Sprecherin:
Wilhelm
Hauff erzählt in seinem Märchen Das Kalte Herz die Geschichte von einem
armen Köhlersohn im Schwarzwald: Peter Munk möchte aus dem Elend herauskommen,
er träumt von Geld und Ansehen, von einem sozialen Aufstieg. Da umgarnt ihn ein böser Geist, der Holländer
Michel, mit den Worten:
Sprecher:
„Wenn Du im ganzen Körper Mut und Kraft, etwas
zu unternehmen, hattest, da konnten ein paar Schläge des dummen Herzens dich
zittern machen; und dann die Kränkungen der Ehre, das Unglück, wozu soll sich
ein vernünftiger Kerl um dergleichen kümmern? ... Und was war es, das dich
getrieben, in die Tasche zu fahren, sooft ein Bettler seinen zerlumpten Hut
hinstreckte? – ... Weder deine Augen,
noch deine Zunge, deine Arme, noch deine Beine, sondern wieder dein Herz; du
hast dir es, wie man richtig sagt, zu sehr zu Herzen genommen.“
Sprecherin:
„Aber“ –
erwidert Peter Munk – „wie kann man sich denn angewöhnen, daß es nicht mehr so
ist? Ich gebe mir jetzt alle Mühe, es zu unterdrücken, und dennoch pocht mein
Herz und tut mir wehe.“
Sprecher:
„Du
freilich“, rief der Holländer Michel mit Lachen, „du armer Schelm, kannst
nichts dagegen tun, aber gib mir das kaum pochende Ding, und du wirst sehen,
wie gut du es dann hast.“
Und der
Holländer schlägt ihm einen teuflischen Handel vor: er will ihm das lebendige
Herz gegen eines aus Stein austauschen und noch hunderttausend Gulden
drauflegen.
Sprecherin:
Peter Munk
konnte sich eines Schauders, der ihm über die Haut ging, nicht erwehren. „Ein
Herz von Marmelstein? Aber horch einmal, Herr Holländer Michel, das muß doch
gar kalt sein in der Brust.“
Sprecher:
„Freilich,
aber angenehm kühl. Warum soll denn ein Herz warm sein? Im Winter nützt dir die
Wärme nichts, da hilft ein guter Kirschgeist mehr als ein warmes Herz, und im
Sommer, wenn alles schwül und heiß ist – du glaubst nicht, wie dann ein solches
Herz abkühlt. Und wie gesagt, weder Angst noch Schrecken, weder törichtes
Mitleiden noch anderer Jammer pocht an ein solches Herz.“
Sprecherin:
Peter Munk
willigt ein und erhält ein Herz aus Stein. Fortan wird er reich und reicher.
Die Gier nach Geld, Glanz und Ansehen ist das einzige, was ihn umtreibt.
Rücksichtslos gegenüber den anderen, stumpf und gleichgültig gegenüber ihren
Nöten sucht er in allem nur seinen Vorteil. Aber die innere Kälte läßt ihn
immer einsamer werden, am Ende erschlägt er sogar seine Ehefrau wegen ihrer
Barmherzigkeit. Erst der Gedanke an den Tod, an das ewige Nichts, läßt ihn
innehalten und offenbart ihm die entsetzliche Leere seines Lebens. Peter Munk
beschließt auf seinem Weg umzukehren und erkämpft sich sein warmes Herz zurück.
Sprecher:
Wilhelms
Hauffs Märchen handelt von einer zentralen Metapher, die in fast jedem
Kulturkreis zu Hause ist. Im Herzen wohnen, so glaubt man, die menschlichen
Gefühle: Freude, Trauer, Bangen und Hoffen, Sorge und Sehnsucht, vor allem aber
die Liebe und das Mitleid. ‚Man hat nur dann ein Herz, wenn man es hat für
andere‘ – heißt es treffend bei Friedrich Hebbel. Ein mitfühlendes Herz weitet
und erwärmt sich unserer Vorstellung nach, es schmilzt gleichsam, so daß die
Gefühle über die Ich-Grenzen hinweg zum Anderen strömen können. Umgekehrt
glauben wir, daß sich in der Selbstsucht das Herz zusammenzieht, so daß es sich
verhärtet und kalt wird.
Sprecherin:
Hartherzige
Menschen hat es immer gegeben. Wilhelm Hauff jedoch spielt im Gewand des
Märchens auf die moderne Gesellschaft an, in der eine bestimmte Gefühlskälte
zum beinahe selbstverständlichen Rüstzeug der Selbstbehauptung geworden ist.
Peter Munk erscheint wie das Zerrbild eines Bürgers, der allein seine
Interessen verfolgt, der kühl und berechnend seinen Geschäften nachgeht. Was
ist in der Moderne mit dem Herzen passiert? Heute mutet schon das Wort
Herzenswärme ziemlich antiquiert an, wo die Jugend das Adjektiv cool zu einer
ihrer Lieblingsvokabeln erkoren hat.
Sprecher:
Als
Wilhelm Hauff das Märchen schrieb, das kurz nach seinem Tod 1827 veröffentlicht
wurde, befand sich Deutschland am Vorabend der Industrialisierung. Die
Französische Revolution hatte in Baden die Fesseln der traditionellen
Ständeordnung gesprengt. Man hob den Zunftbann auf, so daß die Menschen ihr
Handwerk frei wählen konnten. Und auch der Fernhandel über die regionalen
Grenzen hinaus wurde freigegeben. Das führte zur Ausweitung der Geldwirtschaft
im Schwarzwald. Die ökonomische Liberalisierung zeigte alsbald aber auch ihre
Schattenseiten. Das alte Sozialgefüge zerbrach, das hereinströmende Kapital
verschärfte die sozialen Ungleichheiten, die gesamte Gesellschaft geriet in
einen kritischen Umbruch.
Sprecherin:
Das
Märchen übersetzt die Krise in die mythologisierende Sprache seiner Bilder und
Figuren:
Zwei Geister,
gut und böse, streiten um den Kohlenmunkpeter. Auf der einen Seite steht der
gute Geist, die zierliche Gestalt des Glasmännleins. Es ist der Hüter des
Waldes und der Patron der Glasmacher, des alteingessenen Handwerks im
Schwarzwald. Das Glasmännlein verteidigt die Wertvorstellungen der Tradition:
Fleiß, Ehrlichkeit und Erbarmen gegenüber den Armen, es lehrt ein Leben, das
sich in Genügsamkeit übt.
Sprecher:
Auf der
anderen Seite steht der böse Holländer Michel, der Patron der Holzfäller und
Handelsherren. In seiner riesenhaften Gestalt
erscheint er wie die Verkörperung des schnell wachsenden Molochs
Kapitalismus. Vom Holländer Michel wird erzählt, daß er als erster den
Zwischenhandel übersprungen und die mächtigsten Tannen mit größten Profit bis
nach Holland verkauft hat. So mischen sich in dieser Gestalt dichterische
Fiktion und sozialhistorische Fakten, wie der Kölner Literaturwissenschaftler
Rolf Füllmann am Märchentext belegt:
O-Ton,
Rolf Füllmann:
Er ist
auch eine halbreale Gestalt. Denn er wird uns eingeführt durch die Geschichte
eines alten Mannes, der dann erzählt: ‚Vor hundert Jahren hat es diesen
Holländer Michel gegeben.‘ Es wird seine Geschichte erzählt, es wird sodann von
diesem alten Mann spekuliert: ‚Wir wissen nicht, ob dieser Holländer Michel
eigentlich tot ist.‘
Das heißt,
wir haben es hier also nicht mit einer Teufelsgestalt zu tun, die aus dem Ofen
kommt, sondern mit einer halbrealen Gestalt, der natürlich teuflische Züge
innewohnen, die aber tatsächlich eine Form des Handels betreibt, und das
Interessante ist, daß dieser alte Mann, der der Hauptfigur, Peter, diese
Geschichte vom Holländer Michel erzählt, auch gleichzeitig sagt: ‚Seitdem wir
diesen Handel haben, seitdem die Schwarzwälder Leute eben kölnische Pfeifen
tragen, seitdem sie ihren eigenen Wald, ihre eigenen Bäume bis nach Holland
verkaufen, seitdem sind die Menschen schlecht geworden: sie spielen, sie
trinken, sie sind dem Geld verfallen.‘ Und insofern ist dieser Holländer Michel
tatsächlich eine konservative Kapitalismuskritik der Romantik, so kann man es
auffassen.
Sprecherin:
Eine
Kommission des Badischen Landtags konstatiert in ihrem Bericht zur sozialen
Lage nach 1825 die – wörtlich - „herzlose Bedrückung einer wehrlosen Schar
abhängiger Arbeiter“. In dem Bericht ist
von den Auswüchsen der Geldspekulation und des Wuchers die Rede, und daß das
glückspilzhafte Properieren von Kapitalspekulanten die Gesellschaft
demoralisiere, die Familienbande auflöse und Genuß- und Trunksucht, Müßiggang
und Schwindelei fördere.
Sprecher:
Hauff
kritisiert im Gewand des Märchens die Auswirkungen eines beginnenden
Kapitalismus auf die Beziehungen der Menschen. Von seinen und anderen Texten
der Romantik, über das Werk Heinrich Heines und Wagners Ring des Nibelungen ist
es geistes- und ideengeschichtlich nicht weit bis zur kritischen
Gesellschaftsanalyse, wie sie eine Generation später Karl Marx vorlegt. Und
wenn es um die Auswirkungen dieser Verhältnisse auf das Seelische geht, auf die Psyche der
Menschen, erweisen sich die Dichter zumeist feinfühliger und hellsichtiger als
die Gelehrten. Die Dichter sind die eigentlichen Historiographen der Psyche,
sie nehmen die Veränderungen und Störungen im seelischen Gleichgewicht mit
seismographischen Feinsinn wahr. In der Symbolsprache von Bildern und Mythen
haben sie ein Verständnis entwickelt, auf das insbesondere die Psychologie in
ihrer wissenschaftlichen Terminologie immer wieder zurückgreift.
Sprecherin:
Im Symbol
des Kalten Herzens spricht Hauff über die Entfremdung des Menschen durch den
modernen Kapitalismus. Auf den ersten Blick scheint das Märchen dabei lediglich
zu moralisieren. Man gewinnt zunächst den Eindruck, Hauff läßt Peter Munk nur
deshalb scheitern, weil er unbarmherzig ist und weil er in seiner
Hartherzigkeit sogar die arme Mutter verstößt.
Sprecher:
Gegen den
moralisierenden Zug des Märchens läßt sich jedoch einwenden: Man kann sich
vorstellen, - und dafür gibt es in der
Realität genügend Beispiele - daß jemand ein schönes Leben führt, auch wenn er
schlecht ist, ja daß er sogar das Leben in besonderem Maße genießt, gerade weil
er sich gegenüber dem Elend der Welt taub stellt und sein Herz vor den Nöten
der Anderen verriegelt.
Aber das
Symbol des versteinerten Herzens verdient eine Interpretation, die über den
Moralismus hinausschaut, wie sie Gunter Gebauer, Philosoph an der Freien
Universität Berlin, entwickelt.
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Die
Tatsache, daß das Leben von Peter Munk nicht schön wird, liegt daran, daß er
überhaupt kein Leben mehr hat, ich glaube, die Herzmetapher bedeutet in diesem
Fall, daß das Herz als Sitz des Lebens ihm genommen ist, daß er ein Leben
führt, das keine Spannung mehr hat, kein Auf und Ab, kein wirkliches Interesse
mehr an Lebensvorgängen besitzt und letzten Endes ein Leben führt, das nur
darin besteht, daß er Geld ausgibt, dieses wieder neu erhält, daß er Ansehen
akkumuliert - was ja auch interessant
ist, daß die Umwelt ihm Ansehen schenkt, das sollte man eigentlich nicht
erwarten - und daß er im Grunde ein Leben führt, das sich monoton jeden Tag
wiederholt. Es fehlt also Spannung, Rhythmus, es fehlt die Abwechslung von Ups
and Downs, es ist eine Gleichförmigkeit, und im wesentlichen besteht dieses
Leben darin, daß er sich ins Wirtshaus begibt und dort spielt. Und da sehe ich
eine zentrale Metapher dieses Märchens: im Spiel, das im Wirtshaus gespielt
wird, ein Glücksspiel, das nichts anderes ist als Würfeln, und es wird auch an
einer Stelle des Märchens als ein mechanisches Spiel bezeichnet. Ich glaube,
das ist dasjenige, was sein Leben jetzt rhythmisiert, eine Mechanik des
Würfelspiels, das Schütteln, das Auf-den-Tisch-werfen der Würfel, das Auszählen
der Augen, das Vergleichen mit den Konkurrenten, das Auszahlen von
Spielschulden oder das Einstreichen von Gewinnen - und das ist alles.
Sprecherin:
Gunter
Gebauer nimmt das Bild des Herzens so, wie es die Antike verstand, als Sitz der
Lebenskraft, als Symbol des Lebens schlechthin. Das versteinerte Herz bedeutet
dann, daß es Peter Munk nicht allein an Mitgefühl mangelt, sondern daß seine
Lebendigkeit überhaupt Schaden genommen hat. Peter Munks Schicksal ist darin
jedoch kein individuelles Los, sondern führt in märchenhafter Überzeichnung die
Entfremdung des modernen Menschen vor. Wilhelm Hauff hat dabei in einer für das
Märchengenre überraschend differenzierten Weise die Stationen dieses
Entfremdungsprozesses dargestellt.
Sprecher:
Zuerst
versucht sich der Kohlenmunkpeter im Glashandwerk. Obgleich selber unkundig in
diesem Beruf, verfolgt er zunächst mit Neugier und Interesse die Arbeit der
Glasbläser in der Fabrik, die ihm das Glasmännlein geschenkt hat. Das Ganze ist
sehr konkret: die Schönheit eines Glases, das er staunend betrachtet, der Akt
der Herstellung, bei der noch individuelle unverwechselbare Produkte entstehen,
das besondere Können des Glasbläsers und das lebendige Zusammenwirken der
Menschen.
Sprecherin:
Aber nachdem
sein Interesse erloschen ist, geht er zum Holzhandel über, d.h. er wechselt von
der Produktion zur Vermarktung, doch er führt diese Handelsgeschäfte nur zum
Schein, in Wirklichkeit betreibt er einen Geldverleih mit Wucherzins. Dinge,
Arbeit und Menschen sind ihm dabei gleichgültig. Hier geht es nur noch um
Kapital, um ‚Geld heckendes Geld‘, wie Marx schreibt. Hier jongliert er nur
noch mit Zahlen, genauso wie beim
Würfelspiel im Wirtshaus. Geschäft und Vergnügen, Kapital- und Würfeleinsatz
geschehen auf dem selben abstrakten Niveau.
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Ich glaube,
daß hier etwas gezeichnet wird, was später Adorno mit Begriffen wie tote
Abstraktheit oder Anpassung an das Tote gemeint hat, also was durchaus ein
frühmarxistisches Thema darstellt, nämlich daß die Lebendigkeit versiegt, und
statt dessen nur noch Verhältnisse eintreten, die von Objekten und von
Strukturen geprägt werden, die das Lebendige abtöten. Ich glaube, man kann
diesen Aufsatz besser verstehen, wenn man als Hintergrund Schillers Brief über
das Spiel sich vergegenwärtigt, es ist sehr vieles in der Novelle, was
regelrecht eine Replik darstellt, auf Schillers sehr kurze, aber sehr prägnante
Analyse der Gegenwartsverhältnisse, die in dem berühmten Ästhetischen Brief
über das Spiel bei ihm ausgeführt werden, nämlich insofern als Schiller sagt:
‚die Gegenwart ist abstrakt geworden, sie ist geprägt von mechanischen Drehen
des Rades, es ist die Lebendigkeit aus der Gegenwart gewichen, wir haben jeden
Sinn für die Lebendigkeit, für das Spielerische, für das Ästhetische des Lebens
verloren.‘ Und seine Idee ist ja, daß man durch den Spieltrieb eine Veränderung
in der Gegenwart erreicht, insofern man eine neue Vermittlung von Formtrieb und
Stofftrieb erreicht.
Sprecher:
Lebendigkeit
meint in diesem Zusammenhang, daß alle Seiten im Menschen, seine
unterschiedlichen Vermögen und Kräfte, Verstand und Gefühl, Wunsch und
Wahrnehmung, in ein freies Zusammenspiel treten.
Schiller
versucht – und darin wird ihm die Romantik folgen – bestimmte Fehlentwicklungen
und Einseitigkeiten korrigieren, für die die philosophische Entwicklung der
Neuzeit verantwortlich ist. Denn die Aufklärung, beginnend bei Descartes und
gipfelnd bei Kant, enthält – ungeachtet ihrer emanzipatorischen Kraft – ein
gewaltsames Moment. Sie hat den Menschen
unter das Gesetz der Vernunft gestellt und ihm Autonomie versprochen, wenn er
seinem gesamten Denken und Tun eine rationale Selbstkontrolle auferlegt.
Sprecherin:
Ganz sicher
verdankt die Moderne dieser gesteigerten Selbstkontrolle die enormen
Leistungen und Errungenschaften der Wissenschaft, der Technik und der Kultur.
Aber den Menschentypus, den die Aufklärung formt, charakterisiert eine
überzogene Zentrierung auf das rationale Ich. Seine Psyche wirkt zwanghaft und
starr. Der Soziologe Norbert Elias nennt es die "Gepreßtheit der
zivilisierten Seele". Denn das Konzept des Vernunftsubjekts duldet keinen
Pluralismus im Innern des Menschen. Seine Einheit basiert auf Zwang, auf der
Unterdrückung der inneren Vielfalt von Gefühlen, Wünschen und Phantasien
zugunsten eines durchgehaltenen panzerhaften Selbst.
Sprecher:
Es geht ein Riß durch das
Menschenbild der Aufklärung, eine Spaltung zwischen Verstand und Sinnlichkeit,
zwischen Geist und Natur, wie die Romantik beklagt. Sie hofft die gespaltenen
Anteile wieder zu versöhnen und entfaltet in ihren Werken die Sehnsucht nach
einer neuen Einheit von Mensch und Natur. Schillers Konzept des Spieltriebs hat
die Romantik in verwandter Form wiederaufgenommen. Sie baut darauf, daß das
Ästhetische, die Kunst jene verbindende
Mitte darstellt, wo alle Kräfte des Menschen wieder in ein freies,
ungezwungenes - mit einem Wort: lebendiges Miteinander treten können.
Sprecherin:
Die Romantik bemerkt sehr früh die
problematische Wendung im Umgang mit der äußeren Natur, lange bevor die
ökologischen Folgen in der Gegenwart sichtbar geworden sind. Denn der einseitigen
Definition des Menschen als Verstandeswesen durch die Aufklärung, entspricht
umgekehrt die Reduktion der Natur auf bloße Materie. Die Natur wird entseelt
und zur totalen Nutzbarmachung freigegeben. Das war, wie Hauffs Märchen
erzählt, vorher anders.
Sprecher:
Die Bäume in
der Mitte des Schwarzwaldes galten den Holzfällern als tabu. Sie glaubten, daß
ihnen die Axt vom Stiele springe und ins Bein fahre oder daß sie von den
umstürzenden Stämmen erschlagen würden, wenn sie sich an den mächtigen Tannen
der Waldesmitte vergriffen. Bloßer Aberglaube - würden wir heute sagen. Aber
aus der Furcht spricht auch Ehrfurcht, ein Respekt vor der Natur, eine
metaphysische Scheu, die dem menschlichen Eingriff eine Grenze setzt und die
Ausbeutung der Natur nicht bis zum letzten treibt.
Sprecherin:
Der
Holländer Michel jedoch besitzt das kalte Herz des modernen Menschen und damit
eine völlig nihilistische Einstellung: Die Natur bedeutet ihm nichts, sie ist
tote Materie, bloßes Material, das einem kühlen Kosten-Nutzen-Denken
unterworfen wird. Der Holländer Michel bricht das Tabu, er schlägt die
prächtigsten Stämme der Waldesmitte und verkauft sie mit maximalem Profit
direkt an die holländischen Werften. Sein Waldfrevel bringt jedoch Unheil,
erläutert der Kölner Literaturwissenschaftler Rolf Füllmann.
O-Ton,
Rolf Füllmann:
Das hat ja
dann auch eine Folge, eine ganz grausame: Jedes Mal, wenn einer dieser stolzen
Stämme gefällt wird, da knackt und bricht ein Stamm in einem Schiff, das aus
anderen dieser Stämme gemacht wurde, und das Schiff auf dem Meer versinkt, das
ist damit noch verbunden. ... Und da wird vor allem sichtbar dieses Plädoyer
für das genügsame Wirtschaften, im Gegensatz zum Holländer Michel, in der
Gegenfigur, und das ist das Glasmännlein. Das Glasmännlein will der Hauptfigur, dem Peter, nahelegen,
sich doch zu bescheiden, auch ökonomisch sinnvoll zu wirtschaften in einer
Glashütte, aber eben im Rahmen zu wirtschaften, und da kann man tatsächlich
auch das Plädoyer für ein genügsames Leben im Umfeld der Natur sehen - das kann
man schon so deuten.
Sprecher:
Das Märchen
beschreibt eine Kreisfigur. Peter Munk gelangt – wenn auch um wichtige
Erfahrungen reicher- dort wieder an, wo
er aufgebrochen ist, in seinem Köhlerdasein, auch wenn das Glasmännlein die
elende Hütte in ein hübsches Bauernhaus verwandelt hat. Hauff findet keine
Lösung, die zwischen Tradition und Gegenwart vermittelt, keine wirkliche
Antwort, die die neuen Entwicklungen berücksichtigt. Sein harmonischer Schluß
stellt eine rückwärtsgewandte Idylle dar. Er gibt einseitig der Tradition
recht, das verleiht dem Märchen eine, wie Gunter Gebauer ausführt, bedenkliche
Ideologie, die alles Elend rechtfertigt, nur weil es schon lange existiert.
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Bei Hauff
gibt es eine mir manchmal etwas peinlich erscheinende Nebenbedeutung, daß es so
ein Lob der Armut gibt: der Reiche ist mechanisch, verpraßt sein Geld, führt
ein langweiliges Leben; und bei den armen Leuten unter den Tannen mit
Reinlichkeit und Sauberkeit und Gattenliebe und Mutterliebe herrscht ein
fröhliches Treiben - das bekommt auch einen sehr stark moralisierenden Appell,
über den man einfach nicht hinweg lesen kann, so daß hier mit der
Schwarzwaldfeier, die auch noch impliziert ist in der Geschichte, das
regionale, das bodenständige, saubere Deutsche und zugleich arme und
bescheidene gelobt wird, das was Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts
tatsächlich auch dargestellt hat, ein Agrarland, in dem die Mehrzahl der
Bevölkerung in sehr ärmlichen Verhältnissen gelebt hat. Und es liest sich wie
eine Apologie, daß das Volk in diesen Verhältnissen bleiben soll.
Sprecherin:
Wilhelm
Hauffs Schaffen fällt in die letzte Phase der Spätromantik, die schon ins
Biedermeier übergeht. Das Biedermeier deckt sich politisch mit dem Zeitalter
der Restauration, der Ära Metternichs, wo alle politischen
Emanzipationsbestrebungen, die das Bürgertum nach der Französischen Revolution
auch in Deutschland erkämpft hat, wieder
zurückgenommen werden. Es herrscht ein Klima der Unterdrückung, geprägt von
Bespitzelung, Pressezensur und eingeschüchterter Öffentlichkeit. Das
Biedermeier huldigt dem Rückzug ins Private und kultiviert ihn mit einem
Mobiliar, das bis heute stilwirksam geblieben ist. Aber dieser Rückzug führt in
neurotische Enge und Depression, wie die Biographien berühmter Dichter – Eduard
Mörike, Adalbert Stifter – bezeugen.
Sprecher:
In ganz
entgegengesetzte Richtung, nämlich ins kosmopolitisch Weltoffene, weisen Leben
und Werk des spätromantischen Dichters und Naturforschers Adelbert von
Chamisso. Chamisso entstammt dem altfranzösischen Adel. Seine Eltern wurden
während der Französischen Revolution von ihrem Schloß vertrieben und flohen mit
dem Kind quer durch Europa. In Berlin wurde der junge Chamisso Leutnant bei der
preußischen Armee. Chamisso hat das Schicksal eines politischen Flüchtlings,
Künstlers und Gelehrten, der zwischen den Stühlen der verschiedenen
gesellschaftlichen Klassen und Nationen einen Platz finden muß. Von
französischer wie von deutscher Seite beargwöhnt, geht er später als Botaniker
auf Weltreisen. Das Buch, das ihn berühmt gemacht hat, erzählt unter dem
gleichnamigen Titel Peter Schlehmils wundersame Geschichte.
Sprecherin:
Auch hier
begegnen wir dem Motiv des versehrten Menschseins wieder: Nicht sein Herz, aber
seinen Schatten hat Schlehmil an eine unheimliche Gestalt verkauft, an den
sogenannten Grauen. Nun verfügt er zwar stets über Geld im Überfluß, aber seine
Schattenlosigkeit wird ihm zum Verhängnis. Die Gesellschaft verstößt ihn trotz
des Reichtums und auch die große Liebe zerbricht an seinem Stigma.
Aber
welches Leiden, welche Art von Versehrung symbolisiert eigentlich der
Schattenverlust?
O-Ton,
Rolf Füllmann:
Unser
Schatten zeigt uns immer dann Ort an, an dem wir stehen. Er zeigt uns unsere
Verortung. Und der Verlust der Verortung ist für den Peter Schlehmil das
Hauptproblem. Er verkauft seinen Schatten, seine Identität für Geld, könnte man
vielleicht sagen, an wieder so eine merkwürdige Figur, die auch nicht so
eindeutig als Teufel zu interpretieren ist, es ist mehr eine Art Buchhalter,
der ihm für Geld seinen Schatten abkauft, - und dadurch, daß er den Schatten
verkauft hat, wird er wirklich ruhelos. Er verliert seine Identität und
verliert damit auch seine innere Ruhe. So könnte man dieses Märchen
interpretieren.
Wobei eins
ganz klar gesagt werden muß: Chamisso hat sich über diese Interpretation immer
amüsiert. Denn für ihn steht tatsächlich - weniger als für Hauff - das Spiel
mit Märchenmotiven immer im Mittelpunkt.
Sprecher:
Chamisso hat
seine Erzählung in einer ganz anderen Tonlage geschrieben als Hauff. Wo Hauffs
Märchen gleichsam naiv-ernsthaft daherkommt, spielt Chamisso
humoristisch-ironisch mit den Märchenmotiven der Tradition. In seiner Novelle
begegnet man dem Glücksäckel des Fortunatus wieder, das stets Goldstücke
enthält, oder der Tarnkappe, die unsichtbar macht. Aber bei aller literarischen
Leichtigkeit im Stil bleibt die Thematik melancholisch: Der Name Schlehmil
entstammt der Gaunersprache, meint einen Pechvogel, einen unglücklichen
Menschen, dem nichts gelingt.
Sprecherin:
Sein Unglück
hängt mit jener dämonischen Gestalt zusammen, die merkwürdig unscheinbar, ja
geradezu gesichtslos bleibt. Der Graue, dem Schlehmil seinen Schatten verkauft,
wird von seiner Umgebung überhaupt nicht wahrgenommen. Er hat keine besonderen
Züge, keine Individualität, aber aus seinen Taschen vermag er jedweden
Gegenstand hervorzuzaubern. In seiner Gesichtslosigkeit erscheint der Graue wie
eine Allegorie des Geldes. Denn das Geld ist auch etwas Allgemeines, das sich
in jeden besonderen Gegenstand zu verwandeln vermag. Aber damit entwertet das
Geld tendenziell auch die Besonderheit der Dinge. Wenn man alles kaufen kann,
gibt es nichts Besonderes mehr. Schlehmil jedoch hat seine eigene Besonderheit,
in Form des Schattens, verkauft.
Sprecher:
Insofern übt
die Novelle Kritik an der Überschätzung des Geldes und enthält die ironisch
versteckte Aufforderung, die Besonderheit der Personen und die Eigenart der
Dinge stärker zu respektieren.
Aber im
Motiv des verlorenen Schattens spielen noch andere Aspekte eine Rolle, so der
Berliner Philosoph Gunter Gebauer:
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Ein Schatten
ist etwas, was vom Licht hervorgerufen wird, und es bedeutet, im Grunde
genommen, wenn jemand einen Schatten nicht hat, daß er auf Licht anders
reagiert als andere Menschen. ... Und ich kann das in einen sehr engen Kontext
mit dem von Benjamin gebrauchten Begriff der Aura bringen, das ist auch ein
Begriff, der mit der Lichtmetaphorik zu tun hat. Die Aura, die im Grunde
genommen so etwas ist wie eine Form der von innen kommenden Beleuchtung, ein
Leuchten, ein Strahlen, das sich äußert durch einen Strahlenkranz - hier ist
die Metaphorik etwas anders gewendet, nicht mit dem Schatten, sondern mit einer
Emanation aus der Person - das ist etwas was einen Gegenstand wertvoll macht,
was ihm Einmaligkeit gibt, und was den Gegenstand gleichzeitig in die Ferne
rückt, also nicht unmittelbar, anfaßbar, berührbar usw. macht. Wenn man von hier aus die Geschichte von
Adelbert von Chamisso sich anschaut, dann kann man sagen, dieser Peter
Schlehmil ist jemand, der kein Licht abgibt, auf den zwar Licht fällt, aber er
reflektiert es nicht, er strahlt nichts aus, er hat keine Emanation, er
reagiert nicht, - jetzt drücke ich das einmal naiv aus - indem er nicht selbst
auch Licht produziert, sondern er ist wie ein schwarzes Loch, würde man
vielleicht mit modernen Begriffen aus der Astronomie sagen.
Sprecherin:
Aus der
mythologischen Tradition kennt man das Motiv des fehlenden Spiegelbildes.
Vampiren zum Beispiel oder anderen mit einem Fluch beladenen Unwesen schrieb
man zu, daß sei kein Spiegelbild besitzen. Das Spiegelbild verweist auf die
Seele, es bezeugt in seinem äußeren Glanz das innere Wesen. Demnach verweist
wohl auch der fehlende Schatten auf eine Beschädigung der Psyche, auf eine
seelische Verletzung des Menschen.
Sprecher:
Peter Munk
erkämpft sein Herz zurück, Paul Schlehmil
hingegen erhält trotz aller Anstrengungen, und obwohl er sich von der
Macht des Geldes lossagt, seinen Schatten nicht zurück. So bleibt er
stigmatisiert, ein Verfemter, den die Menschen aus ihrer Mitte verstoßen haben.
Schlehmil nimmt seinerseits Abschied von der menschlichen Gesellschaft und
wendet sich der Natur zu. In der Folge reist er als Naturforscher bis an die
Enden der Erde, z.B. ins noch nicht lange entdeckte Australien. Schlehmil tritt damit in die Fußstapfen seines
Schöpfers Chamisso, der seinem Helden für diese Reisen wunderbare Siebenmeilenstiefel
angedichtet hat. Dazu Rolf Füllmann:
O-Ton,
Rolf Füllmann:
Er kommt
also in kürzester Zeit in die entferntesten Kontinente und Länder, kann dann
darüber berichten und forschen, und man kommt nicht umhin auch zu sagen – es
ist zwar nicht so ganz üblich in der heutigen Germanistik: das hat auch stark
biographischen Anteil: Chamisso war Weltumsegler in einer Weise, und er war
auch ein wirklich renommierter Botaniker, er hat nachher auch sein Geld damit
verdient, und das ist für Chamisso auch ein Zeichen, wie man die eigene Ruhe-
und Rastlosigkeit bearbeitet, indem man dann - wenn man schon nicht weiß, ob
man in Frankreich oder ob man in Deutschland zu Hause ist - dann eben die ganze
Welt erforscht und diese Erfahrung der Menschheit zur Verfügung stellt, das ist
seine Lösung, die er dann auch in seiner Figur Peter Schlehmil verarbeitet hat.
Sprecherin:
Schlehmil
schließt Frieden mit der Gesellschaft, die ihn ausgestoßen hat. Es scheint, daß
ihn die Weltreisen und die Nähe zur Natur den verlorenen Schatten und den
Mangel an sozialer Intergration verschmerzen lassen. Gunter Gebauer mißtraut
allerdings diesem versöhnlichen Ende der Geschichte.
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Ich glaube,
der Schlehmil ist eine Geschichte, die im Grunde genommen nicht besonders gut endet,
sondern nur mit ein paar guten Werken zum Schluß garniert, damit es nicht
tragisch endet, aber diese Siebenmeilenstiefel, diese Rastlosigkeit, diese
Ortlosigkeit, dieser Geschwindigkeitsrausch, der damit verbunden ist, zeigt,
daß der Verlust einer menschlichen Einmaligkeit und Aura dazu führt, daß hier
ein ortsungebundener, vielleicht könnte man sogar sagen, ein Massenmensch
entsteht, ein Mensch, der im Grunde genommen, wie später dann am Ende des 19.
Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Großstadtmensch beschrieben wurde, eine
Art rastloser - in diesem Fall verrückt gewordener Flaneur entsteht, der über
die ganze Welt flaniert, in einer Supergeschwindigkeit, hier hat glaube ich das
Flanieren keinerlei positive Aspekte wie bei Baudelaire z.B. und das Verlieren
in der Menge, wird hier noch nicht als eine Möglichkeit der Existenz angesehen:
einzutauchen in das Leben einer Großstadt - sondern hier ist es noch so etwas
wie eine totale Heimatlosigkeit.
Sprecher:
Wer nicht
verweilt, kann keinen Schatten werfen. Wer permanent unterwegs ist, verliert
nicht nur seine Heimat, er hat überhaupt keine Beziehung mehr zu einem Ort. Die
moderne Hypermobilität raubt den Menschen ihren Schatten. So gesehen wären die
Siebenmeilenstiefel, die Schlehmil geschenkt bekommt, keineswegs die Lösung des
Problems, sondern ganz im Gegenteil dessen Verschärfung. Je höher die
Geschwindigkeit, desto flüchtiger gerät unsere Existenz, je häufiger und je
beschleunigter wir unterwegs sind, desto weniger Schatten werfen wir noch.
Sprecherin:
Der
französische Philosoph Paul Virilio hat die negativen Auswirkungen unserer
modernen Kultur der Beschleunigung aufgezeigt. Der Stadtmensch unserer Tage hat
keine Bleibe mehr. Er ist flüchtig, lebt in Autos, Bussen und U-Bahnen, auf
Wochenendausflügen und Urlaubsreisen. Sein Tempo verhindert jeden Bezug zur
Umgebung. Er ist ortlos und isoliert, im Grunde abwesend, da wo er anwesend
ist. Am deutlichsten verwirklicht diesen Zustand der Autofahrer: autistisch und
isoliert in seiner Blechkapsel hält er sich nur im Reich der Geschwindigkeit
auf, also nirgendwo.
So führt uns
Schlehmil wohl nicht nur die mangelnde Integration in eine bestimmte
Gesellschaft oder Nation vor Augen, sondern antizipiert auch den flüchtigen
Menschen unserer Tage, der aufgrund seiner Hypermobilität mehr und mehr zu
einem Gespenst gerät, das überall und nirgends ist. Gespenster haben keinen
Schatten.
Sprecher:
Chamisso hat
aber das Problem vielleicht auf einer Metaebene gelöst und für Peter Schlehmil
eine neue Heimat gefunden: die Literatur. Indem Chamisso das, was ihn selber
umtrieb und beunruhigte, aufschrieb und zu einer Geschichte formte, die
inzwischen in fast alle Weltsprachen übersetzt ist, hat er seinem Schlehmil
einen zweiten Schatten verliehen, das ist der literarische Text selber, wie
Rolf Füllmann bestätigt.
O-Ton,
Rolf Füllmann:
Das kann man
so sagen: Die Texte, die Autoren verfaßt haben, die werfen nun wirklich die
längsten Schatten in die Geschichte, die man sich überhaupt nur vorstellen
kann. Die Autorenpersönlichkeit hat sich bei vielen Leuten schon längst
verflüchtigt, da wissen wir kaum etwas davon, aber wir haben noch die Ilias -
als Schatten Homers. Das ist ganz klar. Und ich glaube, er spielt auch damit.
Indem er dem Peter Schlehmil das zuschreibt: Dir, Chamisso übergebe ich meine
Geschichte, und das ist natürlich ganz klar. Dieser Schlehmil ist eine Figur,
die im Grunde nie bekannt geworden wäre, ohne diese Verschriftlichung, ohne
dieses literarische Werk und das kann dem Schlehmil im Grunde wieder einen
Schatten verleihen - das literarische Werk, das bleibt und beständig ist.
Sprecherin:
So berühmt
wie Chamissos Novelle über Peter Schlehmil und genau so faszinierend, aber viel
dunkler und unheimlicher kommt die Geschichte Der Sandmann von E.T.A.
Hoffmann daher, ein Text der Generationen von Lesern fasziniert, aber auch
verstört hat und zu immer neuen Deutungsversuchen herausfordert. Der Sandmann
gehört zu jener Werkgruppe E.T.A. Hoffmanns, die ihren Titel Nachstücke
in einem mehrfachen Sinn verdienen. Sie heißen Nachstücke, weil sie von ihrem
Autor in der Nacht geschrieben wurden. E.T.A. Hoffmann führte wie später Kafka
eine wirkliche Doppelexistenz: Tagsüber arbeitete er in Berlin als
Kammergerichtsrat und führte das ehrbar-biedere Leben eines Philisters, wie die
Romantiker den Bürger schimpften, nachts erwachte der Künstler in ihm: er malte komponierte und schrieb, er
diskutierte und zechte in der damals aufkommenden Boheme.
Sprecher:
Ein
Nachstück bildet der Text vom Sandmann aber auch, weil er von den dunklen,
abgründigen Seiten des Menschen handelt, von dem was sich meist im Unbewußten
verborgen hält, aber nachts in Traumgesichten emporsteigt oder sich in
Wahnvorstellungen Bahn bricht.
Sprecherin:
Die
Hauptfigur, der junge Student Nathanael erlitt in seiner Kindheit ein schweres
Trauma. Er hörte die Geschichte vom Sandmann, der abends den Kindern Sand in
die Augen streut, damit sie einschlafen. In seiner Familie jedoch kam bisweilen
tatsächlich ein unheimlicher Fremder, der sich mit dem Vater in dessen Kammer
einschloß. Für Nathanael verschmolz die Märchengestalt des Sandmanns immer mehr
mit jenem grausigen Fremden. Einmal schlich sich der Junge hinzu und wurde
Zeuge alchemistischer Experimente, die wohl um die Schaffung eines künstlichen
Menschen kreisten. Coppelius, der Fremde, drohte dem ertappten Jungen die Augen
auszureißen, um sie dem Homunculus einzusetzen. In Todesangst verlor das Kind
das Bewußtsein.
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Ich glaube,
wenn man annimmt, daß es sich hier um die Erzeugung von künstlichen Menschen
handelt, denen das Leben erst zu geben ist, die im Brennofen erzeugt werden,
dann ist das eines der größten Tabus der Menschheit überhaupt, nämlich etwas zu
tun, wodurch man in Konkurrenz zu Gott tritt - das ist Hybris und Frevel im höchsten
Maße, sich daran zu machen, Gott zu imitieren und ihn vielleicht sogar, durch
die Erschaffung eines perfekten Wesens zu übertreffen.
Daß es nicht
geklappt hat, das Wesen mit Leben auszustatten, daß die Alchimie noch auf der
Vorstufe stehengeblieben ist als mittelalterliche Wissenschaft, die noch nicht
so weit gekommen ist, daß sie Leben schafft, sondern nur die Mechanik des
Lebendigen einrichten kann und mehr nicht, zeigt auf der einen Seite wie hier
schon versucht wird, Gott zu spielen, aber daß man noch auf einer unteren Stufe
bleibt, und diese Stufe wird schon angesehen als eine des Frevels und die darum
schon unter Schweigegebot fällt.
Sprecher:
Die Familie
begegnet den ängstlichen Fragen des wieder genesenden Jungen mit düsterem
Schweigen. Bei einem weiteren Experiment kommt der Vater ums Leben. Dieser
Verlust traumatisiert das Kind vollends und die Gestalt des Sandmanns setzt
sich in seinem Unbewußten fest.
Der
französische Psychoanalytiker Jacques Lacan schreibt: dasjenige, was symbolisch
nicht bewältigt wird, worüber nicht geredet werden darf, kehrt im Realen
wieder. Das Totgeschwiegene, Verdrängte geistert umso nachhaltiger durch unsere
Träume und drängt sich an anderer Stelle wieder zurück ins Erleben.
Als Student
trifft Nathanael dem unheimlichen Fremden erneut, dieses Mal tritt er als
sogenannter Wetterglashändler auf, der ihm ein Fernglas verkauft. Kurz darauf
begegnet er Olimpia, der vermeintlichen Tochter seines Physikprofessors, hinter
deren attraktivem Äußeren sich jedoch eine künstliche Puppe, ein
Automatenmensch verbirgt. Allein die seltsam starren Augen verraten ihr
mechanisches Wesen.
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Es fehlt der
Funke des Lebendigen. Aber mit den Augen ist auch gemeint, daß der Blick andere
Menschen anblickt, es fehlt alles, was diese Menschenmaschine zum Mitmenschen
machen kann, es fehlt jeder Kontakt zum anderen. Wenn die Augen nicht da sind,
kann man andere Menschen nicht anblicken, damit fehlt jede Form von
Kontaktaufnahme, von Verständnis, Augen geben uns Kenntnis von der Welt, aber
geben uns auch Verständnis von anderen Menschen, und hiermit fehlt das Band,
das zwischen Menschen normalerweise vorhanden ist.
Hier ist ein
Unikat da, eine Monade, die nur für sich allein lebensfähig ist, aber nicht als
Mitglied einer mitmenschlichen Gemeinschaft erscheinen kann.
Sprecherin:
Nathanael
gerät immer tiefer in den Bann seiner Ängste und Wahnvorstellungen. Davor
vermag ihn auch seine Braut Clara nicht zu retten. Aus Clara, wie der Name
andeutet, spricht die Stimme der Aufklärung, die mit rationaler Psychologie und
gesundem Menschenverstand Nathanaels Ängste erklären und auflösen möchte.
Doch er
verfällt einer wahnhaften Verwechslung. Nachdem er Olimpia durch das Fernglas
des Händlers angeschaut hat, beginnt
sich für ihn ihr Auge zu verlebendigen. Clara
hingegen dünkt ihm nun oberflächlich, kalt und leblos, während Olimpia
vermeintlich ein warmherziges Gemüt besitzt und tieffühlende Weiblichkeit
ausstrahlt, wie der Kölner Literaturwissenschaftler Rolf Füllmann erläutert:
O-Ton,
Rolf Füllmann:
Er verliebt
sich in diese Puppe, weil die Puppe seinem Ideal der Weiblichkeit mehr
entspricht. Sie ist nämlich fast stumm, sie ist nur graziös und der einzige
Laut, den sie von sich gibt, ist: Ach - und was könnte man sich Romantisches vorstellen,
als so eine tiefe Seele aus deren Tiefe ein solches Ach hervorgestoßen wird -
das es ist im Grunde genommen.
Und in
dieser Puppe, der Olimpia, haben wir wieder dieses Moment der Kälte, das in den
anderen Geschichten auch eine Rolle spielt, dieses Moment der Entpersönlichung,
denn was gibt es Stärkeres an Entpersönlichung als eine Puppe, die für einen
Menschen gehalten wird. Das ist noch viel extremer als ein Mensch wie der Peter
bei Wilhelm Hauff, der ein steinernes Herz hat, aber das ist typisch für diese
Motivik der Spätromantik, diese Entmenschlichung der Welt, die Welt wird
entweder versteinert oder sie wird zu einer Welt der Automaten - was bei
Büchner in Leonce und Lena dann eine explizit politische Note bekommt, wo sich
dann die beiden jungen Menschen am Schluß nur noch wie Marionetten bewegen.
Sprecher:
Was ist
lebendig, was ist tot? – Die Frage stellt sich nicht nur in einem biologischen
Sinn, sondern auch im Sinne wirklichen Menschseins. Wer ist noch so lebendig, das er sich frei entfalten
kann, daß er sich auf die Welt und die anderen beziehen kann? Und wer ist schon
so tot oder abgestorben, daß ihm jede Spontaneität und alle
Verhaltensmöglichkeit abhanden gekommen ist, daß er autistisch nur um sich
selber kreist?
Sprecherin:
Nathanael
wirft mit seinem individuellen Wahn zugleich ein Licht auf ein allgemeines,
alle betreffendes Problem. In seiner Psychose führt er wider Willen besonders
intensiv vor, woran die ganze Gesellschaft krankt: Denn in den nachmittäglichen
Teezirkeln, in denen Olimpia präsentiert wird, vermögen die Anwesenden sie
ebensowenig zu durchschauen wie Nathanael, die Gesellschaft ist selber so steif
und förmlich, daß sie sich gar nicht mehr allzu von jenem mechanischen Wesen in
ihrer Mitte unterscheidet.
E.T.A. Hoffmann
karikiert also das starre lebens- und leibfeindliche Bürgertum des 19.
Jahrhunderts. Rolf Füllmann zitiert weitere Beispiele solcher
Charakterisierungen in der Literatur:
O-Ton,
Rolf Füllmann:
So heißt es
dann bei Heine in Die Harzreise:
„Schwarze Röcke,
Seidenstrümpfe, weiße höfliche Manschetten, sanfte Reden, Embrassieren - ach,
wenn sie nur Herzen hätten.“ - Da wären wir wieder bei dieser steifen
bürgerlichen Gesellschaft, und bei Mangel an Herz. Das ist auch etwas, was
Heine hier kritisiert, wichtig ist hier zu sagen, und das ist auch typisch für
jene Zeit, daß die Etikette, die früher dem Adel vorbehalten war, im 18.
Jahrhundert, in jener Zeit auch in der bürgerlichen Gesellschaft eine viel
größere Rolle spielt. Im 18. Jahrhundert spielte das Bürgertum durchaus neben
seiner Tugend seine Empfindsamkeit gegen die Kälte des Adels aus, also die
Fähigkeit zu wirklicher Liebe, zur Liebesheirat und solchen Dingen, im 19.
Jahrhundert wird das Bürgertum durch die ökonomische Entwicklung in die Pflicht
genommen, es muß sein Leben rationaler einteilen, als z.B. so ein harmloser
Amtmann im 18. Jahrhundert, und dadurch wird auch der Umgangston formeller und
kälter. Und das zeigt sich zum Beispiel an bestimmten Metaphern wie der
Olimpia, das zeigt sich aber auch an bestimmten Kleidungsstücken wie den engen
schwarzen Röcken - ganz im Gegensatz zur Kleidung des 18. Jahrhunderts - den
Halskragen, über die Hans Christian Andersen auch ein kleines Märchen
geschrieben hat, also das gesellschaftliche Leben auch und gerade des Bürgers
versteift sich in steifen Kragen und steifen Sitten, und da ist der Weg zu so
einer Puppenhaftigkeit, wie das die Olimpia darstellt, nicht weit.
Sprecher:
Das 20.
Jahrhundert hat das Korsett der Sinnen- und Leibfeindlichkeit, in das das Leben
im 19. Jahrhundert gezwängt war, gesprengt. Man darf sich allerdings nicht
darüber hinweg täuschen, daß es neue Formen der Unfreiheit gibt und daß in der
Gegenwart subtile, aber nicht weniger mächtige Verhaltenszwänge auf die
Menschen ausgeübt werden.
O-Ton,
Rolf Füllmann:
Man kann ja
die These aufstellen, daß die Umgangsformen lockerer geworden sind, daß die
Etikette nicht mehr so steif ist wie zur Zeit der Spätromantiker, man kann
allerdings auch die These aufstellen, daß wir heutzutage unter ähnlichen
Zwängen leben, es ist eben kein Zwang der Etikette mehr da, sondern es ist
vielleicht ein Höflichkeitszwang, ein Coolness-Zwang, ein Zwang sich zu
offenbaren, damit hat sich Foucault in seinem Spätwerk beschäftigt, und das
könnten vielleicht ähnlich künstliche Zwänge sein wie diejenigen, die da im
Salon der Olimpia eine Rolle spielten, das ist durchaus nachzuvollziehen, und
ich denke, deshalb ist der Sandmann von E.T.A. Hoffmann heute auch so populär,
das hat damit zu tun, ganz klar.
Sprecherin:
Die heutige
Aktualität wird noch in anderer Hinsicht deutlich, wenn man das Leitmotiv des
Sandmanns und die Augenmetaphorik genauer betrachtet: Der erste Teil der
Geschichte handelt von der dunklen Gefahr, daß jemand – so wie der Sandmann –
die Augen trübt bzw raubt. Nathanael fürchtet, das Augenlicht zu verlieren,
darin steckt eine Todesdrohung. In der zweiten Hälfte der Geschichte geht es
nicht mehr nur um Augenraub, sondern darum daß anstelle des natürlichen Blicks
ein künstlicher eingesetzt wird. Indem Nathanael durch das Fernrohr schaut ,
wird sein eigener Blick entfremdet, er wird künstlich, während umgekehrt die
mechanische Frau Olimpia eine falsche Lebendigkeit erhält. Es findet also ein
Pervertierung statt: Das Lebendige-Beseelte und das Mechanisch-Künstliche
tauschen die Plätze.
Sprecher:
Aber – so
fragt man sich - ist das nicht eine sehr
präzise Vorwegnahme dessen, was sich heute vollzieht, wenn unsere Wahrnehmung
immer weniger unmittelbar geschieht, sondern zunehmend über Agenturen wie
Fernsehen, Kino, Video und Werbung mit vorgefertigten Bildern vermittelt wird.
Aus dieser Perspektive sieht Gunter Gebauer den Sandmann:
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Hier wird
das Motiv des Mediums angesprochen, durch das ein Mensch seine Umwelt sieht,
d.h. die Augen werden nicht mehr nur betrachtet als ein natürliches Organ, als
etwas, was jedem Menschen gegeben ist, sondern als etwas, was medial verwendet
wird, auch hier sehe ich E.T.A. Hoffmann sehr prophetisch schreiben, ... das
ist eine unglaublich beunruhigende Botschaft, die E.T.A. Hoffmann hier
formuliert hat. Und nun brauchen wir für das Medium des falschen Auges nur das
Medium des Auges, das uns die Welt sehen läßt, einzusetzen, so etwas wie
Fernsehapparate usw. Wir Modernen wissen natürlich Bescheid, wie sich dieses
Medium entwickelt hat, und man sieht, wie unbelebte Objekte, tote Objekte, tote
Menschen, Puppen, Mechaniken, Artefakte zum Leben erweckt werden. Es werden
Menschen gemacht, mit Leben ausgestattet, indem wir sie mit einem solchen
künstlichen Blick betrachten, d.h. unter Umständen ganz banale Menschen werden
wahrgenommen als großartige Gestalten, sie werden verklärt, sie erhalten einen
Charakter, der ihnen als normalen Menschen überhaupt nicht zukommt, z.B. Stars,
die Heiligen des Medienzeitalters, die Ikonen usw., die nichts anderes sind als
Bilder. Diese Bilder würden für sich allein nicht leben, aber betrachtet durch
die künstlichen Blickmedien, durch die Photographie, durch vor allem das Medium
Fernsehen, aber auch schon der Film ist dazu zu rechnen, erhalten sie eine
Lebendigkeit, die so gar nicht in diesen Medien steckt.
Sprecherin:
E.T.A.
Hoffmann sensibilisiert für die Wirkungsweise der Medien. Nathanael schaut
durch das Fernrohr und verguckt sich dabei in die Puppe Olimpia. Das Fernrohr
ist nicht nur ein technisches Hilfsmittel, das den Vorgang des Sehens lediglich
in einer quantitativen Dimension betrifft, indem es Entfernungsverhältnisse überbrückt.
Das Fernrohr setzt vielmehr den Menschen in ein anderes Verhältnis zur Welt und
zum Mitmenschen. Es schafft eine Scheinnähe, die vor allem das menschliche
Begehren betrifft.
Sprecher:
Das Teleskop
präsentiert Olimpia genauso wie die Medien den Star. Fernsehen, Kino, Reklame
holen den Star in unsere Nähe und entrücken ihn zugleich ins Unnahbare. Der
Star drängt sich unseren Augen auf und verweigert sich zugleich jeglicher
Beziehung. Er kann nur angeschaut, nicht angesprochen, nicht berührt werden. In
dieser Spannung verfängt sich das Begehren. Ihm erscheint besonders kostbar und
attraktiv, was sich zeigt und zugleich entzieht. Es möchte das nur Angeschaute
besitzen.
Sprecher:
Die hölzern
wirkende, sprachlose Puppe Olimpia war noch relativ leicht zu durchschauen,
heute präsentieren die Medien gelungenere Kunstgeschöpfe. Sie bieten immer
perfektere Bilder des Menschen. Doch gerade damit befördern sie tendenziell ein
inhumanes Menschenbild. Denn Menschen sind gebrechliche, unvollkommene
Lebewesen.
O-Ton,
Gunter Gebauer:
Wir haben
alle ein Idealbild davon, was eine körperliche Intaktheit ist, wir wissen aber
nicht, was wir mit Menschen anfangen sollen, die diese körperliche Intaktheit
nicht haben, also die künstliche Organe haben, es ist immer wieder etwas
Eigenartiges, wenn es aufstößt, wenn man jemandem begegnet, dem ein Herz
implantiert worden ist - ich habe solch ein Erlebnis gehabt, ich fand das sehr
beunruhigend, andrerseits auch natürlich etwas, was einen mit Glück erfüllt,
wenn jemand, der unter normalen Umständen gestorben wäre, noch etliche Jahre
weiterleben kann, aber es hat natürlich etwas Beunruhigendes.
Und ich
denke, wenn man Kindern begegnet, die in der Retorte gezeugt worden sind, dann
wird man auch feststellen, daß es zunächst etwas Beunruhigendes hat, wenn die
normale Geschichte zwischen den Eltern fehlt, selbst wenn man das Menschen
nicht ansehen kann, aber es gehört eben auch eine gewisse Form der Intaktheit
der Lebensgeschichte und der Lebensvorgeschichte mit zum Menschen.
Ich glaube,
wir sind in große Probleme gekommen, dadurch daß wir diese Vorstellung von
Intaktheit immer noch haben, aber für unsere normale Begegnung mit Menschen
zunächst einmal aufgeben müssen, um andere Menschen, die nicht intakt sind,
anzuerkennen, ich glaube, das ist ein sehr wichtiges Problem in der Gegenwart.
Sprecherin:
Es geht um
das Menschenbild. Die traditionelle Philosophie – von Platon bis zur Aufklärung
- bestimmte den Menschen in Absetzung zum Tier. In der Moderne, seit Beginn der
Industriellen Revolution, hat sich die Frage verschoben. Das spezifisch
Menschliche ist seither in Relation zu den Abkömmlingen von Wissenschaft und
Technik zu bestimmen. Was ist lebendig – was ist künstlich, was ist menschlich und was nicht?
Sprecher:
Die
Literatur der Romantik hat als erste die
Ängste und Gefahren der neuen Entwicklung empfunden und literarisch
artikuliert. Die Metapher des kalten Herzens spricht die Herrschaft des
Ökonomismus an, wo sich die Gefühle abkühlen, wo das Herz versteinert, während
im Gegenzug das Geld zum lebendigen Wesen wird, dessen Ströme im
Gesellschaftskörper immer heißer pulsieren. Die Metapher des verlorenen
Schattens spricht Identitätsängste an, zumal solche, die mit der Ruhe- und
Rastlosigkeit unserer modernen Mobilität zusammenhängen. Das Bild des
Automatenmenschen schließlich ist Traum und Alptraum ineins, Traum, insofern
die Idee des sich selber schaffenden Menschen wie ein lange gehüteter
Zivilisationsmythos immer deutlicher hervortritt, und Alptraum, weil zum
Beispiel die Risiken der Gentechnologie betrachtet.
Sprecherin:
Die
Geschichten der Romantik bieten sich als Spiegel einer kulturellen
Selbstbefragung an. Sie operieren mit Bildern und Symbolen, die offen sind,
nicht mit abgeschlossenen Begriffen. „Das Wesen romantischer Dichtung ist
Werden.“ – schreibt der romantische Dichter und Gelehrte Friedrich Wilhelm
Schlegel, d.h. die Texte enden im Grunde nie, mit jeder Deutung gehen sie
weiter, mit jeder Lektüre beginnen sie wieder aufs neue ...