsprojekt zu verwirklichen, wenn auch mit etlichen Kompromissen. Er fiel jedoch in Ungnade, wurde als Sklave verkauft und nur durch Zufall von einem Freund gerettet, der ihn freikaufte. Platons Versuch, die Utopie des Philosophenstaates zu realisieren, war fehlgeschlagen.

 

Sprecher:

Aber Platons Konzept des Philosophenkönigs, die Vorstellung eines Souveräns, von dem man glaubt, daß er genau deshalb klug und gerecht regiere, weil er weise sei, weil er die Wahrheit kenne, - diese Vorstellung dominierte die politische Philosophie bis in die Gegenwart hinein. Einer jedoch hat ihr schon vor 200 Jahren vehement widersprochen und klargestellt, daß Platons Konzept eine trügerische Utopie darstelle:

Immanuel Kant nämlich schrieb in seiner Abhandlung mit dem Titel "Zum ewigen Frieden":

 

Sprecherin:

"Daß Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Daß aber Könige oder königliche ... Völker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, ist beiden zur Beleuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich."

 

Sprecher:

Kant entwickelt die Vorstellung von einem durch Distanz und Kritik geprägten Verhältnis der Philosophierenden zu den Politikern, wie Volker Gerhardt erläutert, der an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie lehrt.

 

O-Ton, Volker Gerhardt:

So sehr Kant auf die Bedeutung der Vernunft in der Politik setzt, so sehr ist ihm daran gelegen, eine Arbeitsteilung zwischen den Mächtigen und den Intelligenten, den Aufklärern, den Weltweisen und damit den Vernünftigen zu verteidigen. Er geht davon aus, daß die Macht, wie er im Ewigen Frieden sagt, notwendig korrumpiere, und daß deswegen ein distanziertes Verhältnis der Philosophen zur Macht und zur Politik angeraten sei. Und deswegen hält er diese jedenfalls von Platon in einem Zusammenhang vorgeschlagene Identität von Philosophen und Königen für nicht wünschbar. Er glaubt sogar, daß dies ein Unglück für die Politik wäre, wenn die Philosophen zur Herrschaft kämen.

 

Sprecherin:

Mit Kants Votum gegen den Philosophenkönig leistet die Philosophie einen - wie Volker Gerhardt es ausdrückt - Thronverzicht. Kant schickt die Philosophie jedoch keineswegs zurück in den Elfenbeinturm - ganz im Gegenteil: die Philosophen sollen das Amt der Kritik ausüben und kraft ihrer Distanz und Unabhängigkeit ein notwendiges Gegengewicht zu den Regierenden bilden. Kant plädiert also für eine Gewaltenteilung zwischen Macht und Geist, so wie Montesquieu sie für den Bereich der Politik entworfen hat.

 

 

 

Sprecher:

Damit kritische Geister aber überhaupt die Aufgabe der Kritik ausführen können, bedarf es der Rede- und Pressefreiheit. Informationen müssen frei fließen, Diskussionen und Auseinandersetzungen stattfinden können, damit nach einer Formulierung von Jürgen Habermas' der zwanglose Zwang des besseren Arguments überhaupt eine Chance erhält. Es braucht mit einem Wort: Öffentlichkeit. Aber - wie die gegenwärtige Situation schmerzlich vorführt - gerade dann, wenn es zum Äußersten kommt, zu Krieg und größtem Unrecht, wird die Öffentlichkeit von den Herrschenden auf allen Seiten eingeschränkt oder sogar völlig unterbunden.

 

Sprecherin:

Kant erweist sich als aktueller politischer Denker, denn er hat die Idee der Öffentlichkeit als eine unabdingbare Voraussetzung von Kritik und philosophischem Engagement hervorgehoben und philosophisch ausgezeichnet, wie Volker Gerhardt erläutert:

 

O-Ton, Volker Gerhardt:

Man kann, denke ich sagen, daß Kant die eigenständige Funktion der Öffentlichkeit im Zusammenhang des politischen Lebens so stark betont hat wie zuvor kein anderer. Er hat aus dem Gebot der Publizität sogar ein transzendentales Prinzip gemacht. Eine stärkere Auszeichnung gibt es im Zusammenhang des Kantischen Denkens gar nicht, und wir können erst im Licht dieser theoretischen Auszeichnung der Öffentlichkeit erkennen, daß auch schon in den älteren Theorien natürlich ein Vertrauen auf Sphäre gegeben war, in der sich die Meinungen ausbilden und in der es um einen Austausch von Meinungen im Interesse der Wahrheit geht.

 

Sprecher:

Öffentlichkeit ist jedoch nicht bloß ein institutioneller Zustand oder Rahmen, der von Regierenden großzügig gewährt oder der gesetzlich verbrieft ist, wirkliche Öffentlichkeit gibt es erst dann, wenn sie von den Menschen praktiziert wird. Wenn möglichst viele sich an einem Prozeß der Meinungsbildung beteiligen, ihr Urteilsvermögen trainieren und sich schließlich auch ein eigenständiges Urteil zutrauen. Denn das kritische Denken ist nicht nur eine Angelegenheit von Wissen oder Intelligenz, sondern ebenso sehr eine Frage von Mut, von Zivilcourage. In persönlichen wie in politischen Dingen braucht es Mut, sich und anderen die Wahrheit zuzumuten.

 

Sprecherin:

Kant wußte um diesen Zusammenhang. 

"Aufklärung" - so lautet seine berühmte Definition - "ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegst, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen."

 

Sprecher:

Kant und andere Aufklärer griffen ein lateinisches Wort von Horaz auf. Sapere aude. Es bedeutet wörtlich: Wage es weise zu sein. Doch die Aufklärung interpretiert den Satz in einer Weise, die das aktive, geistig tätige Moment hervorhebt: Wage es zu denken.

Kant wußte sehr genau: Denken ist stets auch ein Wagnis. Deshalb mündet seine berühmte Programmschrift - Was ist Aufklärung - in den Aufruf: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

Thomas Macho, er lehrt Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, unterstreicht, daß Kants Wahlspruch der Aufklärung unüberschreitbar gültig und aktuell ist.

 

O-Ton, Thomas Macho:

Wir können uns schwer vorstellen, wie es wäre, wenn das nicht gültig wäre. Trotzdem würde ich meinen, daß dieser Satz seine wichtigsten Effekte und Folgewirkungen gar nicht so sehr nur auf dem Gebiet der Bewußtseinsphilosophie gehabt hat, wie das zunächst im Deutschen Idealismus aussehen mochte, sondern in politisch-rechtlicher Hinsicht, d.h. der Kant, der mit der Idee 'Sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen bedienen' wirkungsmächtiger geworden ist, ist der Kant, der auch das Diktat 'Zum ewigen Frieden' verfaßt hat.

Und es ist vielleicht in diesem Augenblick, wo das Gespräch stattfindet, nicht ganz verkehrt, daran zu erinnern, daß das nicht nur eine Utopie ist, die nach wie vor aktuell ist, sondern die auch mit politischen Strukturen und ganz konkreten Organisationsformen dieses 'Sich seines eigenen Verstandes bedienen zu wollen' operiert hat, die weder an Dringlichkeit noch an Aktualität verloren haben.

 

Sprecherin:

Kant hat selber Mut in seinem Denken und Schreiben bewiesen und beweisen müssen. Über dem Erkenntniskritiker und Moralphilosophen, über dem großen Theoretiker, der das philosophische Denken revolutioniert und ihm neues Fundament gelegt hat, ist oft in den Hintergrund getreten und vergessen worden, daß Kant seine Idee von Aufklärung gegen vielerlei Widerstand auch gelebt hat.

Seine freidenkerischen Ansichten zu Religion und Kirche trugen Kant  1794 eine Verwarnung durch eine Kabinettsorder des preußischen Königs ein. Friedrich Wilhelm II., der frömmelnde Nachfolger des toleranten Friedrich des Großen, veranlaßte seinen Minister Wöllner eine religionsphilosophische Schrift Kants zu verbieten. Thomas Macho:

 

 

O-Ton, Thomas Macho:

Sie haben ihn angepfiffen und Kant hatte - allerdings im hohen Alter - unter Lehrverbot zu leiden. Und man darf nicht vergessen, daß das eine Zeit war, in der man, wenn man weniger prominent war, als es Kant schon zu Lebzeiten war, auch einen Lehrstuhl verlieren konnte, oder wie Fichte im Zuge des Atheismusstreits die Universität wechseln mußte, also es war eine Zeit, in der die Polemik gegen die Religion durchaus mit Mut und Zivilcourage ... verfochten werden mußte.

 

Sprecher:

Mut und Entschlossenheit sich einen Weg zu bahnen, bewies Kant auch in seiner Lebensgeschichte. Er stammte aus ärmlichsten Verhältnissen. Es ist überliefert, daß sein Vater, ein kleiner Handwerker, nicht genug Geld für das Begräbnis der Mutter aufbringen konnte, und als dieser selbst starb, Kant ebensowenig die Begräbniskosten allein zu tragen vermochte. Der junge Kant hat sich mit erstaunlicher Kraft aus einer solchen ökonomischen wie geistigen Enge herausgearbeitet - gegen vielfache Widerstände, wie der Berliner Philosophieprofessor Volker Gerhardt mit Blick auf Kants Lebensweg betont:

 

O-Ton,  Volker Gerhardt:

Die Rolle von Widerständen in Kants eigener Biographie wird von den Biographen bis heute noch unterschätzt. Man neigt dazu, das Ganze als eine Entwicklung im randständigen Königsberg, behütet durch eine Handwerkerfamilie, unter dem Schutz einer pietistischen Erziehung, eine sicherlich sehr strenge Schule, dann aber eine behütete, unter aufmerksamen Lehrern absolvierte Studienzeit darzustellen. Und dann folgt der gemächliche Weg über den Hauslehrer, den Privatdozenten, der sich zusätzliches Geld über Privatstunden erwirbt, und auf diese Weise schließlich Professor wird, aus Königsberg nicht herauswill - das alles gehört zu der Darstellung eines im Grunde totlangweiligen Lebens eines Professors in der Königsberger Abgeschiedenheit.

Sie können jedes beliebige Buch über Kant aufschlagen und werden im Grunde bestätigt finden, daß die Biographen einen Abriß des Lebens in dieser Weise schildern. Ich halte das für völlig falsch. Ich glaube, daß wir sehen müssen, daß Kant eben doch unter sehr beschränkten und ärmlichen Bedingungen aufgewachsen ist. ... und hat so meine ich, einen sehr schweren Kampf durchstehen müssen, um überhaupt das Studium absolvieren und die Position des Privatdozenten an der Universität erreichen zu können, dieser Kampf ist immer auch verbunden gewesen mit einer extremen Disziplinierung, weil er physisch außerordentlich schwach war, seine Gesundheit war immer angegriffen, er hatte eine rachitische Brust, war klein und wirklich schwächlich, und man muß hinzufügen, daß er aufgrund seiner abnormen Intelligenz natürlich überall auf Widerstände stieß, weil er eben das Schulsystem, das System des rationalistischen Denkens, der lange Schatten von Leibniz ... für ihn permanent Anlaß war, Anstoß zu erregen, und sich in Widerspruch zu setzen gegen seine Zeit.

 

Sprecherin:

Die Philosophie seiner Zeit schien in einer ausweglosen Sackgasse und war im Streit verfeindeter Schulrichtungen gefangen. In Deutschland dominierte in der Nachfolge von Leibniz der Rationalismus, den Christian Wolff in ein dogmatisches Schulsystem gezwängt hatte. Die Rationalisten hielten sich im Reich der reinen Logik und der metaphysischen Spekulation auf. Dort ergingen sie sich in endlosen Begriffszergliederungen und scholastischen Schlußfolgerungen, ohne sich um Fakten und äußere Erfahrung zu kümmern.

 

 

Sprecher:

Dagegen akzeptierte die konkurrierende Denkschule des Empirismus, der durch Locke und Berkeley in England entwickelt worden war, ledigliche jene Daten, die die Wahrnehmung liefert. David Hume erkannte nur die Erfahrung als Basis des Erkenntnisprozesses an, alles andere sei menschliche Zutat, die einen psychologischen Ursprung hat. Selbst den für die Wissenschaften grundlegenden Begriff der Kausalität, also den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, betrachtete Hume als eine Erfahrungstatsache - anders gesagt: als bloße Wahrscheinlichkeit, an die sich der Mensch gewöhnt und die er unzulässigerweise zu einem Naturgesetz erhoben habe.

 

Sprecherin:

Kant unterwarf sich nicht dem herrschenden Wolffschen System, sondern trug in seinem Kopf den Streit der Schulen aus. Er studierte Hume, er setzte sich mit Rousseau auseinander. Und außerdem arbeitete er den wissenschaftlichen Erkenntnisstand seiner Zeit auf, vor allem in der Mathematik und den Naturwissenschaften - eine enorme Leistung, wie Thomas Macho, Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin, betont:

 

O-Ton, Thomas Macho:

Es ist natürlich so, daß Kant in seiner Philosophie die Wissenschaft - natürlich wie auch Hegel und andere - auf eine Weise ernst nehmen konnte, wie das gegenwärtigen Philosophen schon aufgrund der Komplexität der Wissenschaften, mit denen sie zu tun haben, sehr schwer fällt. Ich bewundere immer die Aufmerksamkeit, die Anschlußfähigkeit, die Kant in seiner Theoriebildung den zeitgenössischen wissenschaftlichen und natürlich auch naturwissenschaftlichen Entwicklungen gewidmet hat, ich bewundere immer wieder diese Universalgelehrtenkompetenz, die Kant bis heute auch als Mythos zu vermitteln vermag.

 

Sprecher:

Kants Antwort auf die Krise der Philosophie ließ lange auf sich warten. Er war schon 57 Jahre alt, als er nach Jahren des Schweigens das erste seiner drei Hauptwerke, die Kritik der reinen Vernunft, veröffentlichte. Der Titel Kritik ist in seinem alten Wortsinn zu verstehen - Unterscheidung eines richtigen von einem falschen Gebrauch der Vernunft. Geprüft werden soll, was die Vernunft dem Menschen an Wissen und moralischer Orientierung bieten könne und was nicht.

 

Sprecherin:

Kants Bilanz wirkt zunächst ernüchternd: Wir können die Dinge nur insoweit erkennen, wie sie im Rahmen unserer Anschauung und unseres Verstandes Gestalt annehmen. Wie der Baum an sich ist, wissen wir nicht - salopp gesprochen, für einen Marsbewohner mit anderen Sinnen und anderen Denkformen enthüllt sich der Baum vielleicht ganz anders - sehr wohl aber wissen wir, wie sich der Baum als Gegenstand unserer Erfahrung präsentiert.

Kant verneint also nicht die Erkennbarkeit der Welt, er definiert sie vielmehr völlig neu, und zwar vom menschlichen Subjekt her: das ist die kopernikanische Wende in der Erkenntniskritik, Erkenntnis wird nicht mehr vom Gegenstand, vom Objekt her bestimmt, sondern von der menschlichen Erkenntnisart her. Wahrheit gründet in der Subjektivität, in der Vernunft des Menschen.

 

Sprecher:

Die Wende war revolutionär für das philosophische Denken. Aus der Prüfung der Vernunft durch die Vernunft, aus dieser Selbstreflexion erwuchsen ein neuer Stolz und eine bislang ungekannte  Autonomie. Die Vernunft hatte sich zum neuen Souverän erhoben, sie bestieg in der Aufklärung gleichsam einen Thron, vor dem die Welt und die Dinge zu erscheinen haben. Dieser Souveränitätsanspruch der Vernunft aber hat in unserem Jahrhundert seinerseits Kritik wachgerufen und den Verdacht genährt, daß die Vernunft seit der Aufklärung und nicht zuletzt durch Kant einen überzogenen Herrschaftsanspruch für sich reklamiert.

Verdacht geweckt hat insbesondere das Machtverhältnis gegenüber der Natur, wie Kant es entwirft, wenn er schreibt:

 

Sprecherin:

"Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien .... in der einen Hand, und mit dem Experiment ... in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." Ein solches Herrschaftsmodell, demzufolge die Natur vor den Gerichtshof der Vernunft zitiert wird, wo man - wie Kant an dieser Stelle weiter schreibt, die Natur nötigen müsse, auf die Fragen der Vernunft zu antworten, - ein solches Herrschafts- und Gewaltverhältnis, wie es in den Sätzen Kants angelegt ist, stößt heute angesichts der zunehmenden Naturzerstörung und Bedrohung der Grundlagen des Lebens auf Kritik. Thomas Macho:

 

O-Ton, Thomas Macho:

Ja, in mancher Hinsicht scheinen sie verdächtig, und in mancher Hinsicht auch zurecht verdächtig, dabei darf man freilich nicht übersehen, daß dieser Kantische Satz vom Gerichtshof nicht so sehr einer ist, der sich sozusagen präskriptiv an die Natur richtet, also die Natur sei jetzt die 'ancilla' - die Magd der Wissenschaft und habe sich dieser zufügen, als vielmehr eine sehr genaue Beschreibung von Experimentalpraktiken und deren immanenten impliziten Logiken darstellt. Naturwissenschaftler verfahren tatsächlich in dieser Weise mit Natur und müssen es in gewisser Hinsicht auch so tun, wie Kant das mit seinem Gerichtshof-Exempel darstellt, und die Frage ist, ob wir ihm sozusagen nicht zuviel zumuten, wenn wir dieser Beschreibung einer gewissen Praxis auch so einen imperativischen sozusagen Aufforderungscharakter beimessen, so als wolle er nicht nur naturwissenschaftliche Praxis beschreiben, sondern auch sagen wie der richtige, angemessene Umgang mit der Natur im allgemeinen aussehen muß.

 

Sprecher:

In der Tat reflektiert sich bei Kant das naturwissenschaftliche Vorgehen, wie es sich seit Bacon und Galilei formierte. Die Wissenschaft hat mit Experiment und Gesetzeshypothesen, gestützt auf die Mathematik die Natur zu einem Objekt degradiert, dem kein Eigenrecht, gleichsam keine eigene Stimme mehr zuerkannt wird. Kant hat die Methode nicht erfunden, aber er formuliert und legitimiert die erkenntnistheoretische Grundlagen der wissenschaftlichen Entwicklung, die im Horizont des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht mehr als unschuldig gelten darf. Die wissenschaftlichen Erfolge sind unbestritten, aber in ihrer Herangehensweise bezeugt die Wissenschaft der Natur gegenüber keinerlei Respekt. Theoretische und ethische Perspektiven wurden von der Aufklärung systematisch entkoppelt. Natur wird erkannt aber nicht zugleich in ihrem Eigenwert anerkannt.

Volker Gerhardt von der Berliner Humboldt-Universität nimmt Kant allerdings gegen diese Kritik in Schutz:

 

O-Ton, Volker Gerhardt:

Also ich verstehe diese Kritik. Aber ich halte sie für völlig unbegründet. Wir können gar nichts anderes tun als unsere Fragen zu stellen, wenn wir Wissenschaft treiben, auch das tun die Kritiker Kants, sie gehen von ihren Erfahrungen aus und machen sich ihre Sorgen über die Natur. Und ich denke, es ist auch ganz angemessen danach zu fragen, wie wir die Grundlagen der Natur erhalten können, so daß unser Leben auch im Zusammenhang mit dem Leben von allem anderen eine Zukunft hat, das steht aber nicht im Konflikt zur wissenschaftlichen Frage, wie etwa ganz bestimmte Abläufe gesetzlicher Art in der Natur aufzuzeigen und wie sie zu verstehen sind. Und nur darauf ist Kants Metapher vom Gerichtshof der Vernunft gemünzt. Wir stellen die Fragen, niemand stellt sie sonst ... genau das hat Kant versucht, in seinem wissenschaftstheoretischen Ansatz vorzuformulieren, und dabei ist überhaupt nicht ausgeschlossen, daß wir in der Natur etwas erkennen, was uns auch auf unsere Abhängigkeit von ihr aufmerksam macht. Gerade das ist ja auch die  - wie ich finde - wegweisende Entdeckung, die er nach der Kritik der reinen Vernunft und nach der Kritik der praktischen Vernunft in seiner dritten Kritik vorführt, im Zusammenhang seiner - das ist eine umständliche Formulierung - teleologischen Urteilskraft. Tatsächlich haben wir dort eine Theorie der lebendigen Natur, eine Theorie des Organismus. Wir sind selber Organismen und als Organismen gehören wir in den organischen Zusammenhang der ganzen Natur, man kann also ohne Übertreibung sagen, daß Kant in seiner dritten Kritik genau den Naturzusammenhang zu denken versucht hat, in den wir selbst mit unsren Fragen hineingehören, und den wir nur auf Gefahr unserer eigenen Existenz hin antasten dürfen, wenn wir es zu weit tun, zerstören wir uns selbst.

 

Sprecherin:

Kant selbst spürt den Riß im neuzeitlichen Denken zwischen Natur und Geist, zwischen Verstand und Sinnlichkeit, den die Aufklärung noch vertieft. Auch seine eigene Philosophie setzt diese Aufspaltung fort, wenn sie den Menschen einerseits als Naturwesen reflektiert, das der Notwendigkeit unterliegt und den Gesetzen der Natur unterworfen ist, aber auf der anderen Seite den Menschen als Vernunftwesen begreift, dem Freiheit und moralische Selbstbestimmung zukommen. Seine dritte Kritik, die "Kritik der Urteilskraft", unternimmt den Versuch, beide Seiten zu versöhnen, und zwar auf dem Feld des Ästhetischen, wo es weder um Naturerkenntnis noch um moralische Prinzipien geht. Die Idee der Versöhnung hat die Romantik aufgegriffen, und bis  heute begleitet die Kunst jene Utopie, daß in ihr Freiheit und Notwendigkeit, Verstand und Sinnlichkeit in ein ungezwungenes Zusammenspiel treten können.

 

Sprecher:

Die Aufklärung, das wird deutlich bei Kant, setzt eine seltsame Dialektik in Gang. Je mehr sie den Menschen als Vernunftwesen bestimmt, und je mehr der Mensch sich selber dem Anspruch unterstellt, sein Leben rational zu ordnen, desto dunkler und unheimlicher dünken ihm nun jene Bereiche von Sinnlichkeit, Gefühl und Phantasie, wo diese rationale Kontrolle nicht greift, wo der Mensch sich selber entgeht. Das Licht der Aufklärung wirft Schatten, es erzeugt wider Willen dunkle Zonen des Unheimlichen, Unbewußten und Abgründigen.

Thomas Macho erläutert diese Rückseite der Aufklärung.

 

O-Ton, Thomas Macho:

Auf der anderen Seite, und damit komme ich ein bißchen auf eine Schattenseite, wobei diese Schattenseite keine ist, die ich jetzt nicht sofort dialektisch einebnen wollte, auf der anderen Seite kann man sagen, ist auch gerade dieser Versuch der Aufklärung bestimmte Bezirke neu zu beleuchten zu erhellen, einer gewesen, der Dunkelzonen mit erzeugt hat. Zum Beispiel hat die Entdeckung des Subjekts, des freien Willens, die Forderung nach der Mündigkeit, nach der Selbstverantwortlichkeit, überhaupt erst so etwas wie romantische Naturphilosophie, die Entdeckung der Abgründe des Unbewußten, die Entdeckung von Trieben, der Abgründe, die hinter dem Subjekt sich zu realisieren beginnen, ermöglicht. In gewisser Hinsicht ist die andere Seite ... der Kantischen Vernunftkritik und der Kantischen Subjektphilosophie natürlich auch eine, in der das Subjekt als das abgründige und bodenlose schlechthin sichtbar wird, das keineswegs nur rationalen, sondern einer Fülle von irrationalen, z.T. grauenvollen Antrieben unterworfen bleibt. Dieser Zusammenhang von Transzendentalphilosophie und romantischer Naturphilosophie, in der das Andere benannt als Unbewußtes, benannt als Trieb, benannt als Schicksal Gestalt annimmt, das ist ein Zusammenhang, den man nicht auseinanderreißen darf.

 

Sprecherin:

Die Frage, welche Rückseite der Herrschaftsanspruch der Vernunft enthält und welche Probleme der Mensch sich dabei einhandelt, stellt sich keineswegs abstrakt, sondern ganz konkret auch im Leben der Philosophen selber. Die Brüder Böhme - Gernot Böhme ist Philosophieprofessor an der Technischen Universität Darmstadt, Hartmut Böhme lehrt Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität - haben in einem aufsehenerregenden Buch mit dem Titel Das Andere der Vernunft Leben und Werk Immanuel Kants in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung gerückt und sind der Frage nachgegangen, wie es um die Schattenseite eines vernunftgeleiteten Lebens bei Kant selber bestellt ist. Dazu Hartmut Böhme:

 

O-Ton,  Hartmut Böhme

Man könnte als Beispiel natürlich nehmen die Tatsache, daß Kant niemals in seinem Leben Königsberg hat verlassen können. Was bedeutet das eigentlich, wenn jemand Reiseromane, Reiseberichte, wie sie im 18. Jahrhundert geschrieben werden, gierig verschlingt und nicht von der Stelle kommt. Das hat etwas mit der Begegnungsangst zu tun, die auf Reisen immer entsteht, mit dem Unvorhergesehenen, dem worüber man nicht mächtig ist, mit dem Fremden, mit dem Beunruhigenden, vielleicht auch mit Situationen der Gefahr oder psychischen und kognitiven Irritierung. Königsberg ist gewissermaßen die Königsburg, die befestigte und uneinnehmbare Burg der Rationalität, die sich allerdings auch bestimmten Gefahren der Verunsicherung gar nicht mehr aussetzt. Dafür braucht man nicht nur eine bestimmte Form der Seßhaftigkeit, wie sie Kant gewählt hat, sondern auch einer internen Ritualisierung des Alltags.

 

Sprecher:

Es gibt unzählige Anekdoten über Kant. Seine Marotten, seine Zwanghaftigkeiten und Rituale, sind von Zeitgenossen und Biographen reichlich kolportiert worden, die Überpünktlichkeit seiner alltäglichen Spaziergänge, so daß die Menschen in der Umgebung ihre Uhr nach dem Professor Kant stellen konnten. Aber gemeinhin werden biographische Anekdote und philosophische Aussage in keinen Zusammenhang gebracht. Gernot und Hartmut Böhme je­doch studieren Kant ge­rade als jemanden, der seine Vernunftphilo­sophie auch gelebt hat.

 

 

O-Ton,  Hartmut Böhme

Wir wissen, daß Kant sein Leben nach festen Mustern, die unumstößliche Geltung beanspruchten, eingerichtet hat, daß er bis dorthin, daß Bäume vor seinem Fenster wuchsen, irritiert wurde von Dingen, die ihn in seiner Arbeitsdisziplin störten. Das zeigt, daß hier ein philosophischer Arbeitstyp auftrat, der sich abschirmen mußte gegenüber Welt, gegenüber Erfahrung, gegenüber Fremdheit, die von außen wie von ihnen drohte. Und wenn man nun sagt, daß Philosophie ja nicht nur eine Theorie des Erkennens und des Ethischen enthält, sondern Philosophie von alters her, nämlich auch von Platon her, eine Form der Praxis ist, könnte es sinnvoll sein zu fragen, ob es zwischen den theoretischen Strukturen einer Philosophie und der gelebten Praxis des Philosophen Zusammenhänge gibt. Diese Zusammenhänge haben wir versucht aufzuzeigen, weil es uns nicht darum ging, die theoretische Philosophie Kants infragezustellen, sondern vielmehr diese Philosophie zu benutzen als ein Paradigma der Ausbildung eines bestimmten Menschentypus. Und Kant hat in seiner Person auch diesen Menschentypus auch repräsentiert, d.h. er ist Denker zugleich einer Philosophie wie auch ihr Repräsentant. Und das macht auch den Menschen Kant für uns bedeutsam.

 

Sprecherin:

Kant ist der Prototyp jenes Vernunftmenschen, der im Drang nach Selbstbestim­mung seine spontanen Regungen und Gefühle unter eine polizeiförmige Aufsicht stellte. Kant war unglücklich, litt unter Depressivität, hatte Suizidgedanken. Im Alter äußerte er mehrfach, daß er um keinen Preis sein Leben - so wie es war - wiederholen möchte.

Ungelebtes Leben macht krank. Der Körper, der ganz und gar von ei­nem Ver­nunft-Ich in Dienst genommen und instrumentalisiert werden soll, widersetzt sich, legt sich gleichsam quer und produziert Symptome. Kant, der doch absolu­ter Herrscher über seinen Körper sein will, redet über nichts so oft und so ausgiebig wie über sei­nen Leib. Kant ist neben vielen anderen Gelehrten ein Opfer der Hypochondrie, die gerade im 18. Jahrhundert zu einer regelrechten Modekrankheit wurde. So wird der Vernunftmensch gleichsam von sei­nem ver­drängten Leib und von den unterdrückten Anteilen der eigenen Persönlichkeit hinterrücks wieder eingeholt. Das läßt sich anhand zahlreicher Anekdoten belegen meint der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme:

 

 

 

O-Ton,  Gernot Böhme:

Man kann anhand dieser Anekdoten auch beispielsweise zeigen, daß Kant im Grunde ein außerordentlich sensibler, empfindsamer Mensch gewesen ist, der aber zugunsten einer auf Prinzipien gegründeten Lebensform, diese Empfindlichkeit und Empfindsamkeit ständig zurückgedrängt hat und beständig geknebelt hat, möchte ich sagen. Es gibt also Anekdoten, mit welcher Empfindsamkeit er einen Vogel etwa hat sehen können, es gibt eine Geschichte darüber, wie stark ihn das Zerbrechen eines Glases emotional erschüttert hat. An diesen Anekdoten sieht man aber, daß er im Grunde es nicht in sein Leben hat integrieren können. Seine Beziehung zur Natur war eben als Vernunftphilosoph eine Beziehung der Äußerlichkeit, er konnte gerade die Empfindsamkeit gegenüber der Natur nicht in seine Philosophie einbauen und so ein Alltagsereignis wie das Zerbrechen eines Glases zwang ihn gewissermaßen durch rituelle Akte es von sich zu distanzieren: das Glas wurde im Garten vergraben, gewissermaßen in einem Akt der Beerdigung und der Distanzierung.

 

Sprecher:

Rituale und Inszenierungen braucht der Mensch, wo er nicht mehr zwanglos Grenzen überqueren kann, wo er den Kontakt mit dem Anderen - sei es ein Mitmensch, seien es andere Seiten in ihm selbst - als problematisch und identitätsgefährdend erlebt. Rituale sollen angstbesetzte Passagen und heikle Übergänge sichern. Aber die Angst des Vernunft-Subjetks, wie es die Aufklärung entworfen und wie es Kant zu leben versucht hat, ist in großen Teilen selbstproduziert. Gerade weil der Vernunftmensch völlig souverän sein will, darf er sich auf nichts anderes mehr einlassen, fürchtet er, überall in Abhängigkeiten zu geraten.

 

Sprecherin:

Immer mehr sucht das Vernunft-Ich seine Größe durch Rückzugsmanö­ver zu ret­ten: Es errichtet Kontaktsperren, kontrolliert Grenzen, schottet sich mehr und mehr ab - gegenüber den Regungen des Lei­bes, den Tagträumen und Phantasien, den spontanen Aufwallungen der Gefühle, und natürlich gegen die tatsächliche Angewiesenheit auf andere Menschen. Über diesem Rückzug in die Einsamkeit ge­rät die vermeintliche Souveränität immer mehr zur traurig-komischen Farce. Dem Vernunftmenschen wird sein eigenes Konzept zur Falle. Das Le­bensvereitelnde und Selbstzerstörerische daran ist unübersehbar, gerade auch im Alltag von Immanuel Kant, wie Gernot Böhme, Philosoph an der Technischen Universität in Darmstadt illustriert:

 

O-Ton,  Gernot Böhme:

Sehr interessant ist zum Beispiel auch die Beziehung zu seinen Freunden. Kant war eigentlich jemand, der sehr lebhaft am leben seiner Freunde teilnahm. Aber es wird eben berichtet, wenn seine Freunde krank waren, schickte er mehrmals am Tag den Diener hin, um zu hören wie es ihnen geht, er selbst besuchte sie nie. Und wenn einer von ihnen gestorben war, dann hieß es bei ihm, man solle die Toten den Toten überlassen und nicht weiter darüber reden. Also man sieht diese Empfänglichkeit, aber gleichzeitig dieses Distanzieren und beständige Von-sich-abstoßen dieses Bereiches. Insofern ist Kant jemand, der unseren Respekt verdient, weil er auch in dem Sinne ein Philosoph war, als er eine philosophische Lebensführung geführt hat, als er sein Leben auf rationale Prinzipien gestellt hat, aber gleichzeitig jemand, der in seiner Biographie das Dysfunktionale dieser Lebensform demonstriert hat, nämlich um es noch einmal zu wiederholen, daß das gewünschte Ziel, nämlich Freiheit, Unabhängigkeit, sogar Sorglosigkeit und Glück, also die stoischen Ziele, die ja Kant hatte, gerade nicht erreicht hat, sondern im Grunde gelitten hat unter seinem Körper, beständigen Abwehrreaktionen gegenüber seinen Bedürfnissen und seiner Emotionalität gelebt hat.

 

Sprecher:

Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Autonomie, wie sie Kant und die Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben haben, sind für den Menschen wertvoll. Aber das Ideal des autonomen Menschen orientiert sich an einer überzogenen Souveränität, die dem Bild Gottes der theologischen Tradition entlehnt ist. Das verkannte theologische Erbe, dessen Maßstab den Menschen überfordert, hat die fatale Konsequenz genau ins Gegenteil umzuschlagen: Der Vernunft­mensch möchte sich seiner selbst bemächtigen und wird sich immer unheimlicher und fremder. Er will sich immer ra­tionaler und wird sich immer irrationaler. Diesen dialekti­schen Umschlag hat die Vernunft mitzuverantworten. Denn in dem Willen zur Auto­nomie hat sie den zwanglosen Grenzverkehr mit dem Anderen abge­brochen. Sich selber überlassen, ohne Austausch mit der Vernunft, werden aber Phantasie, Gefühl und Sinnlichkeit irra­tionaler, als sie es eigentlich sein müßten. Eine Vernunft, die im­mer weniger Anderes bei sich duldet, sieht sich von immer mehr Fremdheit um­ringt. Dieses Fremde ist die Wiederkehr des verdräng­ten Anderen. So schafft die Vernunft selber Unbewußtes und ver­mehrt jenes, wie Freud sagt, "innere Aus­land der Seele".

 

Sprecherin:

Das Buch der Brüder Böhme ist sicherlich eines der spannendsten und provozierendsten Bücher, die sich vor dem Hintergrund der Frage, wie es um die Vernunft heute bestellt ist, mit Kant und der Aufklärung auseinandergesetzt haben. Es führte aber auch zu Fehllektüren, von denen sich die Autoren distanzieren:

Die einen betrachteten das Buch als eine Art Psychoanalyse des Individuums Immanuel Kant. Die Psychoanalyse eines Menschen allein auf der Grundlage von Texten ist aber weder möglich noch sinnvoll. Man würde sich damit einseitig auf die Auskunft des Geschriebenen stützen, ohne zu bedenken, daß das Schreiben selber ein mögliches Symptom, eine Zwangshandlung sein kann, die den Blick des Analytikers irreführt.

Andere glaubten, die Brüder Böhme wollten die Kantische Philosophie widerlegen. Beides war nicht ihr Anliegen. Es ging vielmehr darum, das Verhältnis der Vernunft zu ihrem Anderen - sei es äußere Natur, sei es die innere Natur des Menschen, also Sinnlichkeit, Gefühl und Phantasie - zu befragen und dabei exemplarisch an Kant Vernunftphilosophie und rationale Lebensform gemeinsam in den Blick zu nehmen.

 

Sprecher:

In dieser Perspektive zeigt Kant das Profil einer spezifisch modernen Existenz, nicht was seinen ritualisierten Gelehrtenalltag angeht, wohl aber in dem Willen zu einer vernunftgelenkten selbstkontrollierten Lebensführung.

Volker Gerhardt, Philosoph an der Humboldt-Universität in Berlin, entdeckt jedoch in seiner neuen Kant-Untersuchung hinter dem modernen, einen antiken Wesenszug bei Kant.

 

O-Ton, Volker Gerhardt:

Das was Kant als Position formuliert, ist die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, die wir als Menschen immer schon mit einbringen, wenn wir überhaupt darangehen, eine eigene Kultur aufzubauen. Was er in seiner Vernunftposition artikuliert, ist nur jene alte Beziehung des Menschen zu seiner Natur, die er braucht, um überhaupt mit Selbstbewußtsein, mit dem Anspruch überhaupt eines eigenen Wollens überleben zu können. Und insofern bin ich auch heute gar nicht mehr so sehr davon überzeugt, daß Kant in seiner Position etwas spezifisch Modernes zum Ausdruck bringt, ich glaube viel eher, daß er, in dem, was er artikuliert, den Geist des antiken Denkens aufnimmt, und habe den Eindruck, daß wir in unseren Überlegungen zu Kant, das ursprünglich schon mit angelegte sokratische Element seines Denkens stärker betonen müssen. ... Und ich glaube, daß es Kant darum ging, diesen Umkreis des eigenen menschlichen Denkens zunächst einmal in seiner sehr begrenzten Reichweite abzustecken und in seiner Eigengesetzlichkeit zu beschreiben. Und das schließt in keinem Punkt aus, daß man auf diese Weise zu eigenen Einsichten kommt, die uns wiederum zeigen, wie sehr unser Bewußtsein, unser Anspruch auf eigene Lebensführung, selbst auf Imperative, die wir aus unserer Einsicht uns selbst zu geben versuchen, fast in allem abhängig bleiben, von der uns umgebenden und der in uns wirkenden Natur. Gerade dies - das würde ich noch einmal betonen - zeigt Kant in seiner dritten Kritik, wo er deutlich macht, daß alles in uns Ursache und Wirkung in wechselseitiger Weise ist, und daß dies nicht nur für den Organismus selbst gilt, sondern auch für den Zusammenhang, in dem der Organismus mit der natürlichen Umwelt steht, und er uns vermutlich wie kaum ein anderer Denker vorher darauf aufmerksam gemacht hat, daß wir Teil dieser Erde sind, und daß unser Verstand, unsere Vernunft, nur dann wirksam sein können, wenn sie sich ihrer lebendigen Einbindung in den Kontext des Lebens bewußt werden.

 

Sprecherin:

Kant ist aktuell. Vor allem die dritte Hauptschrift Kants, die Kritik der Urteilskraft lädt zu einer neuen Rezeption ein. Das hat besonderen Grund: Die Kritik der Urteilskraft ist zu großen Teilen der Untersuchung des Ästhetischen gewidmet. Dabei geht es Kant aber nicht um die Kunst als solche, er möchte vielmehr auf dem Feld des Ästhetischen exemplarisch die Frage abhandeln, wie man auch dort vernunftbestimmt urteilen kann, wo sich der Einzelfall nicht unter eine generelle Regel oder einen allgemeinen Begriff subsumieren läßt. Genau das ist bei Geschmacksurteilen der Fall. Was schön ist und was nicht, darüber läßt sich bekanntlich sehr wohl streiten. Geschmacksurteile beanspruchen allgemeine Gültigkeit, ohne daß ihnen objektive Wahrheit zukommt, man erwartet, daß andere das Urteil nachvollziehen können, auch wenn es nicht im strengen Sinne beweisbar ist.

 

Sprecher:

Kant spricht in diesem Zusammenhang von einer "erweiterten Denkungsart", die es vermag "an der Stelle jedes anderen zu denken". Diesen Gedanken kann man heute wieder aufnehmen. Wie kommt ein reifes Urteilen zustande, wie wir es in politischen Dingen und überhaupt in Fragen des menschlichen Handelns benötigen, wenn wir zu Einschätzungen und Entscheidungen kommen müssen. Vernunft ist nicht allein Prinzipienwissen, sie verlangt auch Urteilskraft, und zur Urteilskraft gehören Klugheit und Einbildungskraft hinzu, die Fähigkeit, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen.

Das sind entscheidende Fragen in der Diskussion um eine Theorie des menschlichen Handelns und bei der Neubestimmung des Politischen.

 

Sprecherin:

Aber auch auf andere Werke Kants kommt man gegenwärtig mit Interesse zurück. Wie steht es um seine Bestimmungen von Raum und Zeit als vermeintlich unveränderlichen Anschauungsformen in einer Kultur der Beschleunigung? Die Geschwindigkeit der Informationstechnologien transportiert Bilder und Nachrichten in Echtzeit, dabei überspielt sie die zeitliche Ordnung des Vorher und Nachher genauso, wie die weltweite Vernetzung, das Global Village die räumliche Orientierung des Hier und Dort, des Nah und Fern aufhebt. Die alten Fragen nach Zeit und Raum, die Kants Werk beantwortet, stellen sich auf völlig neue Weise, wie die Theoretiker der Tele-Gesellschaft, etwa Jean Baudrillard oder Paul Virilio behaupten.

 

Sprecher:

Während zu Beginn des  Jahrhunderts, die Fortsetzung des Kantischen Denkens im Neukantianismus ein verbrauchtes und erstarrtes Philosophieren zu sein schien, und andere Ansätze -  Phänomenologie, Marxismus und analytische Philosophie - innovativ hervortraten, lassen sich gegen Ende dieses Jahrhunderts, neue und überraschende Anschlüsse an Kants Denken beobachten, wie Thomas Macho von der Berliner Humboldt-Universität unterstreicht.

 

 

 

 

O-Ton, Thomas Macho:

Das hat einen guten Grund. Weil ganz viele theoretische Bewegungen, die zu Anfang dieses Jahrhunderts noch einmal losgebrochen sind, von der Kulturwissenschaft, die ich selber vertrete bis zur Psychoanalyse und weiteren neuen Wissenschaften wiederum mit Kant angefangen haben, es sieht tatsächlich so aus, als wäre Neokantianismus eine fruchtbare Geisteshaltung für die Entstehung von neuen wissenschaftlichen Konfigurationen, es würde mich gar nicht wundern, wenn in zwanzig Jahren jemand nachweist, daß auch Foucault oder Deleuze oder Virilio entscheidende Impulse nicht nur von Hegel sondern auch von Kant empfangen haben.

 

Sprecherin:

Kant bleibt aktuell, sein Bild jedoch wandelt sich.

Volker Gerhardt wird in seinem in Kürze erscheinenden Buch mit dem Titel "Selbstbestimmung" seine eigene Neuinterpretation Kants vorlegen, eine überraschende Sicht, die Kants Werk vom Image der Prinzipienphilosophie löst und die darunter liegenden Gesichtszüge eines Denkens nachmodelliert, in dem Individualität die entscheidende Größe ist. Volker Gerhardt erläutert sein neues Kant-Verständnis:

 

O-Ton,  Volker Gerhardt:

Ich habe den Eindruck, daß wir im Hinblick auf die Interpretation der Kantischen Schriften vor einem - entschuldigen Sie das große Wort - Wendepunkt stehen, denn wir sehen in ihm inzwischen nicht bl0ß den Theoretiker der Vernunft, der alles nach den Gesetzen der Vernunft zu exekutieren versucht, sondern es tritt insbesondere in seiner Moralphilosophie der individuelle Duktus seines Denkens hervor.

Alle Welt kennt den kategorischen Imperativ, und es sieht so aus, als sei das ein unverbrüchliches verbindliches Gesetz für jeden. Sieht man aber genau zu, dann bezieht sich der Kantische Imperativ - Handle so, als ob die Maxime deines Handelns ein allgemeines Naturgesetz wäre' - so etwa eine Formulierung, doch nur auf die Maxime des Handelns eines einzelnen Menschen. Maxime heißt ein subjektives Gesetz, etwas, das ich mir nach eigener Einsicht gebe, so wie ich mich als Individuum in dieser Zeit unter diesen Handlungsbedingungen verstehe. Und ich habe natürlich für mich selbst den Anspruch nach einer Einsicht zu handeln, die andere nach Blick auf diese Lage auch handeln könnten, und unter der sie mich zumindest auch verstehen. Diese Verallgemeinerung, die eine große Rolle in der Kant-Interpretation gespielt hat, ist also nichts anderes als eine Klärung der Handlungsbedingungen für das Individuum. Und deswegen bin ich der Ansicht, daß wir Kants Imperativ heute viel stärker im Sinne nicht eines universellen Gesetzes interpretieren müssen, sondern eines individuellen Gesetzes. Also können wir in Kant insofern eine Modernität ausmachen, als er in einem viel größeren Ausmaß als ursprünglich vermutet ein Denker der Individualität ist.

 

Sprecher:

Kant drängte es, vor allem gegen Ende seines Lebens, die Vernunft nicht nur in ihren Prinzipien darzulegen, sondern auch engagiert in die Gesellschaft und in die Politik hineinzutragen. Vor gut 200 Jahren veröffentlichte er das philosophisch-politische Traktat  "Zum ewigen Frieden". Der Titel war bei aller Hoffnung eine - wie er selbst sagte - 'satirische Überschrift', die er dem Schild eines holländischen Gastwirtes entnommen hatte, auf der allerdings ein Kirchhof gemalt war. Nichtsdestotrotz rang Kant mit allem Ernst und Engagement mit der Frage, wie ein friedlicheres Zusammenleben der Staaten ebenso wie der Individuen möglich sei. Die Friedensschrift bildete einen seiner größten publizistischen Erfolge. Während sein Hauptwerk, die Kritik der reinen Vernunft erst sechs Jahre nach Erscheinen in die zweite Auflage ging, war das Traktat 'Zum ewigen Frieden' schnell vergriffen und wurde noch zu seinen Lebezeiten in zehn weiteren Ausgaben veröffentlicht.

 

Sprecherin:

Den Kern der Kantischen Friedensentwurfs, dem er die Gestalt damaliger Verträge verliehen hat, bilden drei sogenannte Definitivartikel. Definitiv heißen diese Leitsätze, weil ihnen unbedingte Geltung zukommt und man noch unter den größten Schwierigkeiten und Gefahren an ihnen festhalten soll.

Der erste Definitivartikel lautet: "Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein."

 

Sprecherin:

Mit republikanischer Verfassung meint Kant eine Rechtsordnung in der Freiheit, Gleichheit und Gesetzlichkeit, wir würden sagen Demokratie und Rechtstaatlichkeit gewährleistet sind. Das scheint eine für uns heute fast selbstverständliche Forderung. Aber für Kant binden sich daran Überlegungen, die - im Blick auf den gegenwärtigen Krieg und Konflikt im Kosovo zu höchst brisanten Thesen führen. Volker Gerhardt:

 

O-Ton, Volker Gerhardt:

Kants Voraussetzung ist unter anderem, daß man nur dort einen garantierten Frieden zwischen verschiedenen Staaten erwarten kann, wo auch eine - wie er sagt - republikanische Verfassung gegeben ist, dort wo ein Staatswesen auch selbst nicht den Verfassungsprinzipien gehorcht, auf die es verpflichtet ist, dort wo Freiheit, Gleichheit, Gesetzlichkeit im Sinne einer funktionierenden Öffentlichkeit nicht gegeben sind, dort wird man schwer zu Vereinbarungen kommen, die man für verläßlich halten kann. ... Und wenn wir  ... daran denken, daß wir dieses Gespräch jetzt Ende März 1999 führen, und daß ein Krieg auf dem Balkan tobt, der meines Erachtens auch dieses Grundübel zur Bedingung hat, daß dort ein Staat ist, der nicht über eine rechtliche Verfassung verfügt, ein Staat, in dem schon lange keine freien Wahlen stattgefunden haben und hier ein Relikt einer - wie ich glaube - stalinistischer Herrschaft besteht, dann können wir sehen, wie wichtig es ist, die Kantischen Definitivartikel auch tatsächlich zur Beschreibung einer verläßlichen Situation, in der Frieden möglich ist, heranzuziehen.

 

Sprecherin:

Kant ist entgegen dem Klischee kein steriler Denker. Er konfrontiert in aller Entschiedenheit mit Gedanken, die in die Gegenwart hineingehören. Seine These ist aktuell: Die Philosophen sollen und werden nicht regieren, die Regierenden keine Philosophen sein, aber - wie Kant in seiner Friedensschrift in einem eigenen Artikel festgehalten hat: Der Staat solle seine Untertanen - die Philosophen - "stillschweigend ... dazu auffordern, "frei und öffentlich über die allgemeinen Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung" zu diskutieren.