Sprecher:

Wer in eine Suchmaschine des Internet das Wort Gerechtigkeit eingibt, erhält leicht eine Liste, die mehrere hundert Links umfasst. Das Spektrum der Seiten reicht von Kirchen und religiösen Vereinigungen, über Parteien und politische Organisationen, Drittwelt- und Menschenrechtsgruppen, bis hin zu Bürgerinitiativen und Kleinaktionärsverbänden. Man stößt auf Veranstaltungskalender von Bildungsakademien, Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten und eine Fülle privater Webseiten.

 

Sprecherin:

Das Schlagwort soziale Gerechtigkeit dominierte den letzten Bundestagswahlkampf, und es prägt weiterhin Rentendebatten und Gesundheitsreform. Um Gerechtigkeit geht es bei der Bewältigung der DDR-Vergangenheit, bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter und bei der Vergeltung für die Terroranschläge in New York und Washington. Aber auch in der Verbitterung über eine ungerechte Weltordnung meldet sich verletztes Gerechtigkeitsgefühl, das dem Fanatismus und der Gewalt immer wieder neue Anhänger zuführt. 

 

Sprecher:

Jeder Mensch hat ein Gerechtigkeitsempfinden, von dem er intuitiv Gebrauch macht. Wo gegen dessen Maßstäbe verstoßen wird, ist man empört und innerlich auf den Barrikaden. Gerechtigkeit ist zugleich vielschichtig. Bei dem Versuch sie umfassend zu definieren, ergeht es uns wie Augustinus, als er das Phänomen Zeit begreifen wollte.  „Solange mich niemand danach fragt, weiß ich es; doch fragt man mich und soll ich es erklären, so weiß ich es nicht.“

 

Sprecherin:

Gerechtigkeit ist eine fundamentale Kategorie der Ethik und der politischen Philosophie seit ihren Anfängen. Schon Aristoteles bemühte sich um Differenzierung und erklärte, das die Rede von der Gerechtigkeit auf unterschiedliche Felder führt: Ein Bereich ist die gerechte Verteilung. Hier geht es da­rum, wem und nach welchen Kriterien bestimmte Güter und Lasten, Rechte und Pflichten vom Souverän zugeteilt werden.

 

Sprecher:

Einen anderen Bereich bilden die Austauschbeziehungen zwischen einzelnen Menschen, aber auch zwischen Individuen und Gruppen. Hier sollen Leistungen und Gegenleistungen irgendwelcher Art - seien es Waren, Geld, Dienste, Loyalitäten oder Anerkennungen - in einem gerechten, d.h. ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.

 

Sprecherin:

Drittens betrifft Gerechtigkeit den Bereich der Vergeltung: Welche Belohnung hat eine bestimmte Tat verdient, welche Strafe die Untat? Schließlich fordert man Gerechtigkeit für ein Verfahren selbst, für einen Prozess, in dem Entscheidungen getroffen werden. Hier bedeutet Gerechtigkeit soviel wie Fairneß.

 

Sprecher:

Offenbar stellt Gerechtigkeit eine politische und ethische Leitidee dar, sie ist immer im Spiel, wo es um das Miteinander von Menschen geht, in allen Epochen und Kulturen. In Krisen und Zeiten des Umbruchs jedoch wird das Thema besonders brisant. Die Zeit nach der Wende bis in die Gegenwart scheint eine solche Phase. An der Universität Potsdam hat man ein eigenes Zentrum für Gerechtigkeitsforschung eingerichtet, das bis jetzt von dem Psychologen Leo Montada geleitet wurde:

 

O-Ton, Leo Montada:

Ich habe mich sehr gefreut, dass dieses Zentrum 1994/95 eingerichtet worden ist. Die Universität Potsdam war nicht in der Lage, hier ein Forschungszentrum im engeren Sinne aufzubauen, denn das hätte zu viel Personal aus unterschiedlichen Disziplinen erfordert. Was wir gemacht haben, war, dieses Zentrum als Forum für einen interdisziplinären internationalen Austausch für Gerechtigkeitsforschung und Gerechtigkeitsfragen zu etablieren. Und dieses hat zu einer großen Anzahl von sehr interessanten Konferenzen und Symposien zu sehr unterschiedlichen Fragen geführt.

 

Sprecherin:

Probleme der deutschen Wiedervereinigung standen bis heute im Brennpunkt der Arbeit des Forschungszentrums: Symposien und Konferenzen thematisierten das erlittene Unrecht von Opfern des SED-Regimes, Verlusterfahrungen nach der Wende, den Wertewandel nach 1989. Weitere Themenschwerpunkte bildeten Gerechtigkeitsprobleme im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, die Gleichstellung von Frauen und auch das Problem umweltgerechten Handelns.

 

Sprecher:

Vor dem Zusammenbruch des Ostblocks rivalisierten zwei grundverschiedene Systeme in dem Anspruch, die bessere Gesellschaftsordnung darzustellen, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Nach dem Scheitern des Sozialismus steht das Modell der westlichen Demokratie anscheinend ohne Alternative da. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama provozierte mit der These, dass mit der liberalen Demokra­tie nunmehr die bestmögliche Ordnung gefunden und somit die Geschichte des Politischen an ihr Ende gelangt sei.

 

Sprecherin:

Doch die Euphorie von 1989 war schnell verklungen. In Deutschland machte das Wort von den Verlierern der Einheit die Runde. Im Osten und Südosten Europas wurde die Beschwerlichkeit des neuen Weges und seine Fährnisse dramatisch sichtbar. Ethnische und religiöse Konflikte, die im Kommunismus nicht wirklich beseitigt, sondern nur wie in einem Kühlschrank auf Eis gelegt waren, flackerten nicht nur im ehemaligen Jugoslawien wieder auf. Aufgrund der sozialen Härten des Umbruchs scheinen die Menschen in einigen postkommunistischen Ländern anfällig für eine Demagogie, die ihnen für erlittenes Unrecht und Frustrationen wohlfeile Sündenböcke liefert.

 

Sprecher:

Sündenböcke sind aber auch in den westlichen Ländern gefragt, in Deutschland – Ost und West – kam und kommt es immer wieder zu brutalen Übergriffen auf Ausländer und zu Anschlägen auf jüdische Einrichtungen. Die Anschläge verraten Ressentiments, dumpfe Gefühle des Zu-kurz-gekommen-seins, die man nicht nur im unmittelbaren Umfeld der Täter antrifft. Sind das auch Zeichen einer Erosion des westlichen Modells?

Axel Honneth, Sozialphilosoph an der Frankfurter Goethe-Universität  betont, das sich die Fragen, was gerecht und ungerecht ist, auf einer veränderten historischen Folie stellen:

 

O-Ton, Axel Honneth:

Wir haben es heute mit Ungerechtigkeiten zu tun, die natürlich auch schon vor 1989 bestanden haben. Vielleicht wird heute deutlicher, als es früher möglich war, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die kapitalistische Gesellschaft, die ja nun weltweit einen Siegeszug anzutreten scheinen, zumindest das Modell dieser Gesellschaften auch intern mit so vielen Problemen sozialer Gerechtigkeit verknüpft ist, wie das vorher zu durchschauen gar nicht möglich war, weil es immer den Systemfeind des Kommunismus gab. Das heißt alle normativen Probleme dieser Art konnten abgewälzt werden auf das System, das zumindest von außen noch viel ungerechter schien.

Also diese relative Überlegenheit der liberalen kapitalistischen Gesellschaften des Westens gegenüber denen des Ostens konnte vielleicht eine Zeitlang verdecken, das Maß an sozialer Ungerechtigkeit, mit denen wir es auch in unserer Ordnung zu tun haben.

 

Sprecherin:

Gerechtigkeitsfragen waren vor 1989 im Streit der weltanschaulichen Systeme gewissermaßen aufgehoben. Dort hatten sie einen festen Platz. Je nachdem, wie man zum Sozialismus stand, stellten sich die ideologisch vorgefertigten Antworten ein. In der Auflösung des Ost-West-Gegensatzes begannen die Gerechtigkeitsprobleme zu wandern, wurden drängender und virulent.

 

Sprecher:

Das härter gewordene soziale Klima der 90er Jahre und insbesondere die konstant hohe Arbeitslosigkeit ließen die Schwächen der liberalen Demokratien deutlich hervortreten. Es präsentiert sich eine Gesellschaft, die den einen immer dickere Gehälter zahlt, indem sie anderen die Arbeit wegnimmt und mit dem Arbeitsplatz zugleich die Lebensperspektive kassiert. Und im öffentlichen Raum mangelt es an Solidarität und Gemeinsinn, an Identifikation mit dem Gemeinwesen.

 

Sprecherin:

Die Fragen haben auch ein Echo im Spektrum der politischen Philosophie und der Sozialwissenschaften hervorgerufen. Gerechtigkeit ist ein Fokus ihrer Diskussionen, es hat sich zu diesem Thema eine Debatte entwickelt, an der auch Christoph Menke teilnimmt. Menke, der politische Philosophie und Ethik an der Universität Potsdam lehrt, sieht eine besondere Herausforderung in der neuen Diskussion über Gerechtigkeit:

 

O-Ton, Christoph Menke:

Man muss sie so führen, dass die Herausforderung, die früher von außen kam, die sozialistische oder kommunistische Idee von Gleichheit, das wir diese Herausforderung nicht zu vergessen haben, weil wir sie definitiv besiegt haben, sondern dass wir sie von innen an uns selbst stellen müssen, ..., also nicht jetzt: Hände in den Schoß legen und denken, jetzt haben wir definitiv gesiegt, und es ist vorbei, sondern gerade umgekehrt: Es wird eher beunruhigender, weil wir das nicht mehr nach außen abschieben können, sondern selbst mit uns auszumachen und zu diskutieren haben und was man sicher sagen muss, und was die ideologischen und geistigen Grundverständnisse unserer Demokratie angeht, ist eher mehr Unruhe entstanden als Stabilität seit 1989, das würde ich aber für etwas Gutes halten.

 

Sprecherin:

Die Wende 1989 gab die politischen Impulse für die neue Gerechtigkeitsdebatte, aber ihre philosophische Initiierung datiert weiter zurück, ins Jahr 1972. Damals veröffentlichte der amerikanische Philosoph John Rawls ein Buch mit dem Titel Theorie der Gerechtigkeit. Es beginnt mit den Worten:

 

Zitator:

"Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Insti­tutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallengelassen oder abgeändert werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionie­rende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird. Sie ge­stat­tet nicht, dass Opfer, die einigen wenigen auferlegt werden, durch den größeren Vorteil vieler anderer aufgewogen werden. ... Als Haupttugenden für das menschliche Handeln dulden Wahrheit und Gerechtigkeit keine Kompromisse."

 

Sprecherin:

Sofort nach ihrem Erscheinen sorgte Rawls’ Theorie für Aufsehen in intellektuellen Kreisen. Sein Ansatz weckte die vor sich hin dämmernde politische Philosophie zu neuem Leben. Gerechtigkeit, so seine Theorie, bilde den Maßstab, an dem jede gesellschaftliche Ordnung zu bewerten sei.

Christoph Menke :

 

O-Ton, Christoph Menke:

Das Besondere an Rawls ist, dass er den grundlegenden Gedanken der Gerechtigkeit der neuzeitlichen politischen Philosophie und Praxis wiederaufgenommen und wieder ins Spiel gebracht hat. Ich würde nicht sagen, dass der zentrale Gedanke neu ist,  das Neue ist eher, mit neuen Mitteln einen alten Gedanken zu reformulieren, und dieser alte Gedanke, der weiterhin Aktualität hat, ist die Idee, dass Gerechtigkeit in einer bestimmten Idee von Gleichheit besteht. Der zentrale Gedanke der neuzeitlichen Konzeption von Gerechtigkeit ist zu sagen, Gerechtigkeit besteht nicht mehr darin, dass jedem das Seine gegeben wird, sondern im Grunde jeder gleich viel gilt, und damit auch im gleichen Maße Berücksichtigung zu erfahren hat.

Das waren die Grundideen auch der neuzeitlichen politischen Revolutionen, auch der Frz. Revolution, usw. Und dieser Gedanke, so einfach und grundlegend er klingt, war in der politischen Philosophie längere Zeit nicht präsent, und wurde nicht in seiner Konsequenz gedacht, wie es seiner Bedeutung entsprach in der politischen Praxis.

 

Sprecher:

Die Menschen sind von Natur aus frei und gleich. Gleichheit ist die moderne Kernidee von Gerechtigkeit, wie Rawls herausarbeitet und klarstellt. Denn das alte, aus der Antike stammende Gerechtigkeitsprinzip Suum cuique - Jedem das Seine ist problematisch. Dieser Grundsatz, den schon Aristoteles aufstellte und später Cicero - man solle jedem geben, was ihm zukommt - ist oft als willkommene Leerformel ausgenutzt worden. Hierarchische Gesellschaften, auch  Diktaturen haben das Wort missbraucht, um damit ihre Ungleichbehandlungen und Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen. Den Zynismus auf die Spitze trieben die Nationalsozialisten, als sie den Wahlspruch „Jedem das Seine“  am Lagertor des KZ Buchenwald anbrachten.

 

Sprecherin:

Rawls’ Konzeption von Gerechtigkeit hebt dagegen bei den unveräußerlichen Grundrechten des freien und gleichen Individuums an. Wie ist eine Ordnung denkbar, - so fragt er weiter - die diese Grundrechte wahrt, und nicht durch Macht und partikulare Interessen dergestalt verzerrt, dass die einen begünstigt und die anderen benachteiligt sind?

 

Sprecher:

In seinem Antwortversuch greift Rawls auf die Idee des Gesellschaftsvertrages zurück, wie man es von Hobbes, Locke und Rousseau kennt.

Die Menschen sollen über die normativen Grundsätze der gesellschaftlichen Ordnung beraten und verhandeln - in einer Art fiktivem Urzustand, so als ob „niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft.“ Denn unter diesem ‚Schleier des Nichtwissens’ - so Rawls’ Überlegung - muss jeder gewärtigen, dass er vielleicht selbst zu den Armen und Schwachen gehört; er wird also nur solchen normativen Grundsätzen seine Zustimmung geben, die auch für die schlechter Gestellten günstig sind. Rawls’ Bild vom Schleier des Nichtwissens meint also nichts anderes als das Prinzip der Unparteilichkeit.

 

Sprecherin:

Indem Rawls diese Fiktion eines Urvertrags unparteilicher Individuen durchspielt, gelangt er zu zwei Grundsätzen. Der erste Grundsatz erklärt und bestätigt fundamentale Menschen- und  Bürgerrechte, die jedem zuzuerkennen sind: körperliche Unversehrtheit, persönliches Eigentum, Gedanken- und Gewissensfreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit, Wahlrecht und das Recht, öffentliche Ämter zu bekleiden.

Der zweite Grundsatz hält fest: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, die Rawls nicht ausschließt, seien nur insoweit anzuerkennen und hinzunehmen, als sie den am schlechtesten Gestellten den größtmöglichen Vorteil bringen.

 

Sprecher:

Hier geht es also um soziale Gerechtigkeit: Doch wie soll man Rawls verstehen? Formuliert er aufs neue das alte liberalistische Credo: Das Profitstreben des Unternehmers sei gerechtfertigt und sogar gutzuheißen, weil es sich auf dem Markt zum Nutzen aller auswirkt - kurz: das Wohl des Einzelnen bringe das Gemeinwohl hervor. Menke liest Rawls in diesem Punkt jedoch anders und  entdeckt einen sozialdemokratischen Einschlag.

 

O-Ton, Christoph Menke:

Was man liberalistisch oder liberal nennen kann an Rawls, ist zunächst einmal die strikte Vorordnung der liberalen Freiheitsrechte vor den sozialen Rechten. Rawls würde immer sagen, soziale Rechte, soziale Gleichheit sind schön und gut, aber immer nur, wenn sie nicht auf Kosten der liberalen Grundrechte gehen. Das ist das klassisch Liberale. Andrerseits ist er nicht mehr klassisch liberal darin, dass er dieses Vertrauen des Liberalen in das Von-selbst-Funktionieren des Marktes hat. Man muss sich das auch vorstellen: er ist ein Amerikaner, und im amerikanischen Kontext sind alle Arten von staatlicher Intervention in die Wirtschaft sehr viel ungewohnter – außer wenn man diese kurze Phase des New Deals betrachtet – als wir dass im europäischen Kontext, und zwar nicht nur sozialdemokratisch kennen. Und er würde schon sagen, es darf politische Intervention in den wirtschaftlichen Raum hinein geben, um dieses Differenzprinzip sicherzustellen.

 

Sprecherin:

So gesehen sucht Rawls in seinem Entwurf einer gerechten Ordnung liberale und sozialorientierte Ideen, Konzepte eines neutralen Staates und solche des Wohlfahrtsstaates zusammenzubringen, auf diese Weise auch amerikanische und europäische Traditionen zu verbinden.

Sein vielbeachteter Ansatz der Gerechtigkeit als Gleichheit hat aber auch Kritik hervorgerufen. So wandte der amerikanische Philosoph Michael Walzer ein, Rawls’ Vorstellung von Gleichheit sei viel zu abstrakt und deshalb für die Grundlegung einer gerechten Ordnung untauglich, wie Christoph Menke erläutert.

 

O-Ton, Christoph Menke :

Ein Einwand, der stark erhoben worden ist, von Michael Walzer, ... ist der Gedanke, dass die Idee der Gleichheit oder der Gerechtigkeit nach – wie er sagt – Sphären differenziert werden muss. Gerechtigkeit heißt im Bereich der Ämter oder im Bereich der Ökonomie oder der Medizin jeweils etwas ganz anderes. Es kann keine strikte Gleichverteilung in diesen verschiedenen Bereichen geben, sondern – dass jeder das gleiche bekommt, heißt in der medizinischen Versorgung durch Krankenkassen nicht, dass jeder genauso viel Mittel für Medikamente bekommt, sondern dass das nach Bedürftigkeit abgestuft wird, also Gleichverteilung im Medizinischen heißt Ungleichverteilung, sonst ist es nicht gerecht.

Es heißt aber im Bereich des Wahlrechts, dass jeder eine Stimme hat, hier herrscht Gleichheit gewissermaßen im wörtlichen und direkten Sinne, und so eine Differenzierung, auf die Walzer hingewiesen hat, sind sicher sehr wichtig. Also der generelle Gedanke der Gleichheit muss je nach Region der Gesellschaft differenziert werden, sonst ist er sinnlos.

 

Sprecher:

Man kann Walzers Differenzierung fortsetzen. Im Bereich von Bildung zum Beispiel macht Gleichheit offensichtlich nur Sinn, wenn man sie nicht als Plädoyer für ein starres Einheitsschulsystem versteht, sondern als Chancengleichheit auslegt, mit speziellen Förderungsmöglichkeiten für Schwache ebenso wie für besonders Begabte.

 

Sprecherin:

Damit aber schafft der Gedanke der Gleichheit, wenn man ihn nach gesellschaftlichen Sphären ausdifferenziert, ein inneres Spannungsfeld. Wie verhält sich politische Gleichheit zu wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden. Anders gesagt: wie viel soziale Gleichheit ist möglich? Das sind keine bloß theoretischen Fragen, sie berühren unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der Geschichte aufeinander stoßen. 

 

O-Ton, Christoph Menke:

Letztes Jahr ist ein interessantes Buch von Wolfgang Engler „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land“ erschienen, und in dem vertritt er die These, die ich sehr interessant finde, dass er das Verhältnis von Ost und West so zu beschreiben versucht, dass wir auf der einen Seite so etwas wie die Idee politisch-rechtlicher Gleichheit und auf der anderen etwas wie die Idee sozialer, ökonomischer auch kultureller Gleichheit haben. Und so sieht er darin eine unterschiedliche Deutung des Gleichheitsgedankens der Moderne, die er zunächst einmal  mit einem polemischen Zug nebeneinander stellt, ohne schon über den Vorrang zwischen ihnen zu entscheiden. Das finde ich einen wichtigen Punkt, ich glaube dass das eine sehr genaue Nachzeichnung der Befindlichkeiten zwischen Ost und West ist, die viele Irritationen auflösen kann, weil tatsächlich jeweils Gleichheit für einen der beiden Bereiche für wichtig gehalten wird, und sie ein Stück weit auch von den Menschen selbst, die jeweils aus einer dieser beiden Perspektiven kommen, gegeneinander ausgespielt werden.

 

Sprecher:

Lassen sich politisch-rechtliche Gleichheit und soziale Gleichheit verbinden? Man könnte sich eine Diskussion zwischen einem Liberalisten und einem Marxisten vorstellen: Man muss um willen politischer und rechtlicher Gleichheit auf die kommunistische Vision einer weitergehenden sozialen und ökonomischen Gleichheit verzichten. Denn ökonomische Gleichheit ist nur über autoritäre Maßnahmen zu erlangen, sie führt zu einem Regime, das die politische und rechtliche Gleichheit letztendlich zugrunde richtet – so die liberalistische Argumentation.

 

Sprecherin:

Und die marxistische Entgegnung wäre:  Politisch-rechtliche Gleichheit allein ist nichts wert. Wenn sie nicht mit sozialer Gleichheit verbunden ist, verkümmert sie zu einem konsequenzlosen Ritual der Stimmabgabe.

 

Sprecher:

Man darf allerdings nicht dem Klischee erliegen, alle Ostdeutschen würden grundsätzlich auf sozialer Gleichstellung beharren und dementsprechend egalitaristischen Vorstellungen anhängen, während Westdeutsche in jedem Fall soziale Unterschiede gutheißen, zum Beispiel in Fragen des Einkommens. Dem widerspricht das Ergebnis einer empirischen Umfrage zur sozialen Gerechtigkeit, die der Berliner Soziologe Bernd Wegener jüngst durchführte. Die Umfrage offenbarte zum Beispiel, dass die Frauen der früheren DDR stärker auf das Leistungsprinzip setzen als ihre westdeutschen Geschlechtsgenossinnen. Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, dass Frauen in Ostdeutschland stärker berufstätig waren als in Westdeutschland.

Für eine Gerechtigkeitstheorie wird dabei aber eine fundamentale Frage aufgeworfen, wie der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth ausführt:

 

O-Ton, Axel Honneth:

Ein ganz heikler Punkt, und auch diskutiert im Augenblick in der politischen Philosophie und in der Gerechtigkeitstheorie ist die Frage, ob eigentlich das Prinzip des Verdientstes, der Leistung, für eine Gerechtigkeitstheorie von Bedeutung sein muss.

Rawls ist entschieden der Meinung, dass das Prinzip des Verdientstes für eine Gerechtigkeitstheorie unerheblich sein soll, das hat bei ihm verwickelte Hintergründe philosophischer Natur, ... wir können aber mit guten Gründen sagen, dass die Subjekte selber intuitiv die Vorstellung haben, dass bestimmte Leistungen, besonderes Engagement etwa in Arbeitszusammenhängen vielleicht auch höher bewertet werden sollte als mindere Leistungen. Sobald wir diesen Schritt machen, bringen wir ein ganz anderes Gerechtigkeitsprinzip ins Spiel, was auch eine lange Tradition hat, und auch im übrigen zur moralischen Kultur moderner Gesellschaften gehört, nämlich die Idee der Leistungsgerechtigkeit. Auch die spielt bei Rawls keine Rolle, aus vielleicht guten Gründen. Aber ich finde, es entsteht die ernsthafte Frage, ob wir nicht unser Gerechtigkeitskonzept pluraler anlegen sollen, dass wir eine Pluralität von Gerechtigkeitsprinzipien für den Ingebegriff dessen halten, was wir unter modernen Bedingungen als Gerechtigkeit definieren.

 

Sprecher:

Neben dem Prinzip der Gleichheit, das Rawls so überzeugend dargelegt hat, entdeckt man nämlich weitere Kriterien, die in Fragen der Gerechtigkeit herangezogen werden, vor allem das Leistungsprinzip: Jemand soll mehr bekommen, weil er mehr geleistet hat. Es gibt aber noch weitere Kriterien, zum Beispiel die Bedürftigkeit.

Deshalb ist Gerechtigkeit selbst im  überschaubaren Rahmen einer Familie problematisch: Welche Kriterien sollen im Erbfall angewandt werden? Bekommt jedes Kind gleich viel – nach dem Prinzip der Gleichheit - oder aber jedes Kind das, was es braucht – nach dem Prinzip der Bedürftigkeit. Beide Kriterien führen eventuell zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.

 

 

O-Ton, Axel Honneth:

Wir reden davon, dass es in Familien gerecht zugehen soll, wir würden vielleicht sogar sagen, dass wir uns in Freundschaften gerecht verhalten sollen, alles das sind Verwendungsweisen des Begriffs Gerechtigkeit – hier passt die Idee der sozialen Gleichheit nicht mehr richtig, weil wir hier doch mit einer ganz anderen Vorstellung operieren. Wir operieren mit der Vorstellung, dass wir unseren Kindern, aber auch unseren Liebespartnern oder unseren Freunden etwas anderes schulden als die Einräumung ihrer Autonomie. Hier haben wir eher die Vorstellung, dass wir ihrer Bedürftigkeit jeweils sehr konkret gerecht werden müssen.

Und die Vorstellung, dass Gerechtwerden auch heißt, der Bedürftigkeit eines konkreten Subjekts in all ihren Facetten gerecht zu werden, führt hin zu der Idee - die auch philosophisch immer eine gewisse Rolle gespielt hat – der Fürsorge oder der liebevollen Zuwendung, die glaube ich aus dem Spektrum der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie vollständig herausfällt.

 

 Sprecher:

Axel Honneth überschreitet hier die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie. Rawls liefert ein monolitsches Konzept, das allein auf der Idee der Gleichheit fußt. Honneth plädiert für einen pluralistischen Ansatz. Er möchte jedoch nicht so weit gehen wie Michael Walzer, der für verschiedene gesellschaftliche Bereiche eigene von den anderen vollständig getrennte Prinzipien in Geltung setzt. In Honneths Entwurf regiert eine Trias von Prinzipien: Gleichheit, Verdienst und Fürsorge, oder anders gesagt: Egalität, Leistung und Bedürftigkeit.

 

Sprecherin:

Natürlich stellt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Prinzipien im konkreten Fall gewichtet werden sollen. Außerdem zeichnet sich ab, dass je nach Situation weitere ergänzende Kriterien und Gesichtspunkte für eine gerechte Lösung herangezogen werden müssen. Ein pluralistisches Konzept offenbart, dass Gerechtigkeit eine komplexe Angelegenheit darstellt. Der Trierer Psychologe Leo Montada, einer der führenden Theoretiker der Gerechtigkeitsforschung, erläutert, welche Problematik sich auftut:

 

O-Ton, Leo Montada:

Wir haben Prinzipien der Gerechtigkeit, aber viele Prinzipien der Gerechtigkeit, und diese verschiedenen Prinzipien der Gerechtigkeit führen nicht zu gleichen Lösungen in der Verteilungsgerechtigkeit: Wonach soll verteilt werden? Sollen alle das gleiche bekommen? Soll die Leistung eine Rolle spielen? Die Bedürftigkeit? Die Leistungsfähigkeit? Soll der bisherige Besitzstand eine Rolle spielen? Soll das Alter eine Rolle spielen, soll die Mitgliedschaft eine Rolle spielen? ... Da gibt es viele verschiedene Prinzipien. Keines dieser Prinzipien ist ganz falsch, sondern alle haben ihre guten Begründungen, aber wenn man sie anwendet, führen sie zu ganz unterschiedlichen Lösungen.... Wenn jemand kommt und sagt, ich weiß was gerecht ist, dann denkt er normalerweise sehr kurz, er denkt an ein einziges Prinzip und will dieses Prinzip durchsetzen – und das bedeutet, dass alle anderen verletzt werden, das kann die Lösung nicht sein. Das ist sie ganz selten. Es geht in einer gesellschaftlichen Konsensfindung darum, dass man Regelungen findet, in denen nach Möglichkeit mehrere dieser Prinzipien, die für wichtig gehalten werden, berücksichtigt werden, d.h. wir brauchen eine Mixtur verschiedener Gerechtigkeitsprinzipien.

 

Sprecher:

Fazit: Rawls Gleichheitsgedanke führt nicht unmittelbar zu Gerechtigkeit. Im Gegenteil: würde man bei einer Verteilung allen in stupider Weise das Gleiche geben, Fleißigen wie Faulen, Wohlhabenden wie Bedürftigen, Gesunden wie Kranken – so landete man in einer groben Ungerechtigkeit. Also müssen bei der Gleichheit die Unterschiede der Person, die Besonderheiten ihrer Lage Berücksichtigung finden.

Aber heißt das nicht – konsequent weitergedacht – die Aristotelische Formel ‚Jedem das Seine’ zu rehabilitieren? – Axel Honneth.

 

O-Ton, Axel Honneth:

Die Idee, dass Gerechtigkeit heißt, jedem das Seine zu geben, diese Kernvorstellung des aristotelischen Gerechtigkeitsvorstellung, die finde ich deswegen noch nicht ganz klar oder auch in sich auch bestimmt, weil wir noch nicht genau wissen was es heißt, dem Einzelnen das Seine zu geben, ich glaube, was dort das Seine heißt, wird erst wieder klar, im Hinblick auf bestimmte Prinzipien, das Seine kann sehr unterschiedliches heißen, .... wir können dem Einzelnen das Seine geben wollen, im Hinblick auf seine Bedürftigkeit. Wir können dem Einzelnen das Seine geben wollen, Im Hinblick auf seine soziale Gleichstellung. Da sieht man schon, dass dieses ‚das Seinige geben’ inhaltlich nur konkret wird, und eine Anweisung enthält, wenn man den Gesichtspunkt hinzufügt, unter dem man das Seinige bemessen möchte.

 

Sprecherin:

Die Aristotelische Maxime ‚Jedem das Seine zu geben’ kann nicht an die Stelle des modernen Gleichheitsprinzips treten, das Rawls so überzeugend dargelegt Sie könnte jedoch die Idee der Gleichheit ergänzen und konkretisieren, um der Besonderheit des Einzelnen, seiner Lage, seinen Leistungen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Voraussetzung wäre allerdings, immer die Kriterien auszuweisen, wonach das sogenannte Seinige bemessen wird. Nur so wäre die Verwendung der alten Formel vor Willkür und diktatorischem Missbrauch gefeit.

 

Sprecher:

In dieser Weise würde der Rekurs auf Aristoteles auch einer allzu uniformistischen Lesart Rawls vorbeugen und zu einem pluralistischen Gerechtigkeitskonzept beitragen: man könnte Rawls’Grundsatz der Gleichheit mit Aristoteles’ Kriterium der Besonderheit zu der Maxime verbinden: Unter gleichen jedem das Seine zu gewähren.

 

Sprecherin:

Die Formulierung darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, das in einer pluralistischen Konzeption von Gerechtigkeit unmittelbar das Problem auftaucht, wie die vielfältigen Unterschiede und besonderen Situationen der Menschen berücksichtigt und zueinander gewichtet werden sollen. Mit anderen Worten: hier beginnt eine Konkurrenz der Gerechtigkeitskriterien, wie sich an Fallbeispielen leicht demonstrieren lässt: 

 

Sprecher:

Wenn etwa betriebsbedingte Entlassungen notwendig sind, nach welchen Kriterien sollte die negative Entscheidung erfolgen? Was würde man als halbswegs gerechte Lösung akzeptieren?

Sollte man diejenigen entlassen, die noch nicht so lange dem Betrieb angehören? Das hieße, nach dem Senioritätsprinzip verfahren. Oder sollte man denjenigen kündigen, die weniger leisten? – Leistungsprinzip. Oder  jenen, die keine Verantwortung für eine Familie tragen? – Bedürftigkeit. Nicht bedürftig wären aber auch die, die anderswo sehr schnell einen Arbeitsplatz finden können. Und so weiter.

 

Sprecherin:

Nach welchem Prinzip auch verfahren wird, immer dürfte es Kritik geben. Wenn aber in sozialen Systemen ausschließlich nach einem Kriterium unter Missachtung aller anderen entschieden würde, wäre der soziale Friede empfindlich gestört. Soziale Gerechtigkeit entsteht erst dadurch, dass die verschiedenen Kriterien wie Leistung und Leistungsfähigkeit, Bedürftigkeit, Seniorität, Mitgliedschaft usw. in ein ausbalanciertes Verhältnis gebracht werden. Leo Montada kritisiert, dass dies in wichtigen Bereichen in der Bundesrepublik nicht der Fall sei. Es gebe gewaltige Schieflagen.

 

O-Ton, Leo Montada:

Ich persönlich sehe eine ganze Anzahl von Schieflagen, in ganz unterschiedlichen Feldern, eine der Schieflagen ist beispielsweise sowohl durch Tarifverträge, als auch durch Gesetze eine Privilegierung von Insidern im Bereich der beruflichen Arbeit gegenüber den Outsidern. Die Outsider sind diejenigen, die Arbeit suchen, die Insider sind diejenigen, die drin sind. Und wir haben hier beispielsweise durch Arbeitsschutzgesetze eine Privilegierung derjenigen, die drin sind. Die Kündigungsschutzgesetze schützen diejenigen, die drin sind, aber sind häufig für diejenigen, die draußen sind, die Arbeit suchen, eine zusätzliche Barriere. Die Arbeitgeber scheuen sich, jemanden aufzunehmen, der durch besondere Schutzgesetze vor Entlassung geschützt ist, auch wenn er oder sie wenig leistet. Auch die Tarifverhandlungen werden nicht geführt, um die Arbeitslosen in Arbeit zu bringen, sondern um diejenigen, die drin sind, besser zu stellen bezogen auf Entlohnung, auf Arbeitsplatz, auf Urlaubsregelungen und vieles mehr.

 

Sprecherin:

Leo Montada hat eine kurze Schrift mit dem Titel „Gerechtigkeit im Wandel. Zehn Thesen“ veröffentlicht, wo er nicht nur die Finger in die Wunde bundesrepublikanischer Politik legt, sondern auch sehr konkrete Forderungen im Blick auf mehr soziale Gerechtigkeit erhebt. In einer These heißt es:

 

Zitator:

„Der Generationenvertrag ist entgegen seiner ursprünglichen Konzeption weitgehend als Zweigenerationenvertrag (zwischen Erwerbstätigen und Rentnern) implementiert. Es muss ein Dreigenerationenvertrag sein. Kinder und Jugendliche müssen mit gleichem Gewicht berücksichtigt werden, jedenfalls bei Fortführung der öffentlichen Sozialversicherungen als Umlagesysteme. Mit dem heutigen Umlagesystem haben wir eine Ausbeutung von Familien mit Kindern, trotz Kindergeld, Steuererleichterung und staatlichen Ausgaben für Schulen.“

 

O-Ton, Leo Montada:

Wir haben den Generationenvertrag nicht wirklich gerecht realisiert, wenn man das täte, wäre es ein Dreigenerationenvertrag, und das würde heißen, dass die Investitionen in die Leistungsträger der Zukunft, also die Investition in die Kinder auf die Gemeinschaft verteilt sein müsste, und das ist nicht der Fall.

Wir können – um es drastisch auszudrücken – die heutige Situation, obwohl ein bisschen gebessert durch die Intervention des Verfassungsgerichtes, als eine Ausbeutung bezeichnen.  ... Diejenigen, die in Kinder investieren und damit sozusagen für die Versicherungssysteme der Zukunft viel leisten, sind wirtschaftlich schlechter gestellt als diejenigen, die sozusagen Trittbrettfahrer sind, die von künftigen Leistungen der heutigen Kinder profitieren werden, ohne selber hier zu investieren, und das ist eine Situation, die man als Ausbeutung bezeichnen kann, d.h. die Familien mit Kindern werden ausgebeutet von den Singles und den Paaren ohne Kinder.

 

Sprecherin:

Montada fordert aber nicht nur eine gerechtere und effizientere Politik zugun­sten der Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen und eine bessere Familienpolitik, er prangert auch überzogene Unterstützung und ungerechtfertigte Besserstellungen an, so zum Beispiel die Fortsetzung der Subvention des Kohlebergbaus. Hier würde zugunsten der Bergleute das Prinzip der Besitzstandswahrung überstrapaziert. Montada kritisiert:

 

Zitator:

„Die Bergleute wollen ihre Besitzstände – ein Subventionsprivileg – erhalten, das andere mit gleichem Recht fordern könnten....Wenn Arbeitsplätze für alle 4,5 Millionen Arbeitslosen mit je DM 100.000 pro Jahr subventioniert würden, wäre der Bundeshaushalt erschöpft.“

 

Sprecher:

Ein kritisches Licht wirft Montada auch auf die gegenwärtige Struktur der Sozialhilfe.

 

O-Ton, Leo Montada:

Die Sozialhilfe ist zu Recht in einer dauernden Diskussion - ein schwieriges Feld. Aber wenn die Sozialhilfe in der Tat als soziale Hängematte wirkt, und der Anreiz entfällt sich selbst zu helfen, dann wird es problematisch. Jetzt haben wir allerdings in diesem Feld ganz unterschiedliche Fälle: Etwa die Unterstützung von Familien mit Kindern über die Sozialhilfe, da geht es primär um die Entwicklung der Kinder, und diesen Kindern eine Chancengleichheit zu gewähren. Also die Sozialhilfeempfänger, die hier gemeint sind, sind eigentlich die Kinder und nicht die Eltern, die vielleicht sich wirklich mehr anstrengen könnten, um in das Arbeitsleben integriert werden zu können.

Aber im Grundsatz und von der Konstruktion her sollte in jeder Solidargemeinschaft geklärt sein, dass es eine primäre Pflicht gibt, für sich selbst zu sorgen, Kosten von der Allgemeinheit fernzuhalten – das gilt für alle Versicherungsgemeinschaften, auch für die Krankenkassen. Ich wäre schon zufrieden, wenn in der Debatte um das, was gerecht ist, nicht nur Rechte genannt würden, sondern auf den eigentlich selbstverständlichen Tatbestand hingewiesen wird, dass Rechte und Pflichten aufeinander bezogen sind. Und das Rechte entstehen aus erfüllten Pflichten, und dass selbstverständlich die Pflicht besteht, sich um Arbeit zu kümmern und sich nicht auf die Sozialhilfe zu verlassen.

 

Sprecherin:

Der Mentalität, überall Ansprüche zu stellen, sämtliche Rechte geltend zu machen und dabei das Gemeinwesen wie eine Serviceeinrichtung anzugehen, begegnet man keineswegs nur in den unteren sozialen Schichten. Es scheint vielmehr, dass jede Schicht ihre speziellen Methoden und Tricks entwickelt hat, um sich bei der Allgemeinheit zu bedienen. Unter den Beziehern hoher Einkommen verfolgen nicht wenige die Strategie, mit Hilfe eines guten Steuerberaters über raffinierte Abschreibungsmodelle sich möglichst arm zu rechnen. Die rot-grüne Bundesregierung hat bei ihrem Antritt ein Gesetz zur Mindeststeuer erlassen, das allerdings juristisch umstritten ist. Es soll verhindern, dass Gewinne in einer Einkommensart durch Verlust in einer anderen Einkommensart, z.B. durch Immobilienerwerb unbegrenzt gegengerechnet werden dürfen.

 

Sprecher:

Umstritten ist nicht nur das Gesetz einer Mindestbesteuerung, strittig bleibt jede Wertung, auch die Montadas, wo und wie im einzelnen soziale Gerechtigkeit verfehlt wird. In einer komplexen Gesellschaft, die sich zudem dynamisch verändert, kann es nur darum gehen, ein fragiles Gleichgewicht immer wieder neu herzustellen. Darüber wird und muss es in einer Demokratie Diskussion und Streit geben, bei dem sich freilich jene Gruppen, die keine Lobby besitzen, kaum Gehör verschaffen können.

Der demokratische Streit über die konkrete Bestimmung und Gewichtung von Gerechtigkeitsgrundsätzen bleibt dabei unumgänglich, auch die Philosophie kann der Gesellschaft diese Auseinandersetzung nicht abnehmen. Das wäre ein Missverständnis dessen, was Philosophie leisten soll und kann, erläutert Axel Honneth:

 

O-Ton, Axel Honneth:

Zu erwarten dass eine Gerechtigkeitstheorie bereits die politischen Anweisungen mitenthält, nach denen konkrete Gerechtigkeitsprobleme vor Ort gelöst werden müssen in unterschiedlichen sozialen Sphären, scheint mir einfach eine Überanstrengung oder auch Überfrachtung dessen, was politische Philosophie oder auch Theorie, das intellektuelle Geschäft des Gerechtigkeitsentwurfes überhaupt vermag.... Die Aufgabe der Explikation von Prinzipien – auch im Sinne der Begründung und der möglichst genauen Ausbuchstabierung eines oder mehrerer Gerechtigkeitsprinzipien in den Konsequenzen scheint mir die primäre, vielleicht sogar die einzige Aufgabe. ... Nur – was da genau die gerechte Anwendung bedeuten könnte, lässt sich nicht von der Theorie aus vorweg bestimmen, das ist überlassen einerseits der möglichst demokratischen Willensbildung vor Ort, der Berücksichtigung aller Interessen an dem konkreten Platz, an dem Gerechtigkeitsprobleme gelöst werden müssen, d.h. hier spielt ein bestimmtes prozedurales Prinzip eine Rolle, das etwa besagt, dass wir bei der Anwendung von Gerechtigkeitsprinzipien möglichst diskursiv verfahren sollten, möglichst die Interessen aller Beteiligten und Betroffenen artikulieren lassen sollten, und dabei wiederum spielt eine zentrale Rolle, dass solche Abwägungen, Diskurse selber eine Art von Klugheit besitzen sollten, und eine geradezu moralische Klugheit, ohne dass hier die Theorie von oben nach unten durch die Probleme zu lösen vermag. 

 

Sprecherin:

Um herauszufinden, was nicht nur im prinzipiellen Sinne gerecht, sondern auch einer besonderen Situation gemäß ist, bedarf es der Klugheit. Aristoteles erhob in seiner Ethik die Klugheit - griechisch phronesis - zu einer eigenständigen Denkform und stellte sie der theoretischen Vernunft an die Seite. Beide haben unterschiedliche Aufgaben. Während die theoretische Vernunft mit Prinzipien und allgemeinen Gründen befaßt ist und in diesem Reich der Notwendigkeit nach der Erkenntnis der Dinge strebt, richtet sich die Klugheit auf das Feld des menschlichen Handelns. Sie hat es mit einem Reich der Möglichkeit zu tun, mit Einzelfällen und konkreten Situationen, deren Ausgang grundsätzlich offen bleibt. Hier läßt sich nichts aus Prinzipien ableiten, jedes Individuum muß vielmehr konkret überlegen, abwägen und urteilen, wie es sich verhalten soll. Klugheit meint also in erster Linie eine Urteilskraft des Einzelnen, sowohl im Privaten, die eigene Lebensführung betreffend, als auch im öffentlichen Raum, in Fragen des sozialen Miteinanders und politischen Ordnung.

 

Sprecher:

Axel Honneth glaubt, dass die Diskursethik, wie sie vor allem Jürgen Habermas entwickelt hat, der Idee der Klugheit eine neue intersubjektive Gestalt gegeben hat. Während er darauf insistiert, dass die Philosophie weiterhin Gerechtigkeitsprinzipien in ihrer Vielfalt zunächst explizieren und begründen muss, käme dem Diskurs die Aufgabe zu, ihre Anwendung zu regeln. 

 

O-Ton, Axel Honneth:

Ich glaube, ... dass bei der Anwendung dieser Gerechtigkeitsprinzipien gewissermaßen der Diskurs und ähnliche Verfahren, etwa die Mediation, immer deswegen die angemessensten Verfahren sind, weil sie die alte Idee der phronesis bei Aristoteles oder der Klugheit gewissermaßen demokratisieren. ...weil sie sie in die Hände aller Betroffenen legt. Also man könnte sagen, klug ist eine Entscheidung nur in dem Maße, in dem auch alle, die davon etwas verstehen, und das heißt auch alle, die davon betroffen sind, sich gemeinsam an die Anwendung des Prinzips machen. Insofern ist der Diskurs auf der Ebene eine Fortsetzung des alten Idee der Klugheit, und scheint mir ohne Zweifel das überlegendste Prinzip der Anwendung von Gerechtigkeitsvorstellungen zu sein.

 

Sprecherin:

Das antike Konzept der Klugheit ging noch davon aus, das Erkenntnis und Entscheidung wesentlich auf ein einzelnes Subjekt, gewissermaßen auf ein einsames Bewusstsein bezogen sind. Dagegen ist das Konzept des Diskurses auf eine intersubjektive Instanz ausgerichtet, auf eine Vielheit von Menschen, die sich über Werte und Normen miteinander verständigen müssen. Dahinter steht die philosophische Annahme, dass keine Letztbegründungen möglich sind, d.h. Wahrheiten ebenso wie Normen beziehen in letzter Instanz ihre Gültigkeit daher, dass sie einer argumentativen Prüfung durch alle beteiligten Subjekte standhalten.

Wenn Gerechtigkeitsprinzipien miteinander konfligieren, wenn ihre Gewichtung strittig ist, so kann eine Lösung nur in einem Diskurs, d.h. in einer möglichst offenen Diskussion aller Beteiligten und Betroffenen gefunden und legitimiert werden.

 

Sprecher:

Die Ethik des Diskurses stellt ein demokratische Verfahrensprinzip dar. Damit wird zugleich Gerechtigkeit noch einmal auf einer Metaebene definiert. In einer Demokratie muß zu allererst ein Entscheidungsprozeß selbst gerecht und fair sein, d.h. es müssen alle Stimmen gehört und berücksichtigt werden, damit wir die dort gefundenen Lösungen und Kompromisse als gerecht akzeptieren und hinnehmen können.

 

Sprecherin:

Der Diskurs verlangt jedoch nicht nur scharfsinnig argumentierende Teilnehmer, er verlangt ebenso einen moralischen Willen, der über Eigen- und Korpsinteressen hinausgeht.

Die Klage, nur diejenigen da oben seien an der Ungerechtigkeit schuld, verkennt das Wesen der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit stellt nicht allein ein Prinzip dar, das herrschen soll, -  sie bildet auch eine ethische Haltung - altmodisch gesprochen: eine Tugend, die geübt wird oder nicht. Platon nannte die Gerechtigkeit das rechte Verhalten zu den Mitmenschen. Und Aristoteles schrieb:

 

Zitator:

„Aus diesem Grund scheint die Gerechtigkeit als einzige unter allen Tugenden ‚des anderen Gut’ zu sein, weil sie auf den anderen bezogen ist. Sie tut nämlich, was einem anderen zuträglich ist.“

 

Sprecherin:

Im Gegensatz zum modernen Gleichheitsgrundsatz betont die alte Gerechtigkeitsformel Jedem das Seine zu gewähren eine altruistische Dimension: Gerecht zu sein bedeutet, dem anderen gerecht zu werden, ihn zu respektieren und ihm die Chance zur Entfaltung seiner Persönlichkeit einzuräumen.

 

Sprecher:

Eine solche Einstellung ist in der modernen, stark narzißtisch ausgelegten Konsumgesellschaft problematisch.

Aber trotz der egozentrischen Mentalität, der man allenthalben begegnet, ist den Bundesbürgern der Gerechtigkeitssinn keineswegs abhanden gekommen.  Empirische Untersuchungen ergaben, so Leo Montada, einen interessanten Befund:

 

O-Ton, Leo Montada:

Die Bürger haben einen viel größeren Sinn – und wir sehen das in vielen unserer Untersuchungen - für die Belange der Gemeinschaft als die Funktionäre, inklusive der politischen Funktionäre, glauben, d.h. ... die Politiker gehen davon aus, dass die Eigeninteressen das eigentlich dominante Motiv in der Bevölkerung wären – dieses ist falsch. Ein Großteil der Bürger haben einen Sinn für die Belange der Gemeinschaft, haben einen Gerechtigkeitssinn, sind offen für diese Dinge, ... viele sind der Meinung, sie sind überprivilegiert, und sie verdienen das nicht, und sie leiden unter dem, was wir existentielle Schuldgefühle nennen, d.h. sie fühlen sich eigentlich unverdient privilegiert. Wenn Sie etwa zu Zeiten, wo die Arbeitslosigkeit das zentrale Thema war, in Meinungsumfragen geschaut haben, in allen europäischen Ländern, dann waren Zwei Drittel der Vollzeitbeschäftigten bereit, 10% ihrer Arbeitszeit und ihres Arbeitseinkommens abzugeben, wenn damit Arbeitsplätze geschaffen würden, also sie haben durchaus eine gemeinsinnige Orientierung.

 

Sprecherin:

Es gibt den Gemeinsinn der Bürger, belegbar auch durch die überraschend hohe Zustimmung zu Eichels Sparpaket in der Bevölkerung, selbst da, wo die Sparmaßnahmen konkret werden und die eigene Gruppe betreffen. Der Gemeinsinn der Bürger kann sich aber nicht von selbst in politische Wirklichkeit umsetzen, er bedarf der Artikulation in der Öffentlichkeit und der Organisation durch Politiker.

 

Sprecher:

Doch hier gerät der Reformwille in eine schizophrene Falle, in einen Widerspruch zwischen privater Einsicht und öffentlicher Stellungnahme. Denn viele Politiker wissen um die Notwendigkeit unbequemer Maßnahmen, scheuen sich aber von Verzicht zu sprechen und bevorzugen im Blick auf Wahlkampf und Machterhalt populistische Versprechen für alle und jeden. Gleiches gilt für die Funktionäre der mächtigen Verbände: Auch sie riskieren es wider besseres Wissen nicht, ihren Mitgliedern Einschränkungen zuzumuten, die dem Ganzen dienlich wären, stattdessen betreiben sie sture Interessenpolitik. Manager in Wirtschaft und Industrie schließlich sind durchaus von der langfristigen Überlegenheit umweltgerechter Produktion überzeugt, aber beim Gang in die Vorstandsitzung, beim Blick auf den Aktienkurs entschließen sich zur Strategie kurzfristiger Profite.

 

Sprecherin:

Auch da, wo es um ein anderes Feld von Gerechtigkeit geht, um den direkten Ausgleich zwischen Menschen oder auch zwischen Individuen und Institutionen, herrscht ein Anspruchsdenken vor, das den Gerechtigkeitssinn beiseite drängt. Immer mehr Leute schließen Rechtsschutzversicherungen ab, um in Streitfällen ihre Ansprüche durch Anwälte durchsetzen zu lassen. Konflikte mit dem Nachbarn oder dem Vermieter, am Arbeitsplatz oder im Verkehr werden an die Justiz delegiert und vor Gericht ausgetragen.

 

Sprecher:

Es gibt aber seit einiger Zeit auch eine entgegengesetzte Tendenz, die mit dem Begriff Mediation verknüpft ist. Mediation – wörtlich Vermittlung – versucht eine Schlichtung auf außergerichtlichem Weg, wobei die Konfliktpartner sich auf diskursivem Weg selber eine Lösung erarbeiten müssen. Dabei unterstützt sie der unparteiliche Mediator, - das sind in der Regel Rechtsanwälte, Psychologen oder Pädagogen, die für diese Tätigkeit meist eine Zusatzausbildung gemacht haben.

 

Sprecherin:

Mediation ist ein Schlichtungsverfahren, das in den siebziger Jahren in Amerika entwickelt worden ist, wo es regelmäßig Gerichtsverfahren vorgeschaltet wird. Die Mediation  bemüht sich im Gegensatz zu juristischen Entscheidungen um Lösungen, die eine umfassendere Gerechtigkeit herbeiführen. Ihr Ergebnis gleicht im Idealfall nicht der typischen Aufteilung in Sieger und Verlierer wie beim Gerichtsurteil, sondern kann zu Lösungen gelangen, bei denen beide Konfliktpartner das Feld als Gewinner verlassen. Ein Beispiel dafür schildert die Rechtsanwältin Birgitta Radermacher. Sie leitet in Köln ein Institut für Mediation.

 

O-Ton, Birgitta Radermacher:

Stellen Sie sich ein Zwei-Familien-Haus vor, zwei Etagen. Unten wohnt die Schwester, oben der Bruder. Die Schwester wohnte schon da zu dem Zeitpunkt, als die Mutter noch lebte; der Bruder ist oben erst eingezogen, als die Mutter verstarb. Die Schwester hat unten eine große Terrasse, daneben steht ein großer Baum. Dieser Baum stört die Schwester beim Sonnen. Die Schwester wünscht sich, dass der Baum abgeholzt wird. Der Bruder sagt: ‚Nichts da, der Baum bleibt stehen!’

Die beiden kommen also und erklären ganz deutlich, die eine: ‚Der Baum muss ab!’ und der andere: ‚Nein, der Baum bleibt stehen!’ Im Zuge der Überlegungen, warum nun genau diese Aufteilung im Haus erfolgt ist, und warum der Baum für den einen wichtig und für den anderen unwichtig ist, stellt sich heraus, dass die Schwester lieber viel weniger Gartenarbeit machen würde. Sie hat einen anstrengenden Beruf und kommt abends nach Hause, gießt noch drei Blümchen, möchte sich aber ansonsten hinlegen und sonnen. Während der Bruder die Gartenarbeit sehr liebt und den Garten so erhalten möchte, wie er von seiner Mutter gestaltet worden ist. Außerdem möchte der Bruder eine Familie gründen, Kinder bekommen, und gerade für die ist ein Garten auch herrlich. Das Ergebnis war letztlich, dass die beiden jetzt in absehbarer Zeit die Wohnungen tauschen - sprich: die Schwester zieht nach oben, hat ihre Terrasse, kann sich sonnen. Der Baum stört sie dort nicht, und der Bruder hat unten seinen Baum, seinen Garten und kann die entsprechend pflegen.

 

Sprecher:

Vor Gericht wäre eine solches Ergebnis vermutlich nie zustande gekommen. Der Anwalt des Bruders hätte mit Hilfe der Baumschutzordnung nach einer Rechtsgrundlage gesucht, warum der Baum nicht gefällt werden darf. Der Anwalt der Schwester wiederum hätte ebenfalls in diese Verordnung geschaut und beispielsweise geprüft, ob der Abstand des Baumes zur nachbarschaftlichen Grenze gewahrt ist - um umgekehrt einen Rechtstitel dafür zu erwirken, dass der Baum gefällt werden muss.

 

Sprecherin:

Gerichtsurteile in der einen oder anderen Hinsicht hätten aber ein Ergebnis, das beiden Lebenszusammenhängen gerecht wird, notwendig verfehlt.

Das Beispiel zeigt, dass Konflikte sich nicht allein auf der Ebene einer Durchsetzung oder Abweisung von Rechtsansprüchen lösen lassen. – Das gilt erst recht im Falle von Scheidungen. Zunehmend suchen Ehepartner, die auseinander gehen wollen, einen Lösungsweg in der Mediation.

 

O-Ton, Birgitta Radermacher:

Wenn eine Scheidung ins Haus steht, eine Trennung, dann bilanzieren die Ehepartner. Sie setzen Soll und Haben einander gegenüber, nicht im mathematischen Sinne allein, was das Geld angeht, sondern sie überlegen sich: ‚Wie viele Jahre war ich mit ihm, mit ihr zusammen.’ Sie kennen alle den Spruch: ‚Ihm habe ich meine besten Jahre geschenkt.’ Und es gibt nicht für alles einen Ausgleich in Geld. Und das ist etwas, was für mich ganz besonders die beiden Verfahren unterscheidet. Dieser Ausgleich in Geld ist etwas, was ich bei Gericht erreichen kann. Der Ausgleich dafür, dass ich meine Zeit, meine Liebe, meine Hingebung - sei es in den Haushalt, sei es in den Beruf gesteckt habe, den kann ich bei Gericht nicht bekommen, den kann ich aber bei der Mediation bekommen, das kann ein einfaches „Danke, was Du für mich getan hast in unserer Ehe“ sein. – Sie glauben  nicht, was das Lob des einen bei dem anderen bewirkt.

 

Sprecher:

Auch wenn das Schuldprinzip im Scheidungsrecht mit guten Gründen abgeschafft worden ist, steht die Frage nach Schuld und Verantwortung immer im Raum. Verdeckt unter der Forderung nach materiellem Interessenausgleich schwelt diejenige nach voller Gerechtigkeit. Oft wird dann im Kampf um das Sorgerecht Rache genommen für mangelnde Anerkennung, für Kränkungen und Enttäuschungen - für all das, wo man sich von dem anderen ungerecht behandelt fühlt.

 

Sprecherin:

Was die Scheidung im Extremfall vorführt, gilt für viele Konflikte. Sie sind, so Leo Montada, letztlich keine bloßen Interessen-, sondern vielmehr Gerechtigkeitskonflikte. Insbesondere wenn Menschen mit Empörung reagieren, kann man sicher sein, dass sie sich ungerecht behandelt fühlen. Deshalb ist es ein gesellschaftlich folgenschweres Missverständnis zu glauben, sämtliche Konflikte ließen sich verrechtlichen. Diese Einsicht spricht nicht grundsätzlich gegen das Rechtssystem, wohl aber gegen seine Gleichsetzung mit Gerechtigkeit.

Recht und Gerechtigkeit bilden ein Spannungsverhältnis, das der französische Philosoph Jacques Derrida neu durchdacht hat. Christoph Menke: 

                                        

O-Ton, Christoph Menke

Was ich die große Stärke von Derrida finde, ist, dass er .... eigentlich zwei Dinge zugleich macht, und damit ein Problem auch ein Stück weit zu überwinden hilft, dass in der Tradition der politischen Philosophie immer fatal war. ... Zum einen hält er fest an einem Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit, und das hat in der Tradition dazu geführt – man kann wieder auch das marxistische Beispiel heranziehen - zu einer Diskreditierung  des Rechts. Zu einer marxistischen Tradition gehörte es immer, die Idee der Rechte, auch der Menschenrechte zu diskreditieren im Namen einer angeblich inhaltlichen, materialen Gerechtigkeit. Und das war fatal in den Konsequenzen, nicht zuletzt in den Staaten selbst, dass man kein Vertrauen hatte, dass man nicht die Bedeutung sah, die in einer funktionierenden Rechtsordnung lag, und daraus hat man auf der anderen Seite häufig geschlossen, dass wir uns mit dem Recht, so wie es ist, gewissermaßen zu bescheiden haben, als sei das Recht selbst fast schon etwas absolutes, als gäbe es darüber hinaus zumindest nichts, das wir zu verfolgen hätten.

Und zwischen diesen beiden Alternativen, einerseits einer Rechtsgläubigkeit, andrerseits einer Rechtsdiffamierung, ... zwischen diesen beiden Alternativen will Derrida hindurch.

 

Sprecher:

Derrida fordert dazu auf, das Recht zu achten, aber nicht als einen Selbstzweck, sondern weil es den Menschen dazu dient, die weitergehenden Ideen Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu verwirklichen. Das Recht gibt es gewissermaßen nur, weil wir mit ihm mehr wollen als Recht: nämlich Gerechtigkeit. Was jedoch in diesem Mehr aufscheint, darf nicht nur schöne Idee bleiben, dieses Mehr soll vielmehr nach Kräften immer wieder ins Recht hineingeholt werden.

 

Sprecherin:

Gerechtigkeit sitzt wie ein moralischer Stachel im Fleisch der bestehenden Gesetze, auf dass sie neu durchdacht und verbessert werden.  Die Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit ist für Derrida jedoch nichts Negatives, kein Konflikt, der still gestellt oder überwunden werden soll. Sie schafft  vielmehr eine fruchtbare Spannung. Hier entspringt ein ethischer wie politischer Auftrag, der stets aufs neue an alle ergeht: Unter gleichen jedem das Seine zu gewähren.