Sprecher:
Wer in eine
Suchmaschine des Internet das Wort Gerechtigkeit eingibt, erhält leicht eine
Liste, die mehrere hundert Links umfasst. Das Spektrum der Seiten reicht von
Kirchen und religiösen Vereinigungen, über Parteien und politische Organisationen,
Drittwelt- und Menschenrechtsgruppen, bis hin zu Bürgerinitiativen und
Kleinaktionärsverbänden. Man stößt auf Veranstaltungskalender von
Bildungsakademien, Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten und eine Fülle
privater Webseiten.
Sprecherin:
Das Schlagwort
soziale Gerechtigkeit dominierte den letzten Bundestagswahlkampf, und es prägt
weiterhin Rentendebatten und Gesundheitsreform. Um Gerechtigkeit geht es bei
der Bewältigung der DDR-Vergangenheit, bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter
und bei der Vergeltung für die Terroranschläge in New York und Washington. Aber
auch in der Verbitterung über eine ungerechte Weltordnung meldet sich
verletztes Gerechtigkeitsgefühl, das dem Fanatismus und der Gewalt immer wieder
neue Anhänger zuführt.
Sprecher:
Jeder Mensch
hat ein Gerechtigkeitsempfinden, von dem er intuitiv Gebrauch macht. Wo gegen
dessen Maßstäbe verstoßen wird, ist man empört und innerlich auf den
Barrikaden. Gerechtigkeit ist zugleich vielschichtig. Bei dem Versuch sie
umfassend zu definieren, ergeht es uns wie Augustinus, als er das Phänomen Zeit
begreifen wollte. „Solange mich niemand
danach fragt, weiß ich es; doch fragt man mich und soll ich es erklären, so
weiß ich es nicht.“
Sprecherin:
Gerechtigkeit
ist eine fundamentale Kategorie der Ethik und der politischen Philosophie seit
ihren Anfängen. Schon Aristoteles bemühte sich um Differenzierung und erklärte,
das die Rede von der Gerechtigkeit auf unterschiedliche Felder führt: Ein
Bereich ist die gerechte Verteilung. Hier geht es darum, wem und nach welchen
Kriterien bestimmte Güter und Lasten, Rechte und Pflichten vom Souverän
zugeteilt werden.
Sprecher:
Einen
anderen Bereich bilden die Austauschbeziehungen zwischen einzelnen Menschen,
aber auch zwischen Individuen und Gruppen. Hier sollen Leistungen und
Gegenleistungen irgendwelcher Art - seien es Waren, Geld, Dienste, Loyalitäten
oder Anerkennungen - in einem gerechten, d.h. ausgewogenen Verhältnis zueinander
stehen.
Sprecherin:
Drittens
betrifft Gerechtigkeit den Bereich der Vergeltung: Welche Belohnung hat eine
bestimmte Tat verdient, welche Strafe die Untat? Schließlich fordert man
Gerechtigkeit für ein Verfahren selbst, für einen Prozess, in dem Entscheidungen
getroffen werden. Hier bedeutet Gerechtigkeit soviel wie Fairneß.
Sprecher:
Offenbar
stellt Gerechtigkeit eine politische und ethische Leitidee dar, sie ist immer
im Spiel, wo es um das Miteinander von Menschen geht, in allen Epochen und
Kulturen. In Krisen und Zeiten des Umbruchs jedoch wird das Thema besonders
brisant. Die Zeit nach der Wende bis in die Gegenwart scheint eine solche
Phase. An der Universität Potsdam hat man ein eigenes Zentrum für Gerechtigkeitsforschung
eingerichtet, das bis jetzt von dem Psychologen Leo Montada geleitet wurde:
O-Ton, Leo
Montada:
Ich habe
mich sehr gefreut, dass dieses Zentrum 1994/95 eingerichtet worden ist. Die
Universität Potsdam war nicht in der Lage, hier ein Forschungszentrum im
engeren Sinne aufzubauen, denn das hätte zu viel Personal aus unterschiedlichen
Disziplinen erfordert. Was wir gemacht haben, war, dieses Zentrum als Forum für
einen interdisziplinären internationalen Austausch für Gerechtigkeitsforschung
und Gerechtigkeitsfragen zu etablieren. Und dieses hat zu einer großen Anzahl
von sehr interessanten Konferenzen und Symposien zu sehr unterschiedlichen
Fragen geführt.
Sprecherin:
Probleme der
deutschen Wiedervereinigung standen bis heute im Brennpunkt der Arbeit des
Forschungszentrums: Symposien und Konferenzen thematisierten das erlittene
Unrecht von Opfern des SED-Regimes, Verlusterfahrungen nach der Wende, den
Wertewandel nach 1989. Weitere Themenschwerpunkte bildeten
Gerechtigkeitsprobleme im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit, die Gleichstellung
von Frauen und auch das Problem umweltgerechten Handelns.
Sprecher:
Sprecher:
O-Ton,
Axel Honneth:
Wir haben es
heute mit Ungerechtigkeiten zu tun, die natürlich auch schon vor 1989 bestanden
haben. Vielleicht wird heute deutlicher, als es früher möglich war, dass die
kapitalistische Wirtschaftsordnung und die kapitalistische Gesellschaft, die ja
nun weltweit einen Siegeszug anzutreten scheinen, zumindest das Modell dieser
Gesellschaften auch intern mit so vielen Problemen sozialer Gerechtigkeit
verknüpft ist, wie das vorher zu durchschauen gar nicht möglich war, weil es
immer den Systemfeind des Kommunismus gab. Das heißt alle normativen Probleme
dieser Art konnten abgewälzt werden auf das System, das zumindest von außen
noch viel ungerechter schien.
Also diese
relative Überlegenheit der liberalen kapitalistischen Gesellschaften des
Westens gegenüber denen des Ostens konnte vielleicht eine Zeitlang verdecken,
das Maß an sozialer Ungerechtigkeit, mit denen wir es auch in unserer Ordnung
zu tun haben.
Sprecherin:
Gerechtigkeitsfragen
waren vor 1989 im Streit der weltanschaulichen Systeme gewissermaßen
aufgehoben. Dort hatten sie einen festen Platz. Je nachdem, wie man zum
Sozialismus stand, stellten sich die ideologisch vorgefertigten Antworten ein.
In der Auflösung des Ost-West-Gegensatzes begannen die Gerechtigkeitsprobleme
zu wandern, wurden drängender und virulent.
Sprecher:
Das härter
gewordene soziale Klima der 90er Jahre und insbesondere die konstant hohe
Arbeitslosigkeit ließen die Schwächen der liberalen Demokratien deutlich
hervortreten. Es präsentiert sich eine Gesellschaft, die den einen immer
dickere Gehälter zahlt, indem sie anderen die Arbeit wegnimmt und mit dem
Arbeitsplatz zugleich die Lebensperspektive kassiert. Und im öffentlichen Raum
mangelt es an Solidarität und Gemeinsinn, an Identifikation mit dem Gemeinwesen.
Sprecherin:
Die Fragen
haben auch ein Echo im Spektrum der politischen Philosophie und der
Sozialwissenschaften hervorgerufen. Gerechtigkeit ist ein Fokus ihrer Diskussionen,
es hat sich zu diesem Thema eine Debatte entwickelt, an der auch Christoph
Menke teilnimmt. Menke, der politische Philosophie und Ethik an der Universität
Potsdam lehrt, sieht eine besondere Herausforderung in der neuen Diskussion
über Gerechtigkeit:
O-Ton, Christoph
Menke:
Man muss sie
so führen, dass die Herausforderung, die früher von außen kam, die
sozialistische oder kommunistische Idee von Gleichheit, das wir diese Herausforderung
nicht zu vergessen haben, weil wir sie definitiv besiegt haben, sondern dass
wir sie von innen an uns selbst stellen müssen, ..., also nicht jetzt: Hände in
den Schoß legen und denken, jetzt haben wir definitiv gesiegt, und es ist
vorbei, sondern gerade umgekehrt: Es wird eher beunruhigender, weil wir das
nicht mehr nach außen abschieben können, sondern selbst mit uns auszumachen und
zu diskutieren haben und was man sicher sagen muss, und was die ideologischen
und geistigen Grundverständnisse unserer Demokratie angeht, ist eher mehr
Unruhe entstanden als Stabilität seit 1989, das würde ich aber für etwas Gutes
halten.
Sprecherin:
Die Wende
1989 gab die politischen Impulse für die neue Gerechtigkeitsdebatte, aber ihre
philosophische Initiierung datiert weiter zurück, ins Jahr 1972. Damals
veröffentlichte der amerikanische Philosoph John Rawls ein Buch mit dem Titel Theorie
der Gerechtigkeit. Es beginnt mit den Worten:
Zitator:
"Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen,
so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit
sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallengelassen oder abgeändert
werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und
wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden,
wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit
entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen
Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit
nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für
andere wettgemacht wird. Sie gestattet nicht, dass Opfer, die einigen wenigen
auferlegt werden, durch den größeren Vorteil vieler anderer aufgewogen werden.
... Als Haupttugenden für das menschliche Handeln dulden Wahrheit und
Gerechtigkeit keine Kompromisse."
Sprecherin:
Sofort
nach ihrem Erscheinen sorgte Rawls’ Theorie für Aufsehen in intellektuellen
Kreisen. Sein Ansatz weckte die vor sich hin dämmernde politische Philosophie
zu neuem Leben. Gerechtigkeit, so seine Theorie, bilde den Maßstab, an dem jede
gesellschaftliche Ordnung zu bewerten sei.
Christoph
Menke :
O-Ton, Christoph Menke:
Das
Besondere an Rawls ist, dass er den grundlegenden Gedanken der Gerechtigkeit
der neuzeitlichen politischen Philosophie und Praxis wiederaufgenommen und
wieder ins Spiel gebracht hat. Ich würde nicht sagen, dass der zentrale Gedanke
neu ist, das Neue ist eher, mit neuen
Mitteln einen alten Gedanken zu reformulieren, und dieser alte Gedanke, der
weiterhin Aktualität hat, ist die Idee, dass Gerechtigkeit in einer bestimmten
Idee von Gleichheit besteht. Der zentrale Gedanke der neuzeitlichen Konzeption
von Gerechtigkeit ist zu sagen, Gerechtigkeit besteht nicht mehr darin, dass
jedem das Seine gegeben wird, sondern im Grunde jeder gleich viel gilt, und
damit auch im gleichen Maße Berücksichtigung zu erfahren hat.
Das waren
die Grundideen auch der neuzeitlichen politischen Revolutionen, auch der Frz.
Revolution, usw. Und dieser Gedanke, so einfach und grundlegend er klingt, war
in der politischen Philosophie längere Zeit nicht präsent, und wurde nicht in
seiner Konsequenz gedacht, wie es seiner Bedeutung entsprach in der politischen
Praxis.
Sprecher:
Die Menschen
sind von Natur aus frei und gleich. Gleichheit ist die moderne Kernidee von
Gerechtigkeit, wie Rawls herausarbeitet und klarstellt. Denn das alte, aus der
Antike stammende Gerechtigkeitsprinzip Suum cuique - Jedem das Seine
ist problematisch. Dieser Grundsatz, den schon Aristoteles aufstellte und
später Cicero - man solle jedem geben, was ihm zukommt - ist oft als
willkommene Leerformel ausgenutzt worden. Hierarchische Gesellschaften,
auch Diktaturen haben das Wort
missbraucht, um damit ihre Ungleichbehandlungen und Ungerechtigkeiten zu
rechtfertigen. Den Zynismus auf die Spitze trieben die Nationalsozialisten, als
sie den Wahlspruch „Jedem das Seine“ am
Lagertor des KZ Buchenwald anbrachten.
Sprecherin:
Rawls’
Konzeption von Gerechtigkeit hebt dagegen bei den unveräußerlichen Grundrechten
des freien und gleichen Individuums an. Wie ist eine Ordnung denkbar, - so
fragt er weiter - die diese Grundrechte wahrt, und nicht durch Macht und
partikulare Interessen dergestalt verzerrt, dass die einen begünstigt und die
anderen benachteiligt sind?
Sprecher:
In seinem
Antwortversuch greift Rawls auf die Idee des Gesellschaftsvertrages zurück, wie
man es von Hobbes, Locke und Rousseau kennt.
Die Menschen
sollen über die normativen Grundsätze der gesellschaftlichen Ordnung beraten
und verhandeln - in einer Art fiktivem Urzustand, so als ob „niemand seine
Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso
wenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder
Körperkraft.“ Denn unter diesem ‚Schleier des Nichtwissens’ - so Rawls’
Überlegung - muss jeder gewärtigen, dass er vielleicht selbst zu den Armen und
Schwachen gehört; er wird also nur solchen normativen Grundsätzen seine Zustimmung
geben, die auch für die schlechter Gestellten günstig sind. Rawls’ Bild vom
Schleier des Nichtwissens meint also nichts anderes als das Prinzip der Unparteilichkeit.
Sprecherin:
Indem Rawls
diese Fiktion eines Urvertrags unparteilicher Individuen durchspielt, gelangt
er zu zwei Grundsätzen. Der erste Grundsatz erklärt und bestätigt fundamentale
Menschen- und Bürgerrechte, die jedem
zuzuerkennen sind: körperliche Unversehrtheit, persönliches Eigentum, Gedanken-
und Gewissensfreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit, Wahlrecht und das Recht,
öffentliche Ämter zu bekleiden.
Der zweite
Grundsatz hält fest: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, die Rawls
nicht ausschließt, seien nur insoweit anzuerkennen und hinzunehmen, als sie den
am schlechtesten Gestellten den größtmöglichen Vorteil bringen.
Sprecher:
Hier geht es
also um soziale Gerechtigkeit: Doch wie soll man Rawls verstehen? Formuliert er
aufs neue das alte liberalistische Credo: Das Profitstreben des Unternehmers
sei gerechtfertigt und sogar gutzuheißen, weil es sich auf dem Markt zum Nutzen
aller auswirkt - kurz: das Wohl des Einzelnen bringe das Gemeinwohl hervor.
Menke liest Rawls in diesem Punkt jedoch anders und entdeckt einen sozialdemokratischen
Einschlag.
O-Ton, Christoph Menke:
Was man
liberalistisch oder liberal nennen kann an Rawls, ist zunächst einmal die
strikte Vorordnung der liberalen Freiheitsrechte vor den sozialen Rechten.
Rawls würde immer sagen, soziale Rechte, soziale Gleichheit sind schön und gut,
aber immer nur, wenn sie nicht auf Kosten der liberalen Grundrechte gehen. Das
ist das klassisch Liberale. Andrerseits ist er nicht mehr klassisch liberal darin,
dass er dieses Vertrauen des Liberalen in das Von-selbst-Funktionieren des
Marktes hat. Man muss sich das auch vorstellen: er ist ein Amerikaner, und im
amerikanischen Kontext sind alle Arten von staatlicher Intervention in die Wirtschaft
sehr viel ungewohnter – außer wenn man diese kurze Phase des New Deals
betrachtet – als wir dass im europäischen Kontext, und zwar nicht nur sozialdemokratisch
kennen. Und er würde schon sagen, es darf politische Intervention in den
wirtschaftlichen Raum hinein geben, um dieses Differenzprinzip sicherzustellen.
Sprecherin:
So gesehen
sucht Rawls in seinem Entwurf einer gerechten Ordnung liberale und
sozialorientierte Ideen, Konzepte eines neutralen Staates und solche des
Wohlfahrtsstaates zusammenzubringen, auf diese Weise auch amerikanische und
europäische Traditionen zu verbinden.
Sein
vielbeachteter Ansatz der Gerechtigkeit als Gleichheit hat aber auch Kritik
hervorgerufen. So wandte der amerikanische Philosoph Michael Walzer ein, Rawls’
Vorstellung von Gleichheit sei viel zu abstrakt und deshalb für die Grundlegung
einer gerechten Ordnung untauglich, wie Christoph Menke erläutert.
O-Ton, Christoph
Menke :
Ein Einwand,
der stark erhoben worden ist, von Michael Walzer, ... ist der Gedanke, dass die
Idee der Gleichheit oder der Gerechtigkeit nach – wie er sagt – Sphären
differenziert werden muss. Gerechtigkeit heißt im Bereich der Ämter oder im
Bereich der Ökonomie oder der Medizin jeweils etwas ganz anderes. Es kann keine
strikte Gleichverteilung in diesen verschiedenen Bereichen geben, sondern –
dass jeder das gleiche bekommt, heißt in der medizinischen Versorgung durch
Krankenkassen nicht, dass jeder genauso viel Mittel für Medikamente bekommt,
sondern dass das nach Bedürftigkeit abgestuft wird, also Gleichverteilung im
Medizinischen heißt Ungleichverteilung, sonst ist es nicht gerecht.
Es heißt
aber im Bereich des Wahlrechts, dass jeder eine Stimme hat, hier herrscht
Gleichheit gewissermaßen im wörtlichen und direkten Sinne, und so eine
Differenzierung, auf die Walzer hingewiesen hat, sind sicher sehr wichtig. Also
der generelle Gedanke der Gleichheit muss je nach Region der Gesellschaft
differenziert werden, sonst ist er sinnlos.
Sprecher:
Man kann
Walzers Differenzierung fortsetzen. Im Bereich von Bildung zum Beispiel macht
Gleichheit offensichtlich nur Sinn, wenn man sie nicht als Plädoyer für ein
starres Einheitsschulsystem versteht, sondern als Chancengleichheit auslegt,
mit speziellen Förderungsmöglichkeiten für Schwache ebenso wie für besonders
Begabte.
Sprecherin:
Damit aber
schafft der Gedanke der Gleichheit, wenn man ihn nach gesellschaftlichen Sphären
ausdifferenziert, ein inneres Spannungsfeld. Wie verhält sich politische
Gleichheit zu wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden. Anders gesagt: wie
viel soziale Gleichheit ist möglich? Das sind keine bloß theoretischen Fragen,
sie berühren unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der
Geschichte aufeinander stoßen.
O-Ton, Christoph
Menke:
Letztes Jahr
ist ein interessantes Buch von Wolfgang Engler „Die Ostdeutschen. Kunde von
einem verlorenen Land“ erschienen, und in dem vertritt er die These, die ich
sehr interessant finde, dass er das Verhältnis von Ost und West so zu beschreiben
versucht, dass wir auf der einen Seite so etwas wie die Idee politisch-rechtlicher
Gleichheit und auf der anderen etwas wie die Idee sozialer, ökonomischer auch
kultureller Gleichheit haben. Und so sieht er darin eine unterschiedliche
Deutung des Gleichheitsgedankens der Moderne, die er zunächst einmal mit einem polemischen Zug nebeneinander
stellt, ohne schon über den Vorrang zwischen ihnen zu entscheiden. Das finde
ich einen wichtigen Punkt, ich glaube dass das eine sehr genaue Nachzeichnung
der Befindlichkeiten zwischen Ost und West ist, die viele Irritationen auflösen
kann, weil tatsächlich jeweils Gleichheit für einen der beiden Bereiche für
wichtig gehalten wird, und sie ein Stück weit auch von den Menschen selbst, die
jeweils aus einer dieser beiden Perspektiven kommen, gegeneinander ausgespielt
werden.
Sprecher:
Lassen sich
politisch-rechtliche Gleichheit und soziale Gleichheit verbinden? Man könnte
sich eine Diskussion zwischen einem Liberalisten und einem Marxisten
vorstellen: Man muss um willen politischer und rechtlicher Gleichheit auf die
kommunistische Vision einer weitergehenden sozialen und ökonomischen Gleichheit
verzichten. Denn ökonomische Gleichheit ist nur über autoritäre Maßnahmen zu
erlangen, sie führt zu einem Regime, das die politische und rechtliche
Gleichheit letztendlich zugrunde richtet – so die liberalistische Argumentation.
Sprecherin:
Und die
marxistische Entgegnung wäre: Politisch-rechtliche
Gleichheit allein ist nichts wert. Wenn sie nicht mit sozialer Gleichheit
verbunden ist, verkümmert sie zu einem konsequenzlosen Ritual der Stimmabgabe.
Sprecher:
Man darf
allerdings nicht dem Klischee erliegen, alle Ostdeutschen würden grundsätzlich
auf sozialer Gleichstellung beharren und dementsprechend egalitaristischen
Vorstellungen anhängen, während Westdeutsche in jedem Fall soziale Unterschiede
gutheißen, zum Beispiel in Fragen des Einkommens. Dem widerspricht das Ergebnis
einer empirischen Umfrage zur sozialen Gerechtigkeit, die der Berliner
Soziologe Bernd Wegener jüngst durchführte. Die Umfrage offenbarte zum
Beispiel, dass die Frauen der früheren DDR stärker auf das Leistungsprinzip
setzen als ihre westdeutschen Geschlechtsgenossinnen. Wahrscheinlich hängt dies
damit zusammen, dass Frauen in Ostdeutschland stärker berufstätig waren als in
Westdeutschland.
Für eine
Gerechtigkeitstheorie wird dabei aber eine fundamentale Frage aufgeworfen, wie
der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth ausführt:
O-Ton,
Axel Honneth:
Ein ganz
heikler Punkt, und auch diskutiert im Augenblick in der politischen Philosophie
und in der Gerechtigkeitstheorie ist die Frage, ob eigentlich das Prinzip des
Verdientstes, der Leistung, für eine Gerechtigkeitstheorie von Bedeutung sein
muss.
Rawls ist
entschieden der Meinung, dass das Prinzip des Verdientstes für eine
Gerechtigkeitstheorie unerheblich sein soll, das hat bei ihm verwickelte Hintergründe
philosophischer Natur, ... wir können aber mit guten Gründen sagen, dass die
Subjekte selber intuitiv die Vorstellung haben, dass bestimmte Leistungen,
besonderes Engagement etwa in Arbeitszusammenhängen vielleicht auch höher
bewertet werden sollte als mindere Leistungen. Sobald wir diesen Schritt
machen, bringen wir ein ganz anderes Gerechtigkeitsprinzip ins Spiel, was auch
eine lange Tradition hat, und auch im übrigen zur moralischen Kultur moderner
Gesellschaften gehört, nämlich die Idee der Leistungsgerechtigkeit. Auch die
spielt bei Rawls keine Rolle, aus vielleicht guten Gründen. Aber ich finde, es
entsteht die ernsthafte Frage, ob wir nicht unser Gerechtigkeitskonzept
pluraler anlegen sollen, dass wir eine Pluralität von Gerechtigkeitsprinzipien
für den Ingebegriff dessen halten, was wir unter modernen Bedingungen als
Gerechtigkeit definieren.
Sprecher:
Neben dem
Prinzip der Gleichheit, das Rawls so überzeugend dargelegt hat, entdeckt man
nämlich weitere Kriterien, die in Fragen der Gerechtigkeit herangezogen werden,
vor allem das Leistungsprinzip: Jemand soll mehr bekommen, weil er mehr
geleistet hat. Es gibt aber noch weitere Kriterien, zum Beispiel die Bedürftigkeit.
Deshalb ist
Gerechtigkeit selbst im überschaubaren
Rahmen einer Familie problematisch: Welche Kriterien sollen im Erbfall
angewandt werden? Bekommt jedes Kind gleich viel – nach dem Prinzip der
Gleichheit - oder aber jedes Kind das, was es braucht – nach dem Prinzip der
Bedürftigkeit. Beide Kriterien führen eventuell zu ganz unterschiedlichen
Ergebnissen.
O-Ton,
Axel Honneth:
Wir reden davon,
dass es in Familien gerecht zugehen soll, wir würden vielleicht sogar sagen,
dass wir uns in Freundschaften gerecht verhalten sollen, alles das sind
Verwendungsweisen des Begriffs Gerechtigkeit – hier passt die Idee der sozialen
Gleichheit nicht mehr richtig, weil wir hier doch mit einer ganz anderen
Vorstellung operieren. Wir operieren mit der Vorstellung, dass wir unseren Kindern,
aber auch unseren Liebespartnern oder unseren Freunden etwas anderes schulden
als die Einräumung ihrer Autonomie. Hier haben wir eher die Vorstellung, dass
wir ihrer Bedürftigkeit jeweils sehr konkret gerecht werden müssen.
Und die
Vorstellung, dass Gerechtwerden auch heißt, der Bedürftigkeit eines konkreten
Subjekts in all ihren Facetten gerecht zu werden, führt hin zu der Idee - die
auch philosophisch immer eine gewisse Rolle gespielt hat – der Fürsorge oder
der liebevollen Zuwendung, die glaube ich aus dem Spektrum der Rawlsschen
Gerechtigkeitstheorie vollständig herausfällt.
Sprecher:
Axel Honneth
überschreitet hier die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie. Rawls liefert ein
monolitsches Konzept, das allein auf der Idee der Gleichheit fußt. Honneth
plädiert für einen pluralistischen Ansatz. Er möchte jedoch nicht so weit gehen
wie Michael Walzer, der für verschiedene gesellschaftliche Bereiche eigene von
den anderen vollständig getrennte Prinzipien in Geltung setzt. In Honneths
Entwurf regiert eine Trias von Prinzipien: Gleichheit, Verdienst und Fürsorge,
oder anders gesagt: Egalität, Leistung und Bedürftigkeit.
Sprecherin:
Natürlich
stellt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Prinzipien im konkreten Fall
gewichtet werden sollen. Außerdem zeichnet sich ab, dass je nach Situation
weitere ergänzende Kriterien und Gesichtspunkte für eine gerechte Lösung
herangezogen werden müssen. Ein pluralistisches Konzept offenbart, dass Gerechtigkeit
eine komplexe Angelegenheit darstellt. Der Trierer Psychologe Leo Montada,
einer der führenden Theoretiker der Gerechtigkeitsforschung, erläutert, welche
Problematik sich auftut:
O-Ton, Leo
Montada:
Wir haben
Prinzipien der Gerechtigkeit, aber viele Prinzipien der Gerechtigkeit, und
diese verschiedenen Prinzipien der Gerechtigkeit führen nicht zu gleichen
Lösungen in der Verteilungsgerechtigkeit: Wonach soll verteilt werden? Sollen
alle das gleiche bekommen? Soll die Leistung eine Rolle spielen? Die Bedürftigkeit?
Die Leistungsfähigkeit? Soll der bisherige Besitzstand eine Rolle spielen? Soll
das Alter eine Rolle spielen, soll die Mitgliedschaft eine Rolle spielen? ...
Da gibt es viele verschiedene Prinzipien. Keines dieser Prinzipien ist ganz
falsch, sondern alle haben ihre guten Begründungen, aber wenn man sie anwendet,
führen sie zu ganz unterschiedlichen Lösungen.... Wenn jemand kommt und sagt,
ich weiß was gerecht ist, dann denkt er normalerweise sehr kurz, er denkt an
ein einziges Prinzip und will dieses Prinzip durchsetzen – und das bedeutet,
dass alle anderen verletzt werden, das kann die Lösung nicht sein. Das ist sie
ganz selten. Es geht in einer gesellschaftlichen Konsensfindung darum, dass man
Regelungen findet, in denen nach Möglichkeit mehrere dieser Prinzipien, die für
wichtig gehalten werden, berücksichtigt werden, d.h. wir brauchen eine Mixtur
verschiedener Gerechtigkeitsprinzipien.
Sprecher:
Fazit: Rawls
Gleichheitsgedanke führt nicht unmittelbar zu Gerechtigkeit. Im Gegenteil:
würde man bei einer Verteilung allen in stupider Weise das Gleiche geben, Fleißigen
wie Faulen, Wohlhabenden wie Bedürftigen, Gesunden wie Kranken – so landete man
in einer groben Ungerechtigkeit. Also müssen bei der Gleichheit die
Unterschiede der Person, die Besonderheiten ihrer Lage Berücksichtigung finden.
Aber heißt
das nicht – konsequent weitergedacht – die Aristotelische Formel ‚Jedem das
Seine’ zu rehabilitieren? – Axel Honneth.
O-Ton,
Axel Honneth:
Die Idee,
dass Gerechtigkeit heißt, jedem das Seine zu geben, diese Kernvorstellung des
aristotelischen Gerechtigkeitsvorstellung, die finde ich deswegen noch nicht
ganz klar oder auch in sich auch bestimmt, weil wir noch nicht genau wissen was
es heißt, dem Einzelnen das Seine zu geben, ich glaube, was dort das Seine
heißt, wird erst wieder klar, im Hinblick auf bestimmte Prinzipien, das Seine
kann sehr unterschiedliches heißen, .... wir können dem Einzelnen das Seine
geben wollen, im Hinblick auf seine Bedürftigkeit. Wir können dem Einzelnen das
Seine geben wollen, Im Hinblick auf seine soziale Gleichstellung. Da sieht man
schon, dass dieses ‚das Seinige geben’ inhaltlich nur konkret wird, und eine
Anweisung enthält, wenn man den Gesichtspunkt hinzufügt, unter dem man das
Seinige bemessen möchte.
Sprecherin:
Die
Aristotelische Maxime ‚Jedem das Seine zu geben’ kann nicht an die Stelle des modernen
Gleichheitsprinzips treten, das Rawls so überzeugend dargelegt Sie könnte
jedoch die Idee der Gleichheit ergänzen und konkretisieren, um der Besonderheit
des Einzelnen, seiner Lage, seinen Leistungen und Bedürfnissen gerecht zu
werden. Voraussetzung wäre allerdings, immer die Kriterien auszuweisen, wonach
das sogenannte Seinige bemessen wird. Nur so wäre die Verwendung der alten
Formel vor Willkür und diktatorischem Missbrauch gefeit.
Sprecher:
In dieser
Weise würde der Rekurs auf Aristoteles auch einer allzu uniformistischen Lesart
Rawls vorbeugen und zu einem pluralistischen Gerechtigkeitskonzept beitragen:
man könnte Rawls’Grundsatz der Gleichheit mit Aristoteles’ Kriterium der
Besonderheit zu der Maxime verbinden: Unter gleichen jedem das Seine zu
gewähren.
Sprecherin:
Die
Formulierung darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, das in einer pluralistischen
Konzeption von Gerechtigkeit unmittelbar das Problem auftaucht, wie die
vielfältigen Unterschiede und besonderen Situationen der Menschen berücksichtigt
und zueinander gewichtet werden sollen. Mit anderen Worten: hier beginnt eine
Konkurrenz der Gerechtigkeitskriterien, wie sich an Fallbeispielen leicht
demonstrieren lässt:
Sprecher:
Wenn etwa
betriebsbedingte Entlassungen notwendig sind, nach welchen Kriterien sollte die
negative Entscheidung erfolgen? Was würde man als halbswegs gerechte Lösung
akzeptieren?
Sollte man
diejenigen entlassen, die noch nicht so lange dem Betrieb angehören? Das hieße,
nach dem Senioritätsprinzip verfahren. Oder sollte man denjenigen kündigen, die
weniger leisten? – Leistungsprinzip. Oder
jenen, die keine Verantwortung für eine Familie tragen? – Bedürftigkeit.
Nicht bedürftig wären aber auch die, die anderswo sehr schnell einen
Arbeitsplatz finden können. Und so weiter.
Sprecherin:
Nach welchem
Prinzip auch verfahren wird, immer dürfte es Kritik geben. Wenn aber in
sozialen Systemen ausschließlich nach einem Kriterium unter Missachtung
aller anderen entschieden würde, wäre der soziale Friede empfindlich gestört.
Soziale Gerechtigkeit entsteht erst dadurch, dass die verschiedenen Kriterien
wie Leistung und Leistungsfähigkeit, Bedürftigkeit, Seniorität, Mitgliedschaft
usw. in ein ausbalanciertes Verhältnis gebracht werden. Leo Montada kritisiert,
dass dies in wichtigen Bereichen in der Bundesrepublik nicht der Fall sei. Es
gebe gewaltige Schieflagen.
O-Ton, Leo Montada:
Ich
persönlich sehe eine ganze Anzahl von Schieflagen, in ganz unterschiedlichen
Feldern, eine der Schieflagen ist beispielsweise sowohl durch Tarifverträge,
als auch durch Gesetze eine Privilegierung von Insidern im Bereich der beruflichen
Arbeit gegenüber den Outsidern. Die Outsider sind diejenigen, die Arbeit
suchen, die Insider sind diejenigen, die drin sind. Und wir haben hier beispielsweise
durch Arbeitsschutzgesetze eine Privilegierung derjenigen, die drin sind. Die
Kündigungsschutzgesetze schützen diejenigen, die drin sind, aber sind häufig
für diejenigen, die draußen sind, die Arbeit suchen, eine zusätzliche Barriere.
Die Arbeitgeber scheuen sich, jemanden aufzunehmen, der durch besondere
Schutzgesetze vor Entlassung geschützt ist, auch wenn er oder sie wenig leistet.
Auch die Tarifverhandlungen werden nicht geführt, um die Arbeitslosen in Arbeit
zu bringen, sondern um diejenigen, die drin sind, besser zu stellen bezogen auf
Entlohnung, auf Arbeitsplatz, auf Urlaubsregelungen und vieles mehr.
Sprecherin:
Leo Montada
hat eine kurze Schrift mit dem Titel „Gerechtigkeit im Wandel. Zehn Thesen“
veröffentlicht, wo er nicht nur die Finger in die Wunde bundesrepublikanischer
Politik legt, sondern auch sehr konkrete Forderungen im Blick auf mehr soziale
Gerechtigkeit erhebt. In einer These heißt es:
Zitator:
„Der
Generationenvertrag ist entgegen seiner ursprünglichen Konzeption weitgehend
als Zweigenerationenvertrag (zwischen Erwerbstätigen und Rentnern)
implementiert. Es muss ein Dreigenerationenvertrag sein. Kinder und Jugendliche
müssen mit gleichem Gewicht berücksichtigt werden, jedenfalls bei Fortführung
der öffentlichen Sozialversicherungen als Umlagesysteme. Mit dem heutigen
Umlagesystem haben wir eine Ausbeutung von Familien mit Kindern, trotz
Kindergeld, Steuererleichterung und staatlichen Ausgaben für Schulen.“
O-Ton, Leo
Montada:
Wir haben
den Generationenvertrag nicht wirklich gerecht realisiert, wenn man das täte,
wäre es ein Dreigenerationenvertrag, und das würde heißen, dass die Investitionen
in die Leistungsträger der Zukunft, also die Investition in die Kinder auf die
Gemeinschaft verteilt sein müsste, und das ist nicht der Fall.
Wir können –
um es drastisch auszudrücken – die heutige Situation, obwohl ein bisschen
gebessert durch die Intervention des Verfassungsgerichtes, als eine Ausbeutung
bezeichnen. ... Diejenigen, die in
Kinder investieren und damit sozusagen für die Versicherungssysteme der Zukunft
viel leisten, sind wirtschaftlich schlechter gestellt als diejenigen, die sozusagen
Trittbrettfahrer sind, die von künftigen Leistungen der heutigen Kinder
profitieren werden, ohne selber hier zu investieren, und das ist eine
Situation, die man als Ausbeutung bezeichnen kann, d.h. die Familien mit
Kindern werden ausgebeutet von den Singles und den Paaren ohne Kinder.
Sprecherin:
Montada
fordert aber nicht nur eine gerechtere und effizientere Politik zugunsten der
Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen und eine bessere Familienpolitik, er
prangert auch überzogene Unterstützung und ungerechtfertigte Besserstellungen
an, so zum Beispiel die Fortsetzung der Subvention des Kohlebergbaus. Hier
würde zugunsten der Bergleute das Prinzip der Besitzstandswahrung überstrapaziert.
Montada kritisiert:
Zitator:
„Die
Bergleute wollen ihre Besitzstände – ein Subventionsprivileg – erhalten, das
andere mit gleichem Recht fordern könnten....Wenn Arbeitsplätze für alle 4,5
Millionen Arbeitslosen mit je DM 100.000 pro Jahr subventioniert würden, wäre
der Bundeshaushalt erschöpft.“
Sprecher:
Ein kritisches
Licht wirft Montada auch auf die gegenwärtige Struktur der Sozialhilfe.
O-Ton, Leo
Montada:
Die
Sozialhilfe ist zu Recht in einer dauernden Diskussion - ein schwieriges Feld.
Aber wenn die Sozialhilfe in der Tat als soziale Hängematte wirkt, und der
Anreiz entfällt sich selbst zu helfen, dann wird es problematisch. Jetzt haben
wir allerdings in diesem Feld ganz unterschiedliche Fälle: Etwa die
Unterstützung von Familien mit Kindern über die Sozialhilfe, da geht es primär
um die Entwicklung der Kinder, und diesen Kindern eine Chancengleichheit zu
gewähren. Also die Sozialhilfeempfänger, die hier gemeint sind, sind eigentlich
die Kinder und nicht die Eltern, die vielleicht sich wirklich mehr anstrengen
könnten, um in das Arbeitsleben integriert werden zu können.
Aber im
Grundsatz und von der Konstruktion her sollte in jeder Solidargemeinschaft
geklärt sein, dass es eine primäre Pflicht gibt, für sich selbst zu sorgen,
Kosten von der Allgemeinheit fernzuhalten – das gilt für alle Versicherungsgemeinschaften,
auch für die Krankenkassen. Ich wäre schon zufrieden, wenn in der Debatte um
das, was gerecht ist, nicht nur Rechte genannt würden, sondern auf den
eigentlich selbstverständlichen Tatbestand hingewiesen wird, dass Rechte und
Pflichten aufeinander bezogen sind. Und das Rechte entstehen aus erfüllten
Pflichten, und dass selbstverständlich die Pflicht besteht, sich um Arbeit zu
kümmern und sich nicht auf die Sozialhilfe zu verlassen.
Sprecherin:
Der Mentalität, überall Ansprüche zu stellen, sämtliche Rechte
geltend zu machen und dabei das Gemeinwesen wie eine Serviceeinrichtung
anzugehen, begegnet man keineswegs nur in den unteren sozialen Schichten. Es
scheint vielmehr, dass jede Schicht ihre speziellen Methoden und Tricks
entwickelt hat, um sich bei der Allgemeinheit zu bedienen. Unter den Beziehern
hoher Einkommen verfolgen nicht wenige die Strategie, mit Hilfe eines guten
Steuerberaters über raffinierte Abschreibungsmodelle sich möglichst arm zu
rechnen. Die rot-grüne Bundesregierung hat bei ihrem Antritt ein Gesetz zur
Mindeststeuer erlassen, das allerdings juristisch umstritten ist. Es soll
verhindern, dass Gewinne in einer Einkommensart durch Verlust in einer anderen
Einkommensart, z.B. durch Immobilienerwerb unbegrenzt gegengerechnet werden
dürfen.
Sprecher:
Umstritten
ist nicht nur das Gesetz einer Mindestbesteuerung, strittig bleibt jede
Wertung, auch die Montadas, wo und wie im einzelnen soziale Gerechtigkeit
verfehlt wird. In einer komplexen Gesellschaft, die sich zudem dynamisch verändert,
kann es nur darum gehen, ein fragiles Gleichgewicht immer wieder neu
herzustellen. Darüber wird und muss es in einer Demokratie Diskussion und
Streit geben, bei dem sich freilich jene Gruppen, die keine Lobby besitzen,
kaum Gehör verschaffen können.
Der demokratische
Streit über die konkrete Bestimmung und Gewichtung von
Gerechtigkeitsgrundsätzen bleibt dabei unumgänglich, auch die Philosophie kann
der Gesellschaft diese Auseinandersetzung nicht abnehmen. Das wäre ein
Missverständnis dessen, was Philosophie leisten soll und kann, erläutert Axel
Honneth:
O-Ton,
Axel Honneth:
Zu erwarten
dass eine Gerechtigkeitstheorie bereits die politischen Anweisungen mitenthält,
nach denen konkrete Gerechtigkeitsprobleme vor Ort gelöst werden müssen in
unterschiedlichen sozialen Sphären, scheint mir einfach eine Überanstrengung
oder auch Überfrachtung dessen, was politische Philosophie oder auch Theorie,
das intellektuelle Geschäft des Gerechtigkeitsentwurfes überhaupt vermag....
Die Aufgabe der Explikation von Prinzipien – auch im Sinne der Begründung und
der möglichst genauen Ausbuchstabierung eines oder mehrerer
Gerechtigkeitsprinzipien in den Konsequenzen scheint mir die primäre, vielleicht
sogar die einzige Aufgabe. ... Nur – was da genau die gerechte Anwendung
bedeuten könnte, lässt sich nicht von der Theorie aus vorweg bestimmen, das ist
überlassen einerseits der möglichst demokratischen Willensbildung vor Ort, der
Berücksichtigung aller Interessen an dem konkreten Platz, an dem Gerechtigkeitsprobleme
gelöst werden müssen, d.h. hier spielt ein bestimmtes prozedurales Prinzip eine
Rolle, das etwa besagt, dass wir bei der Anwendung von Gerechtigkeitsprinzipien
möglichst diskursiv verfahren sollten, möglichst die Interessen aller
Beteiligten und Betroffenen artikulieren lassen sollten, und dabei wiederum
spielt eine zentrale Rolle, dass solche Abwägungen, Diskurse selber eine Art
von Klugheit besitzen sollten, und eine geradezu moralische Klugheit, ohne dass
hier die Theorie von oben nach unten durch die Probleme zu lösen vermag.
Sprecherin:
Um
herauszufinden, was nicht nur im prinzipiellen Sinne gerecht, sondern auch
einer besonderen Situation gemäß ist, bedarf es der Klugheit. Aristoteles erhob
in seiner Ethik die Klugheit - griechisch phronesis
- zu einer eigenständigen Denkform und stellte sie der theoretischen Vernunft
an die Seite. Beide haben unterschiedliche Aufgaben. Während die theoretische
Vernunft mit Prinzipien und allgemeinen Gründen befaßt ist und in diesem Reich
der Notwendigkeit nach der Erkenntnis der Dinge strebt, richtet sich die
Klugheit auf das Feld des menschlichen Handelns. Sie hat es mit einem Reich der
Möglichkeit zu tun, mit Einzelfällen und konkreten Situationen, deren Ausgang
grundsätzlich offen bleibt. Hier läßt sich nichts aus Prinzipien ableiten,
jedes Individuum muß vielmehr konkret überlegen, abwägen und urteilen, wie es
sich verhalten soll. Klugheit meint also in erster Linie eine Urteilskraft des
Einzelnen, sowohl im Privaten, die eigene Lebensführung betreffend, als auch im
öffentlichen Raum, in Fragen des sozialen Miteinanders und politischen Ordnung.
Sprecher:
Axel Honneth
glaubt, dass die Diskursethik, wie sie vor allem Jürgen Habermas entwickelt
hat, der Idee der Klugheit eine neue intersubjektive Gestalt gegeben hat.
Während er darauf insistiert, dass die Philosophie weiterhin Gerechtigkeitsprinzipien
in ihrer Vielfalt zunächst explizieren und begründen muss, käme dem Diskurs die
Aufgabe zu, ihre Anwendung zu regeln.
O-Ton,
Axel Honneth:
Ich glaube,
... dass bei der Anwendung dieser Gerechtigkeitsprinzipien gewissermaßen der
Diskurs und ähnliche Verfahren, etwa die Mediation, immer deswegen die
angemessensten Verfahren sind, weil sie die alte Idee der phronesis bei
Aristoteles oder der Klugheit gewissermaßen demokratisieren. ...weil sie sie in
die Hände aller Betroffenen legt. Also man könnte sagen, klug ist eine Entscheidung
nur in dem Maße, in dem auch alle, die davon etwas verstehen, und das heißt
auch alle, die davon betroffen sind, sich gemeinsam an die Anwendung des
Prinzips machen. Insofern ist der Diskurs auf der Ebene eine Fortsetzung des
alten Idee der Klugheit, und scheint mir ohne Zweifel das überlegendste Prinzip
der Anwendung von Gerechtigkeitsvorstellungen zu sein.
Sprecherin:
Das antike
Konzept der Klugheit ging noch davon aus, das Erkenntnis und Entscheidung
wesentlich auf ein einzelnes Subjekt, gewissermaßen auf ein einsames
Bewusstsein bezogen sind. Dagegen ist das Konzept des Diskurses auf eine
intersubjektive Instanz ausgerichtet, auf eine Vielheit von Menschen, die sich
über Werte und Normen miteinander verständigen müssen. Dahinter steht die philosophische
Annahme, dass keine Letztbegründungen möglich sind, d.h. Wahrheiten ebenso wie
Normen beziehen in letzter Instanz ihre Gültigkeit daher, dass sie einer argumentativen
Prüfung durch alle beteiligten Subjekte standhalten.
Wenn
Gerechtigkeitsprinzipien miteinander konfligieren, wenn ihre Gewichtung
strittig ist, so kann eine Lösung nur in einem Diskurs, d.h. in einer möglichst
offenen Diskussion aller Beteiligten und Betroffenen gefunden und legitimiert
werden.
Sprecher:
Die Ethik
des Diskurses stellt ein demokratische Verfahrensprinzip dar. Damit wird
zugleich Gerechtigkeit noch einmal auf einer Metaebene definiert. In einer
Demokratie muß zu allererst ein Entscheidungsprozeß selbst gerecht und fair
sein, d.h. es müssen alle Stimmen gehört und berücksichtigt werden, damit wir
die dort gefundenen Lösungen und Kompromisse als gerecht akzeptieren und hinnehmen
können.
Sprecherin:
Der Diskurs
verlangt jedoch nicht nur scharfsinnig argumentierende Teilnehmer, er verlangt
ebenso einen moralischen Willen, der über Eigen- und Korpsinteressen
hinausgeht.
Die Klage, nur diejenigen da oben seien an der Ungerechtigkeit
schuld, verkennt das Wesen der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit stellt nicht allein
ein Prinzip dar, das herrschen soll, -
sie bildet auch eine ethische Haltung - altmodisch gesprochen: eine
Tugend, die geübt wird oder nicht. Platon nannte die Gerechtigkeit das rechte
Verhalten zu den Mitmenschen. Und Aristoteles schrieb:
Zitator:
„Aus diesem
Grund scheint die Gerechtigkeit als einzige unter allen Tugenden ‚des anderen
Gut’ zu sein, weil sie auf den anderen bezogen ist. Sie tut nämlich, was einem
anderen zuträglich ist.“
Sprecherin:
Im Gegensatz
zum modernen Gleichheitsgrundsatz betont die alte Gerechtigkeitsformel Jedem
das Seine zu gewähren eine altruistische Dimension: Gerecht zu sein
bedeutet, dem anderen gerecht zu werden, ihn zu respektieren und ihm die Chance
zur Entfaltung seiner Persönlichkeit einzuräumen.
Sprecher:
Eine solche
Einstellung ist in der modernen, stark narzißtisch ausgelegten Konsumgesellschaft
problematisch.
Aber
trotz der egozentrischen Mentalität, der man allenthalben begegnet, ist den
Bundesbürgern der Gerechtigkeitssinn keineswegs abhanden gekommen. Empirische Untersuchungen ergaben, so Leo
Montada, einen interessanten Befund:
O-Ton, Leo
Montada:
Die Bürger
haben einen viel größeren Sinn – und wir sehen das in vielen unserer
Untersuchungen - für die Belange der Gemeinschaft als die Funktionäre, inklusive
der politischen Funktionäre, glauben, d.h. ... die Politiker gehen davon aus,
dass die Eigeninteressen das eigentlich dominante Motiv in der Bevölkerung
wären – dieses ist falsch. Ein Großteil der Bürger haben einen Sinn für die Belange
der Gemeinschaft, haben einen Gerechtigkeitssinn, sind offen für diese Dinge,
... viele sind der Meinung, sie sind überprivilegiert, und sie verdienen das
nicht, und sie leiden unter dem, was wir existentielle Schuldgefühle nennen,
d.h. sie fühlen sich eigentlich unverdient privilegiert. Wenn Sie etwa zu
Zeiten, wo die Arbeitslosigkeit das zentrale Thema war, in Meinungsumfragen
geschaut haben, in allen europäischen Ländern, dann waren Zwei Drittel der
Vollzeitbeschäftigten bereit, 10% ihrer Arbeitszeit und ihres Arbeitseinkommens
abzugeben, wenn damit Arbeitsplätze geschaffen würden, also sie haben durchaus
eine gemeinsinnige Orientierung.
Sprecherin:
Es gibt den
Gemeinsinn der Bürger, belegbar auch durch die überraschend hohe Zustimmung zu
Eichels Sparpaket in der Bevölkerung, selbst da, wo die Sparmaßnahmen konkret
werden und die eigene Gruppe betreffen. Der Gemeinsinn der Bürger kann sich
aber nicht von selbst in politische Wirklichkeit umsetzen, er bedarf der
Artikulation in der Öffentlichkeit und der Organisation durch Politiker.
Sprecher:
Doch hier
gerät der Reformwille in eine schizophrene Falle, in einen Widerspruch zwischen
privater Einsicht und öffentlicher Stellungnahme. Denn viele Politiker wissen
um die Notwendigkeit unbequemer Maßnahmen, scheuen sich aber von Verzicht zu
sprechen und bevorzugen im Blick auf Wahlkampf und Machterhalt populistische
Versprechen für alle und jeden. Gleiches gilt für die Funktionäre der mächtigen
Verbände: Auch sie riskieren es wider besseres Wissen nicht, ihren Mitgliedern
Einschränkungen zuzumuten, die dem Ganzen dienlich wären, stattdessen betreiben
sie sture Interessenpolitik. Manager in Wirtschaft und Industrie schließlich
sind durchaus von der langfristigen Überlegenheit umweltgerechter Produktion
überzeugt, aber beim Gang in die Vorstandsitzung, beim Blick auf den Aktienkurs
entschließen sich zur Strategie kurzfristiger Profite.
Sprecherin:
Auch da, wo
es um ein anderes Feld von Gerechtigkeit geht, um den direkten Ausgleich
zwischen Menschen oder auch zwischen Individuen und Institutionen, herrscht ein
Anspruchsdenken vor, das den Gerechtigkeitssinn beiseite drängt. Immer mehr
Leute schließen Rechtsschutzversicherungen ab, um in Streitfällen ihre
Ansprüche durch Anwälte durchsetzen zu lassen. Konflikte mit dem Nachbarn oder
dem Vermieter, am Arbeitsplatz oder im Verkehr werden an die Justiz delegiert
und vor Gericht ausgetragen.
Sprecher:
Es gibt aber
seit einiger Zeit auch eine entgegengesetzte Tendenz, die mit dem Begriff
Mediation verknüpft ist. Mediation – wörtlich Vermittlung – versucht eine
Schlichtung auf außergerichtlichem Weg, wobei die Konfliktpartner sich auf
diskursivem Weg selber eine Lösung erarbeiten müssen. Dabei unterstützt sie der
unparteiliche Mediator, - das sind in der Regel Rechtsanwälte, Psychologen oder
Pädagogen, die für diese Tätigkeit meist eine Zusatzausbildung gemacht haben.
Sprecherin:
Mediation
ist ein Schlichtungsverfahren, das in den siebziger Jahren in Amerika
entwickelt worden ist, wo es regelmäßig Gerichtsverfahren vorgeschaltet wird.
Die Mediation bemüht sich im Gegensatz
zu juristischen Entscheidungen um Lösungen, die eine umfassendere Gerechtigkeit
herbeiführen. Ihr Ergebnis gleicht im Idealfall nicht der typischen Aufteilung
in Sieger und Verlierer wie beim Gerichtsurteil, sondern kann zu Lösungen
gelangen, bei denen beide Konfliktpartner das Feld als Gewinner verlassen. Ein
Beispiel dafür schildert die Rechtsanwältin Birgitta Radermacher. Sie leitet in
Köln ein Institut für Mediation.
O-Ton, Birgitta Radermacher:
Stellen Sie
sich ein Zwei-Familien-Haus vor, zwei Etagen. Unten wohnt die Schwester, oben
der Bruder. Die Schwester wohnte schon da zu dem Zeitpunkt, als die Mutter noch
lebte; der Bruder ist oben erst eingezogen, als die Mutter verstarb. Die Schwester
hat unten eine große Terrasse, daneben steht ein großer Baum. Dieser Baum stört
die Schwester beim Sonnen. Die Schwester wünscht sich, dass der Baum abgeholzt
wird. Der Bruder sagt: ‚Nichts da, der Baum bleibt stehen!’
Die beiden
kommen also und erklären ganz deutlich, die eine: ‚Der Baum muss ab!’ und der
andere: ‚Nein, der Baum bleibt stehen!’ Im Zuge der Überlegungen, warum nun
genau diese Aufteilung im Haus erfolgt ist, und warum der Baum für den einen
wichtig und für den anderen unwichtig ist, stellt sich heraus, dass die
Schwester lieber viel weniger Gartenarbeit machen würde. Sie hat einen anstrengenden
Beruf und kommt abends nach Hause, gießt noch drei Blümchen, möchte sich aber
ansonsten hinlegen und sonnen. Während der Bruder die Gartenarbeit sehr liebt
und den Garten so erhalten möchte, wie er von seiner Mutter gestaltet worden
ist. Außerdem möchte der Bruder eine Familie gründen, Kinder bekommen, und
gerade für die ist ein Garten auch herrlich. Das Ergebnis war letztlich, dass
die beiden jetzt in absehbarer Zeit die Wohnungen tauschen - sprich: die
Schwester zieht nach oben, hat ihre Terrasse, kann sich sonnen. Der Baum stört
sie dort nicht, und der Bruder hat unten seinen Baum, seinen Garten und kann
die entsprechend pflegen.
Sprecher:
Vor Gericht
wäre eine solches Ergebnis vermutlich nie zustande gekommen. Der Anwalt des
Bruders hätte mit Hilfe der Baumschutzordnung nach einer Rechtsgrundlage
gesucht, warum der Baum nicht gefällt werden darf. Der Anwalt der Schwester
wiederum hätte ebenfalls in diese Verordnung geschaut und beispielsweise
geprüft, ob der Abstand des Baumes zur nachbarschaftlichen Grenze gewahrt ist -
um umgekehrt einen Rechtstitel dafür zu erwirken, dass der Baum gefällt werden
muss.
Sprecherin:
Gerichtsurteile
in der einen oder anderen Hinsicht hätten aber ein Ergebnis, das beiden
Lebenszusammenhängen gerecht wird, notwendig verfehlt.
Das Beispiel
zeigt, dass Konflikte sich nicht allein auf der Ebene einer Durchsetzung oder
Abweisung von Rechtsansprüchen lösen lassen. – Das gilt erst recht im Falle von
Scheidungen. Zunehmend suchen Ehepartner, die auseinander gehen wollen, einen
Lösungsweg in der Mediation.
O-Ton, Birgitta Radermacher:
Wenn eine
Scheidung ins Haus steht, eine Trennung, dann bilanzieren die Ehepartner. Sie
setzen Soll und Haben einander gegenüber, nicht im mathematischen Sinne allein,
was das Geld angeht, sondern sie überlegen sich: ‚Wie viele Jahre war ich mit
ihm, mit ihr zusammen.’ Sie kennen alle den Spruch: ‚Ihm habe ich meine besten
Jahre geschenkt.’ Und es gibt nicht für alles einen Ausgleich in Geld. Und das
ist etwas, was für mich ganz besonders die beiden Verfahren unterscheidet.
Dieser Ausgleich in Geld ist etwas, was ich bei Gericht erreichen kann. Der
Ausgleich dafür, dass ich meine Zeit, meine Liebe, meine Hingebung - sei es in
den Haushalt, sei es in den Beruf gesteckt habe, den kann ich bei Gericht nicht
bekommen, den kann ich aber bei der Mediation bekommen, das kann ein einfaches
„Danke, was Du für mich getan hast in unserer Ehe“ sein. – Sie
glauben nicht, was das Lob des einen bei
dem anderen bewirkt.
Sprecher:
Auch wenn
das Schuldprinzip im Scheidungsrecht mit guten Gründen abgeschafft worden ist,
steht die Frage nach Schuld und Verantwortung immer im Raum. Verdeckt unter der
Forderung nach materiellem Interessenausgleich schwelt diejenige nach voller
Gerechtigkeit. Oft wird dann im Kampf um das Sorgerecht Rache genommen für
mangelnde Anerkennung, für Kränkungen und Enttäuschungen - für all das, wo man
sich von dem anderen ungerecht behandelt fühlt.
Sprecherin:
Was die
Scheidung im Extremfall vorführt, gilt für viele Konflikte. Sie sind, so Leo
Montada, letztlich keine bloßen Interessen-, sondern vielmehr Gerechtigkeitskonflikte.
Insbesondere wenn Menschen mit Empörung reagieren, kann man sicher sein, dass
sie sich ungerecht behandelt fühlen. Deshalb ist es ein gesellschaftlich
folgenschweres Missverständnis zu glauben, sämtliche Konflikte ließen sich
verrechtlichen. Diese Einsicht spricht nicht grundsätzlich gegen das
Rechtssystem, wohl aber gegen seine Gleichsetzung mit Gerechtigkeit.
Recht und
Gerechtigkeit bilden ein Spannungsverhältnis, das der französische Philosoph
Jacques Derrida neu durchdacht hat. Christoph Menke:
O-Ton, Christoph Menke
Was ich die
große Stärke von Derrida finde, ist, dass er .... eigentlich zwei Dinge
zugleich macht, und damit ein Problem auch ein Stück weit zu überwinden hilft,
dass in der Tradition der politischen Philosophie immer fatal war. ... Zum
einen hält er fest an einem Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit, und
das hat in der Tradition dazu geführt – man kann wieder auch das marxistische
Beispiel heranziehen - zu einer Diskreditierung
des Rechts. Zu einer marxistischen Tradition gehörte es immer, die Idee
der Rechte, auch der Menschenrechte zu diskreditieren im Namen einer angeblich
inhaltlichen, materialen Gerechtigkeit. Und das war fatal in den Konsequenzen,
nicht zuletzt in den Staaten selbst, dass man kein Vertrauen hatte, dass man
nicht die Bedeutung sah, die in einer funktionierenden Rechtsordnung lag, und
daraus hat man auf der anderen Seite häufig geschlossen, dass wir uns mit dem
Recht, so wie es ist, gewissermaßen zu bescheiden haben, als sei das Recht
selbst fast schon etwas absolutes, als gäbe es darüber hinaus zumindest nichts,
das wir zu verfolgen hätten.
Und zwischen
diesen beiden Alternativen, einerseits einer Rechtsgläubigkeit, andrerseits
einer Rechtsdiffamierung, ... zwischen diesen beiden Alternativen will Derrida
hindurch.
Sprecher:
Derrida
fordert dazu auf, das Recht zu achten, aber nicht als einen Selbstzweck,
sondern weil es den Menschen dazu dient, die weitergehenden Ideen Freiheit,
Gleichheit und Solidarität zu verwirklichen. Das Recht gibt es gewissermaßen
nur, weil wir mit ihm mehr wollen als Recht: nämlich Gerechtigkeit. Was jedoch
in diesem Mehr aufscheint, darf nicht nur schöne Idee bleiben, dieses Mehr soll
vielmehr nach Kräften immer wieder ins Recht hineingeholt werden.
Sprecherin:
Gerechtigkeit
sitzt wie ein moralischer Stachel im Fleisch der bestehenden Gesetze, auf dass
sie neu durchdacht und verbessert werden.
Die Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit ist für Derrida jedoch
nichts Negatives, kein Konflikt, der still gestellt oder überwunden werden
soll. Sie schafft vielmehr eine
fruchtbare Spannung. Hier entspringt ein ethischer wie politischer Auftrag, der
stets aufs neue an alle ergeht: Unter gleichen jedem das Seine zu gewähren.