Sprecher:
Drei große
Kränkungen hat die Menschheit im Laufe der Zeit vonseiten der Wissenschaft
erdulden müssen, schreibt Sigmund Freud. Durch Kopernikus verloren Erde und
Mensch ihre zentrale Stellung im Universum. Durch Darwin büßte der Mensch sein
Schöpfungsprivileg ein, indem er auf seine Herkunft aus dem Tierreich
verwiesen wurde. Und Freud selbst schließlich deckte auf, daß das menschliche
Ich nicht einmal Herr im eigenen Hause ist, daß vielmehr im Rücken von
Bewußtsein und moralischem Willen die Kräfte eines Unbewußten tätig sind.
Also weder Universum noch lebendige Natur ist auf den Menschen ausgerichtet,
und in vielen seiner Regungen und Reaktionen entgeht er obendrein auch sich
selbst. Diese Fremdheit des Menschen in der Welt, seine Ungeborgenheit und
Kontingenz, hat vor allem die Existenzphilosophie reflektiert: Marin Heidegger
nannte es die Geworfenheit, Albert Camus das Absurde unserer menschlichen
Existenz.
In der
Gegenwart ist es vor allem der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, der diese
Grunderfahrung des Menschen thematisiert als Phänomen der Gleichgültigkeit der
Welt. Was meint Kolakowski genau mit dem Satz: wir sind der Welt gleichgültig?
Dazu die Berliner Politologin Gesine Schwan, die u.a. eine
Kolakowski-Anthologie in Deutschland herausgegeben hat:
O-Ton, Gesine Schwan:
Er sagt,
stellen wir uns vor, wir seien gestorben, wir existierten nicht mehr, die Welt
wird daran überhaupt keinen Anteil nehmen, und damit meint er zunächst die
nicht-personale Welt, die Bäume, die Natur, das alles wird sich völlig
desinteressiert zeigen, an diesem Tod. ... Die Welt als solche gibt also keine
Antwort, sie ist unserem Bedürfnis nach Orientierung und Sinn gegenüber gleichgültig.
Und das ist für Kolakowski keine akademische Frage, sondern das ist eine ganz
tief existentielle Frage, weil in seiner Sicht die Menschen ohne eine Antwort
auf dieses Bedürfnis nicht existieren können.
Sprecher:
Doch was
können wir dieser Gleichgültigkeit der Welt entgegensetzen?
Unser Leben,
schreibt Kolakowski, verdankt sich Formen der Nichtgleichgültigkeit:
Beziehungen und Begegnungen mit anderen Menschen, die auf Solidarität und
Vertrauen, auf Liebe und Freundschaft basieren.
Kolakowski
verknüpft also das existenzialistische Motiv der Weltverlorenheit des Menschen
mit der sozialphilosophischen Frage nach zwischenmenschlicher Beziehung.
Deshalb hat er die Möglichkeit von Beziehungen, ihre Gefährdungen und
Zerstörungen sehr genau untersucht. Gleichgültigkeit bedeutet Verneinung von
Beziehung, und diese Verneinung potenziert sich nochmals im Haß. Der Haß
zerstört nicht allein die menschliche Beziehung zum Anderen, sondern auch die
zu sich selbst, er frißt sich derart ins Innenleben hinein, daß zuletzt der Haß
den Hassenden selber zersetzt. Über diese Zerstörung und Selbstzerstörung des
individuellen wie sozialen Lebens hat Kolakowski gesprochen, als er 1977 den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm:
O-Ton, Kolakowski:
Unsere
innerliche Integration entsteht aus dem Verkehr mit anderen, aus Vertrauen und
Freundschaft, nicht aus der auf sich selbst gerichteten, monadisch in sich
geschlossenen Leere des Ichs. Die allverzehrende Energie des Hasses macht jeden
Verkehr unmöglich, und dadurch desintegriert sie mich seelisch, noch bevor ich
fähig bin, "meinen" Feind zu desintegrieren. In diesem Sinn darf man
sagen, daß im Haß leben heißt: im Tod leben ... Totalitäre Systeme und
Bewegungen jeder Prägung brauchen den Haß weniger gegen äußere Feinde und
Bedrohungen als vielmehr gegen die eigene Gesellschaft; weniger, um die
Kampfbereitschaft zu wahren, sondern mehr um diejenigen, die sie zum Haß
erziehen und aufrufen, innerlich zu entleeren, geistig kraftlos und dadurch
widerstandsunfähig zu machen.
Sprecher:
Kolakowski
sagte dies gegen den totalitären Charakter der kommunistischen Herrschaft,
gegen ein System, das sich aus Feindbildern, Mißtrauen und wechselseitiger
Überwachung nährte, das fortbestand, indem es die Menschen gegeneinander
ausspielte. Kolakowskis Rede galt aber auch der Bundesrepublik Deutschland.
1977 war der traurige Höhepunkt des RAF-Terrors: die Entführung von
Hans-Martin Schleier, das Geisel-Drama in Mogadischu, der Selbstmord der
RAF-Häftlinge in Stammheim. Kolakowski sprach zu einer bundesdeutschen
Gesellschaft, die sich im Klima der Verfolgung verhärtete und verzerrte, weil
sie Haß mit demokratischer Wehrbereitschaft verwechselte.
Doch nicht
zuletzt reflektierte Kolakowskis Rede die Einsichten und Erfahrungen der
eigenen Lebensgeschichte. Er hatte sich als junger Philosoph nach dem Krieg für
den Kommunismus engagiert und die Sozialautopie der klassenlosen Gesellschaft
verfochten, weil er glaubte, darin die revolutionäre Lösung für das Problem der
Gleichgültigkeit der Welt gefunden zu haben. Seine Geschichte ist in vielem
auch die Geschichte Polens: Leszek Kolakowski, 1927 in Radom geboren, stammt
aus einem liberalen Elternhaus, sein Vater war Rechtsanwalt, ein Freidenker mit
deutlichen Sympathien für den Sozialismus. Als kleines Kind verlor Kolakowski
die Mutter, als 14-jähriger auch den Vater. Landsleute hatten ihn verraten, die
Gestapo ermordete ihn. Der junge Kolakowski verbrachte die Zeit des Krieges bei
Verwandten in einem Landhaus, wo er, wie es heißt, die Bestände der großen
Bibliothek verschlang. Nach dem Krieg studierte er Philosophie und Theologie,
engagierte sich in der kommunistischen Jugendorganisation und wurde Mitglied
der Partei.
O-Ton, Gesine Schwan:
Er hat
begonnen seine Karriere, als junger Philosoph, als Assistent und junger
Professor, als Marxist, er war ein sehr engagierter, politisch engagierter
Philosoph, seine Grundwerte waren sicher humanistische Grundwerte, der
Sicherung der Freiheit und der Würde der Person, er sah damals im Marxismus das
intellektuelle Instrument, gegen das, was er damals scharf attackierte, den
Obskurantismus der katholischen Kirche in Polen zu Felde zu ziehen zugunsten
einer sozialistisch-revolutionären kommunistischen Partei, so begann es mit
Kolakowski.
Sprecher:
Kolakowskis
erste Phase ist also die eines militanten kommunistischen Marxisten, der sich
scharf und kenntnisreich mit der katholischen Theologie auseinandersetzte.
1952 maß er sich in öffentlichen Rededuellen mit Jesuiten, die, so heißt es in
Berichten, von seinen profunden theologischen Kenntnissen überrascht gewesen
seien. Es war eine Zeit, in der Kolakowski die Philosophie in den Dienst der
Politik stellte und die Wahrheit der Wirksamkeit unterordnete. Aber er machte
damals auch schon jene Erfahrungen, die ihn dann in Gegensatz zum System
bringen sollten, wie er später in einem Interview berichtete:
O-Ton,Kolakowski:
Mehrere
Erscheinungen erweckten bei mir und meinen Freunden Unruhe, ohne aber zur
entscheidenden Revision der politischen Einstellung zu führen. Ich erinnere
mich zum Beispiel der greulichen Empfindung, die auf uns die antisemitischen
und chauvinistischen Elemente in der Sowjetpropaganda 1949 ausgeübt haben.
Wobei wir aber glaubten, daß es sich nur um zeitliche Fehltritte handelt, die
bald überwunden sein müssen. Ich erinnere mich zum Beispiel auch an meinen
dreimonatigen Aufenthalt in Moskau 1950 mit einigen Freunden. Wir wußten nicht
viel vom Maßstab der polizeilichen Repression und wie weit das ganze Leben
durch das System der Konzentrationslager gebrandmarkt war, wir waren aber
erschreckt, wenn wir die Leute, die als Leuchten der sowjetischen Philosophie
und Sozialwissenschaften galten, sahen und ihr klägliches intellektuelles
Niveau, ihre unglaubliche Ignoranz und kindliche Mentalität beobachten konnten,
wenn wir der Zerstörung der russischen künstlerischen Kultur bewußt wurden.
Und doch glaubten wir immer, daß diese geistige Veränderung wohl einen tieferen
Sinn hat, daß sie ein notwendiger Preis des Fortschritts darstellt und
politisch gerechtfertigt sein darf. Und wir brauchten nur mehr Zeit und mehr
Erfahrung, um zu der einfachen Wahrheit zu kommen, daß die Gewalt die Gewalt
zeugt und keine Freiheit, daß durch Terror Terror ist und kein Weg zur
Gerechtigkeit, kurz daß die Mittel notwendigerweise den Sinn der Zwecke
bestimmen.
Sprecher:
"Das
Mittel heiligt den Zweck", sagte Kolakowski später. Kein noch so hehres
Geschichtsziel rechtfertigt den Einsatz von Gewalt und Unterdrückung. Und die
Unmenschlichkeit des Stalinismus entsprang nicht einer Folge zufälliger
Fehltritte und widriger Umstände, die Unmenschlichkeit war vielmehr System.
1956 wurden
in Polen solche bitteren Einsichten in das Wesen des Stalinismus laut.
Kolakowski, damals erst 29 Jahre alt, war einer der Wortführer der
antistalinistischen Proteste. Die Studenten fanden in ihm eine Leitfigur im
Kampf um geistige Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte. Der
Kampf markierte auch eine Zäsur in Kolakowskis philosophischer Entwicklung.
Er war nun nicht mehr Sprachrohr eines parteihörigen Marxismus, sondern fand zu
einer eigenen Stimme.
O-Ton, Gesine Schwan:
Die zweite
Phase begann etwa 1954/'55, also schon vor dem polnischen Oktober 1956, da hat
er angefangen, die stalinistischen Verkrustungen des Marxismus infragezustellen
und hat versucht, das was man einen marxistischen Revisionismus nennt, zu
formulieren. Im Kern bestand er, wie bei übrigens verschiedenen seiner Generation
darin, den sogenannten jungen Marx dem alten entgegenzusetzen, mit dem jungen
Marx den Stalinismus auszuhebeln, nach dem Motto: wir müssen schauen, was Marx
eigentlich und der Marximus wollte, er wollte die Befreiung des Menschen aus
der Entfremdung, er wollte eine allseits entfaltete Persönlichkeit schaffen
oder politisch ermöglichen, und das, was erreicht worden ist, ist das genaue
Gegenteil, und so wurde der junge Marx als kritisches Instrument gegen den
Stalinismus eingesetzt.
Sprecher:
Der Begriff
der Entfremdung spielte eine Schlüsselrolle bei Kolakowskis Kritik am Marxismus
und war schließlich auch entscheidend dafür, daß er sich völlig vom Marxismus
abwandte.
Die Marxsche
Vorstellung, daß der Mensch sich selbst verwirklichen und frei werden könnte
von Entfremdung, diese Vorstellung von der Aufhebbarkeit der Entfremdung hat
Kolakowski immer entschiedener zurückgewiesen.
Die Utopie
von der historischen Selbsterlösung des Menschen sei eine gefährliche Illusion,
sie schaffe, so Kolakowski, ein gefährliches Gemisch von Hoffnung und Haß, sie
nähre die Bereitschaft zur Gewalt gegen das Bestehende. Dieser messianistische
Zug im Marxismus und in jedem sozialutopischen Denken, das eine widerspruchsfreie
Gesellschaft verheißt, ist in Kolakowskis Augen verdächtig, dem Terror und der
Gewalt Vorschub zu leisten.
Entfremdet
ist der Mensch immer schon: deshalb ist der Begriff irreführend, statt von
Enfremdung ist von einer Fremdheit des Menschen auszugehen, die bestehen
bleibt, einer Gleichgültigkeit der Welt ihm gegenüber, die zwar zu bekämpfen,
im Kern aber nicht wegzuschaffen ist.
Kolakowski
steckte diese desillusionierende Einsicht auch in literarisches Gewand, in
Fabeln, Gleichnisse und Sketche. Sein erstes Theaterstück "Eingang und
Ausgang", es trägt den Untertitel: "Versuch einer optimistischen
Beckett-Polemik", wurde nach vier Aufführungen auf Beschluß des
Zentralkomitees vom Spielplan des Warschauer Athenäum-Theaters abgesetzt. Und
die 1957 entstandenen Geschichten "Der Himmelsschlüssel" durften erst
7 Jahre später in Polen veröffentlicht werden. Eine Begründung dafür gab es
nicht.
O-Ton, Kolakowski:
Die Zensur
pflegt nicht ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Aber wenn jemand versucht,
gewisse Konflikte, gewisse Antinomien des menschlichen Lebens als ewig
darzustellen, muß das selbstverständlich verdächtig erscheinen vom Standpunkt
einer Ideologie, die den Anspruch erhebt, auf alle möglichen Konflikte eine
Arznei zu liefern und die bestehenden Konflikte als Überbleibsel der
schlechten Welt von gestern behandeln zu dürfen.
Sprecher:
Die Kluft
zwischen seiner Philosophie und der Parteidogmatik wuchs unaufhaltsam. Den
Publikations- folgten Redeverbote, 1966 wurde er aus der Partei ausgeschlossen,
zwei Jahre später verlor er auch seinen Lehrstuhl für Philosophie an der
Warschauer Universität.
Kolakowski
ging in den Westen. Dort war er inzwischen jedoch so bekannt, daß ihm Not und
Anonymität eines typischen Emigrantenschicksals weitgehend erspart blieben.
Namhafte Universitäten in Kanada und in den USA beriefen ihn auf
Gastprofessuren. Seit 1970 wohnt er in Oxford, wo er zum Forschunsprofessor am
All Souls College ernannt wurde.
Vorher gab
es allerdings noch ein groteskes Zwischenspiel in Deutschland. Jürgen Habermas
hatte angeregt, Kolakowski nach Frankfurt auf den Adorno-Lehrstuhl zu berufen.
Die Studenten verhinderten das mit eben demselben Argument, mit welchem ihn
die östliche Parteidiktatur mundtot gemacht und vertrieben hatte, in einem
offenen Brief monierte die studentische Fachschaft "mangelnde
marxistische Linientreue".
Kolakowski
löste sich in der Tat mehr und mehr vom Marximus. Die Verabschiedung geschah
jedoch nicht polemisch, sondern in einer nochmaligen großen theoretischen
Auseinandersetzung. Kolakowski schrieb im Westen das dreibändige Werk Die Hauptströmungen des Marxismus. Es
ist ein Panorama des marxistischen Denkens von den Ursprüngen und Vorläufern
über die Klassiker Marx und Engels bis in die Gegenwart des neomarxistischen
Denkens, bis zur Frankfurter Schule, bis zu Marcuse und Bloch.
Kolakowskis
eigene Fragen gingen indes schon in eine andere Richtung und führten ihn zu
einer Neubewertung von Religion und Mythos.
O-Ton, Kolakowski:
Die
althergebrachte positivistische oder evolutionistische Prognose vom Absterben
der Religiösität zugunsten der wissenschaftlichen Weltauffassung, diese
Prognose scheint mir höchst unüberzeugend. Die augenscheinliche Abschwächung
der verschiedenen alten Formen der Religiösität, diese Abschwächung, die
natürlicherweise den Urbanisierungsprozessen folgt, verdient nicht, wie ich
glaube, als ein universales Gesetz der kulturellen Entwicklung zu gelten. Und
die Anfänge eines religiösen Wiederauflebens sind, glaube ich, zu beobachten.
Ich würde sagen, daß sich die Menschen nirgends auf so eine gänzliche Weise
selbst zu identifizieren wissen als in religiösen Symbolen. Und daß die
Bedürfnisse einer solchen Selbstidentifizierung nicht abgegeben oder beseitigt
werden kann. ... Jedenfalls ist für mich das religiöse Bewußtsein keineswegs
ein Gegenstand der Kuriosität oder der historischen Neugier oder ein Überbleibsel
der vergangenen Welt, sondern ein unabsetzbarer Teil der menschlichen Kultur.
Sprecher:
"Religion
ist das Opium des Volkes", hatte Karl Marx geschrieben, und damit das
religiöse Bewußtsein als ideologische Verblendung und Projektion von Ausbeutung
und Klassenstrukturen kritisiert.
Kolakowski,
der in seiner frühen Phase Religionsphilosophie trieb, um, wie Gesine Schwan
schreibt, der katholischen Kirche das Wasser abzugraben, bekundete hier nicht
nur seinen Respekt vor dem religiösen Bewußtsein, weil sich in ihm ein
fundamentales Bedürfnis äußert. Er ging noch weiter: Die religiöse Rückbindung,
ein Rekurs auf eine Transzendenz, sei notwendig: Der Mensch brauche einen absoluten
Haltepunkt, um die Sinnlosigkeit und Zufälligkeit der Existenz, d.h. die
Gleichgültigkeit der Welt aushalten zu können. Denn das menschliche
Grundbedürfnis nach Sinn, Integration und moralischer Ordnung geht über das
hinaus, was Wissenschaft und Vernunft an Gewißheit bieten können.
Hier wird
der Unterschied zwischen Kolakowski und Camus deutlich: Camus fordert, die
Grundlosigkeit der Welt und der eigenen Existenz auszuhalten, ohne in einem
unbegründbaren Glauben Anlehnung zu suchen, vielmehr einzig auf sich selbst
gestellt, für eine humanere Welt zu streiten. Diese Haltung hält Kolakowski
für nicht lebbar. Sie bedeute eine Überforderung des Menschen, die in Verzweiflung
oder aber in Zerstreuung ende.
Kolakowskis
philosophischer Positionswandel vom Marxismus zur Religionsphilosophie, seine
Neubewertung des Religiösen vollzog sich nicht abrupt. Der Wandel manifestierte
sich bereits in der wegweisenden Schrift "Die Gegenwärtigkeit des
Mythos", die schon in den 60er Jahren in Polen verfaßt, aber erst in den
70ern publiziert wurde.
O-Ton, Gesine Schwan:
Nachdem die
griechische antike Philosophie begonnen hat, den Mythos zugunsten der
Philosophie, also der rationalen metaphysischen Weltauslegung zu überwinden,
kehrt er, Kolakowski zum Mythos zurück. Er sagt, die Philosophie ist
gescheitert, wir brauchen aber Antworten, und Antworten können uns nur in
Mythen erteilt werden. Mythen sind Grunderzählungen über den Ursprung und über
den Sinn der Welt, Erzählungen, an die wir glauben, die uns persönlich ansprechen,
er nennt als Beispiele immer die jüdisch-christliche Tradition, also das Alte
und das Neue Testament als einen Mythos oder auch die Bhagavadgita, und diese
Mythen sind für ihn deshalb unverzichtbar, weil sie über das Medium des
Glaubens, der Liebe und der Hoffnung - und daß diese Trias eine christliche
ist, weiß Kolakowski natürlich - dem Menschen Wahrheiten vermitteln, Wahrheiten,
die dem Bedürfnis nach Orientierung und Sinn Genüge tun.
Sprecher:
Kolalowski
diskutiert nicht die Inhalte bestimmter Mythen. Sein Mythosbegriff ist mit
Absicht sehr offengehalten: Unter Mythos versteht er neben dem religiösen
Mythos, insbesondere der christlichen Überlieferung, auch philosophische
Mythen, z.B. das Höhlengleichnis oder die Ideenlehre Platons, - das, was
Lyotard die Großen Erzählungen genannt hat, metaphysische Konstruktionen, in
denen vom Ursprung und Ziel der Welt, von der Bestimmung des Menschen und den
Grundstrukturen des Zusammenlebens die Rede ist.
Der Mythos
stiftet Kolakowski zufolge den Menschen metaphysische Sicherheit, da er die
notwendige Sinngebung des Sinnlosen leiste. Der Mythos habe die Kraft, die
Gleichgültigkeit der Welt aufzuheben.
Doch die
Aussagen des Mythos entziehen sich argumentativer Begründung genauso wie einer
empirischen Prüfung. Der Mythos bindet den Menschen über einen Akt des
Glaubens, über eine nicht allein geistige sondern auch psychisch-emotionale
Annahme. "Die Hinwendung zum Mythos," schreibt Kolakowski, "ist
kein Wissen, sondern ein Akt totaler und zuversichtlicher Akzeptierung, die
kein Bedürfnis nach Rechtfertigungen erfährt".
Aber
bedeutet solche Teilhabe am Mythos nicht eine Selbstabdankung der Kritik und
eine Auslieferung an den Irrationalismus?
Myhtos ist
ein schwer belasteter Begriff. Wenn man bedenkt, welche unselige Rolle
mythische Vorstellungen im 20. Jahrhundert gespielt haben: die Blut- und
Bodenideologie der Nationalsozialisten, ihr Rassismus und die nationalistischen
Ideen, die heute wieder blutig aktuell sind - das alles hat zu soviel
Unterdrückung, Unmenschlichkeit und beispiellosem Terror geführt.
Viele haben
deshalb an Kolakowskis Plädoyer für den Mythos Anstoß genommen und ihm eine
"irrationale Kehre" vorgeworfen.
Zwei Punkte
gilt es allerdings zu bedenken, ehe man vorschnell Kolakowski des
Irrationalismus bezichtigt. Zum einen gilt: Kolakowski ist ein dualistischer
Denker, d.h. er entwirft eine Balance von Wissenschaft und Mythos, von Skepsis
und Glauben. So hat sich der Nicht-Katholik Kolakowski auch nie zu der Frage
geäußert, ob er selbst an Gott glaube. Die Balance zwischen Rationalität und
Mythos, Gewaltenteilung sozusagen, fordert er auch politisch praktisch. In
letzter Zeit hat sich Kolakowski zusammen mit dem Literaturnobelpreisträger
Czeslaw Milosz dagegen gewandt, daß in Polen ein katholischer Fundamentalismus
weiter erstarkt, und daß die Kirche im Namen des Glaubens die Gestaltung des
politischen Lebens an sich reißt, so daß man außerhalb ihrer Lehre nicht mehr
Position beziehen darf.
Zum anderen
ist zu berücksichtigen, daß Kolakowski für einen bestimmten Typus von Mythos
plädiert und dabei eine wichtige Differenzierung getroffen hat:
O-Ton, Gesine Schwan:
Er
unterscheidet nämlich zwischen solchen Mythen, die Ansprüche formulieren, und
solchen, die Verpflichtungen formulieren, das ist für ihn eine grundlegende
Unterscheidung. Nationalistische Mythen, Mythen in denen nicht nur die Mission
eines Volkes beschrieben wird, sondern in denen dieses Volk auch über andere
absolut gesetzt wird, im Unterschied zu nationalen Mythen, die sagen wir mal
nationale Verbundenheit erläutern, sind für ihn Anspruchsmythen, sie begründen
sich letztlich daraus, daß die Menschen durch ihre Teilhabe am Mythos, dadurch,
daß sie Teil dieses Volkes sind, dieser Nation, Ansprüche des Selbstwerts für
sich, der Dominanz über andere und so was formulieren. Das sind für ihn nicht
die Mythen, die er, simpel gesagt, positiv ansetzt. Sondern solche Mythen sind
das, die Verpflichtungen formulieren, und das knüpft an an einen Aufsatz, den
er schon viel früher geschrieben hat nach der Erfahrung des Stalinismus zum
Problem der Verantwortung:... Verantwortung heißt, daß wir daran arbeiten
müssen, daß diese Welt menschlicher besser, humaner wird - das sind sehr
flache Vokabeln, und Mythen, die diese Verpflichtung kodizifieren, wenn ich das
technisch ausdrücke, die diese Verantwortung, diesen Verantwortungsanspruch an
die Menschen stellen, sind die, die er positiv bewertet, dazu gehören dann eben
diese großen Religionen.
Sprecher:
Kolakowskis
Plädoyer für solche religiös-mythischen Weltdeutungen, die eine Verpflichtung
aussprechen, macht deutlich: Sein entscheidendes Argument für den Mythos ist
nicht das individuelle Bedürfnis nach Sinn und Orientierung - auch ein
rassistischer Mythos verschafft seinen Anhängern Sinn und Identität -
entscheidend für Kolakowskis Rehabilitation des Mythos ist die Verankerung
moralischer Werte. Der Mythos soll Moral fundieren, er soll Ethik beglaubigen.
Aber das ist problematisch, zumal die europäisch-christliche Tradition, an die
Kolakowski zuvörderst denkt, einer starken Erosion unterliegt und auch
keineswegs rundherum gutzuheißen wäre.
Kolakowskis
Konzept der mythischen Verpflichtung ruft den Einzelnen als Einzelnen in seine
Verantworung. Es ist eine personalistische Ethik, die auf den Vorstellungs-
und Handlungshorizont des Individuums bezogen ist.
Auf der
Ebene der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung scheint dieser Ansatz
kaum noch zu greifen. Wie kann der Einzelne überhaupt noch Verantwortung
wahrnehmen, wenn die arbeitsteiligen Forschungs- und Produktionssprozesse immer
unüberschaubarer geraten und ihre Folgen und Nebenfolgen für niemanden mehr
abschätzbar sind.
Auf der
Ebene des politischen und sozialen Lebens hingegen scheint der individualethische Ansatz keineswegs
überholt. Die aktuellen nationalistischen Exzesse sind schrecklicher Beweis
dafür, wie nach dem Verlust menschlicher Solidarität, aus Ignoranz und Gleichgültigkeit
allenthalben, plötzlich Haß und Aggression hervorbrechen.
O-Ton, Kolakowski:
In einer von
Haß, Rachgier und Neid erfüllten Welt, die - weniger durch die Armut der Natur
als durch unsere gargantueske Gefräßigkeit - uns enger und enger scheit, ist
der Haß eines von jenen Übeln, von denen es plausibel ist zu sagen, daß sie
durch keinerlei institutionelle Maßnahmen verdrängt werden können. In diesem
Fall, so dürfen wir ohne Lächerlichkeit vermuten, trägt ein jeder von uns,
indem er dieses Übel in sich begrenzt, dazu bei, es in der Gesellschaft zu
begrenzen, und vollbringt so in sich eine unsichere und brüchige Vorwegnahme
eines erträglicheren Lebens auf unserem Narrenschiff.