Sprecher:
„Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es
keines mehr gibt.“ schreibt der französische Historiker Pierre Nora. Nora
zitiert hier die bekannte Logik, wonach eine Sache dann allgemein diskutiert
und wissenschaftlich erforscht wird, wenn sie zum Problem geworden ist. Verhält
es sich denn so mit dem Gedächtnis? Ist es in eine Krise geraten?
Sprecherin:
Die Angelegenheit scheint vielschichtig. Die
Forschungsliteratur zum Thema Gedächtnis boomt, streut sich allerdings über das
gesamte Wissenschaftsspektrum. Disziplinen, so verschieden wie Tag und Nacht,
was Ansatz und Methode angeht, beschäftigen sich mit dem Gedächtnis.
Da stößt man als erstes auf Arbeiten der
naturwissenschaftlichen Hirnforschung, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten
große Fortschritte gemacht hat.
Neurologen vermögen inzwischen Zusammenhänge zwischen bestimmten
Hirnregionen und Erinnerungsaktivitäten technisch zu erfassen. Am Modell
neuronaler Netzwerke formulieren sie Hypothesen, wie Gedächtnis und Erinnerung funktionieren.
Sprecher:
Da trifft man ferner auf Werke aus dem Bereich der
Informationswissenschaften und –technologien. Mit dem Siegeszug von Computer
und Internet haben sich digitale Speichermedien durchgesetzt. Eine neue Art von
technischem Gedächtnis mit gewaltigen Kapazitäten ist entstanden, wo ganze
Bibliotheken buchstäblich in der Westentasche Platz finden.
Sprecherin:
Schließlich
fällt der Blick auf zahlreiche Publikationen aus den Geistes- und
Sozialwissenschaften, die um das Thema Gedächtnis kreisen. Ein Fokus der
Auseinandersetzung ist ‚Das Gedächtnis des Jahrhunderts’, so auch der Titel der
aktuellen April-Nummer der Zeitschrift Transit. Historiker und
Sozialpsychologen, Philosophen und Literaturwissenschaftler schneiden die
Fragen unterschiedlich an. Gemeinsames Merkmal ist jedoch, dass es nicht nur um
individuelle, sondern zunehmend um kollektive Erinnerung geht, um „Formen und
Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses’ wie ein Buch der Konstanzer
Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann im Untertitel heißt.
Sprecher:
Das Thema
kollektives Gedächtnis ist keine akademische Erfindung, sondern eine Frage von
öffentlichem Belang. Sie verweist vor allem auf die politischen und
gesellschaftlichen Umbrüche nach 1989, meint der Sozialpsychologe Harald Welzer
von der Universität Witten-Herdecke.
O-Ton, Harald Welzer:
Ein entscheidender Punkt für die
Popularität des Themas hängt mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen
der letzten zwanzig Jahre zusammen, also den Systemtransformationen in den
osteuropäischen Ländern, auch in der Bundesrepublik, es hängt mit der Tatsache
zusammen, dass wir eine Jahrtausendwende hatten, wo offenbar eine Notwendigkeit
entsteht, für die Gesellschaftsmitglieder, aber auch für die Gesellschaften
eine Selbstvergewisserung vorzunehmen: ‚Wer sind wir? Wo kommen wir her? Was
sind unsere Traditionsbestandteile, was sind die Fundamente unseres Handelns?’
- Und da spielt Gedächtnis natürlich eine große Rolle. Das ist auch ein Teil
der Popularität in den Kulturwissenschaften, in den Geistes- und etwas weniger
in den Sozialwissenschaften, wo einfach vor dem Hintergrund der
Identitätsbildung, und zwar nicht nur der individuellen, sondern auch
kollektiven Identitätsbildung, der Aspekt des Gedächtnisses und der Erinnerung
eine große Rolle spielt.
Sprecherin:
Von welch
politischer Brisanz die Frage des kollektiven Gedächtnisses sein kann, wurde
vor allem in den Ländern des früheren Ostblocks sichtbar. Der Kommunismus hatte
ältere Bindungen der Menschen keineswegs aufgelöst, sondern nur wie in einem
Kühlschrank eingefroren. Vom angeordneten Internationalismus nur zugedeckt aber
nicht bewältigt, hielten die ethnischen, religiösen und nationalen Konflikte
eine Art Winterschlaf. Nach 1989 flackerten sie wieder auf. Zum verheerenden Flächenbrand
kam es in Ex-Jugoslawien, wo sich die Menschen fortan als Serben, Kroaten oder
Bosnier begriffen oder begreifen mussten, aufgehetzt von ehemals
kommunistischen Machthabern, die im neuen nationalistischen Gewand ihre alte
Herrschaft fortsetzten.
Sprecher:
Für das
künftige Schicksal eines Landes kann es entscheidend sein, an welchen historischen Ereignissen und Bildern sich die
Menschen orientieren, womit sie sich identifizieren. Deshalb ist auch der
Rückbezug auf Geschichte und Tradition niemals nur folkloristisch oder museal.
Geschichte bildet für jede Gesellschaft ein Medium der Selbstverständigung,
erläutert der Historiker Jörn Rüsen, Direktor des Kulturwissenschaftlichen
Instituts in Essen:
O-Ton, Jörn Rüsen:
Eine
Gemeinschaft, ein Volk, eine Nation, eine Kultur, eine Gruppe, eine Religion,
eine Partei lebt immer auch vom Gedächtnis, vom kollektiven Gedächtnis, wie man
das zu nennen beliebt, indem diese Gruppe über eine Geschichte sich über sich
selbst verständigt und sich klar macht: ‚Wofür stehen wir? Wem und was sind wir
verpflichtet? Was zeichnet uns aus, was unterscheidet uns von den anderen?’ Und
das ist ungeheuer mächtig. Das ist eine große kulturelle Kraft, Macht und in
mancher Hinsicht sogar eine Gewalt, die über die Menschen herrscht, manchmal
wie ein böses Geschick, wenn man einmal an die Vorgänge in Nordirland denkt. Wo
historische Ereignisse des 17. Jahrhunderts noch so lebendig sind im
kollektiven Gedächtnis, dass katholische Eltern ihre Kinder zur Schule
begleiten müssen, wenn sie durch ein protestantisches Viertel gehen, und auch
umgekehrt. – Das muss man sich einmal vorstellen, wie mächtig Erinnerung sein
kann.
Sprecherin:
In
Deutschland über kollektives Gedächtnis zu sprechen, weist unumgänglich auf die
Last des vergangenen Jahrhunderts: Schuld bzw. Mitschuld an zwei Weltkriegen,
Teilung und Wiedervereinigung, nationalsozialistische Diktatur und Massenmord
an den Juden.
‚Vergangenheitsbewältigung
in Deutschland’, wie das jüngste Buch des Hamburger Politikwissenschaftlers
Peter Reichel heißt, stellt inzwischen selbst schon ein eigenes wechselvolles
Geschichtskapitel dar:
Sprecher:
Das frühe Nachkriegsdeutschland floh hinter Mauern aus
Schweigen und Verdrängung, es versuchte das Gewissen im zyklischen Ritual der
Gedenktage zu beschwichtigen. In immer neuen Schüben durchbrachen aber auch
Auseinandersetzungen und öffentliche Debatten, Prozesse gegen NS-Verbrecher das
hilflose Schweigen, und eine Fülle wissenschaftlicher Arbeiten sind inzwischen
entstanden. Doch mehr als die Wissenschaften beeindruckten Film und Fernsehen
die Menschen, insbesondere die amerikanische Fernsehserie über den Holocaust
1979/80.
Nach seinem
Erfolg mit dem Film Schindlers Liste gründete der Hollywood-Regisseur
Stephen Spielberg 1994 die Shoah Foundation. Diese Stiftung rief weltweit die
Überlebenden der Vernichtungslager dazu auf, individuelles Zeugnis abzulegen
von ihren Erfahrungen und Leiden. Bis heute sammelte die Shoah Foundation in
riesigen Datenbanken mehr als 50.000 Videos mit persönlichen Berichten in 32
Sprachen von Zeugen aus 57 Ländern.
Sprecherin:
Die Arbeit
der Shoah Foundation nimmt den Wettlauf mit der Zeit auf. Denn sie geschieht in
einer historischen Phase, wo die Generation
der Opfer,
der Täter und der Zeitzeugen ausstirbt. „Bald sprechen nur noch die Akten,
angereichert durch Bilder, Filme, Memoiren“ warnt der Historiker Reinhart
Koselleck. Das kollektive Gedächtnis steht vor einem kritischen Übergang: Die
unmittelbare Geschichtserfahrung muss in ein medienvermitteltes Gedächtnis,
lebendige Erinnerung in einen materiellen Speicher übertragen werden.
Aber können
Gedenkstätten und Archive, Mahnmäler und Museen die Erinnerung genauso wach
halten wie leibhaftige Zeugen, wie Menschen, die erzählen, was geschehen ist?
Harald Welzer:
Das
Aussterben der Zeitzeugengeneration, sowohl auf der Täter wie auf der
Opferseite, ist natürlich in dieser Sicht ein riesiges Problem. Weil das
bedeutet, dass man sich nicht mehr auf lebendige Erinnerungsbestände beziehen
kann, sondern auf Interpretationen, die nicht mehr mit Lebendigkeit gefüllt
werden, anschaulich gemacht werden können, daher kommt auch die ganze Idee, ...
wiederum aus Täter- und Opferperspektive, riesige Videoarchive anzulegen,
Stephen Spielbergs Shoah Foundation auf der einen Seite und Guido Knopps
Jahrhundertbuße auf der anderen Seite, wo also versucht wird, dieses lebendige
Material zu konservieren und jederzeit abrufbar zu halten.
Die Frage
ist natürlich, ob so etwas geht: Das Erleben der Erzählung eines Überlebenden
eines Lagers ist sicherlich etwas anderes als das Betrachten eines Videos
derselben Person, wie sie das erzählt, zumal es auch keine Rückfragen
gestattet.
Sprecher:
Lebenszeugnisse
von NS-Opfern, Dokumentationsmaterial aller Art zu konservieren, ist wichtig,
aber nicht ausreichend. Es gehört zu den Missverständnissen des
Computerzeitalters, Gedächtnis mit Speicher gleichzusetzen. Doch die
Speicherung ist nur eine, nicht die einzige Funktion von Gedächtnis. Speichern
bedeutet Informationen so festzuhalten, dass sie später identisch wieder
abgerufen werden können: Maschinen können speichern, zum Beispiel indem die
Daten auf die Festplatte eines Computers geschrieben werden. Auch Menschen
können speichern. Wir merken uns ein Gesicht, einen Weg, eine Telefonnummer,
oder lernen gar ein Gedicht auswendig.
Sprecherin:
Menschen
können aber auch erinnern, und dazu sind Maschinen nicht in der Lage. Spontan
ruft eine bestimmte Situation frühere Erlebnisse, Gedanken und Gefühle in uns
wach. Wir holen sie im Bewusstsein ganz nach vorn, während andere in den
Hintergrund treten. Neue Erfahrungen überdecken ältere, lassen sie unwichtig
werden und geben sie dem Vergessen anheim.
Die Leistung
des menschlichen Gedächtnisses besteht also gerade nicht in der puren
ungefilterten Speicherung, sondern in der Auswahl und Strukturierung des
Aufgenommenen. Das Gedächtnis wertet:
was ist für mein künftiges Leben wichtig, was unwichtig, es trennt die Spreu
vom Weizen. Deshalb gehört zur Fähigkeit des Erinnerns komplementär auch die
des Vergessen-Könnens hinzu, darauf hat insbesondere Friedrich Nietzsche
hingewiesen.
Sprecher:
Solche
Wertungen und Verwerfungen, auch wenn sie für das Erinnern charakteristisch
sind, können jedoch problematisch sein, nicht nur für das individuelle, sondern
auch für das kollektive Gedächtnis, wie der Historiker Jörn Rüsen erläutert:
O-Ton, Jörn Rüsen:
Das
Gedächtnis ist ein riesiges Filter, das die Menschen benutzen, um vergessen zu
können. Wir müssen uns auch freimachen von den vielen unendlichen Eindrücken,
die wir irgendwo alle speichern und sammeln. Es besteht die Aufgabe des
Gedächtnisses einfach darin, das Wichtigste zu behalten, und das Unwichtige zu
vergessen. Wenn das alles wäre, gäbe es keine Probleme. Das Problem besteht
dort, wo Wichtiges vom Gedächtnis verdrängt wird, unterdrückt wird, verfälscht
wird, weil es etwas ist, was wir nicht gerne haben, woran wir nicht gerne
denken. Und wenn man sich die Menschen so anguckt, wie sie sind, dann machen
sie meistens Dinge, die nicht so furchtbar toll sind. Die Erinnerung ist dann
auch ein geschickter Lügner, der uns dann im nachhinein die Dinge so
aufbereitet, wie wir sie gerne hätten. Machen wir uns da nichts vor. Deshalb
muss es zum Beispiel Wissenschaft geben, um das zu überprüfen, ob das wirklich
stimmt, was wir da glauben, was geschehen sei, und meistens stimmt es nicht, es
war ein bisschen anders.
Sprecherin:
Es gibt
wissenschaftliche Studien, die in der jüngsten Vergangenheit untersucht haben,
wie es um das Verhältnis von Gedächtnis und historischer Wahrheit steht, d.h.
ob und wie geschichtliche Erfahrungen weitergegeben oder auch verfälscht
werden. Besonders aufschlussreich war eine Mehrgenerationenstudie unter dem
Titel ‚Tradierung von Geschichtsbewusstsein’, ein Forschungsprojekt das der
Sozialpsychologe Harald Welzer von 1997 bis 2000 an der Universität Hannover
durchgeführt hat. Harald Welzer selbst:
Das Projekt Tradierung
von Geschichtsbewusstsein hat eigentlich eine sehr einfache Fragestellung,
die richtete sich damals darauf, wie Vorstellungen und Bilder von der
Vergangenheit im Gespräch zwischen den Generationen weitergegeben werden. Und
die Ausgangsüberlegung bei dem Projekt war, dass neben den Wissensinhalten über
Geschichte, wie sie etwa n der Schule vermittelt werden, oder in den Medien der
politischen Bildung, dass neben diesen wissensbasierten Vorstellungen von der
Vergangenheit ganz andere Bilder der Vergangenheit existieren, die auf anderen
Wegen zustande kommen und in das Bewusstein gelangen. Und einer der Wege, wie
Vergangenheitsvorstellungen entstehen, ist das Gespräch in der Familie.
Sprecher:
Am Projekt
nahmen insgesamt vierzig Familien teil. Befragt wurden die Großeltern, also
Zeitzeugen des Nationalsozialismus, dann ihre Söhne und Töchter, schließlich
die Enkel, und zwar alle drei Generationen sowohl im gemeinsamen Gespräch als
auch in Einzelinterviews. Die Untersuchung orientierte sich im Ansatz am
Prinzip der so genannten Stillen Post. Leitfrage war also, ob und wie die
Erinnerungen der Großeltern in den Erzählungen der Kinder aufgenommen bzw.
verändert wurden, und welche Botschaften schließlich bei den Enkeln angekommen
sind.
Sprecherin:
Das Ergebnis
war erschütternd, denn es kam in der Mehrzahl der befragten Familien zu
erstaunlichen Verzerrungen. Harald Welzer hat einen der Fälle herausgegriffen.
O-Ton, Harald Welzer:
Es
funktioniert beispielsweise so, dass in einem Gespräch eine in der Nähe von
Bergen-Belsen lebende alte Dame erzählt, wie es ihr gelungen ist, nach der
Befreiung des Lagers Bergen-Belsen dafür zu sorgen, dass bei ihr keine Juden
einquartiert werden. Und sie erzählt das schon mit harten Worten, weil sie
sagt, dass sie diese Leute widerwärtig fand, und immer gesehen hat, dass sie
die nicht kriegt, und immer die britische Besatzungsmacht ausgetrickst hat,...
Ihr Sohn erzählt eine ganz andere Geschichte, die mit der Familie selber direkt
nicht viel zu tun hat, aber mit dem Verstecken von jüdischen Flüchtlingen zu
tun hat, die von einer ganz anderen Person vorgenommen haben, die aber auch
eine alte Dame ist, ... Die Enkelin nun erzählt eine Geschichte, wo all diese
Elemente zusammengefügt werden, aber die Personen praktisch ausgetauscht sind,
so dass die unbekannte dritte Person, die diese Heldentaten vollbracht hat,
ersetzt wird durch ihre eigene Oma. Und die Enkelin erzählt die Geschichte, mit
welcher Pfiffigkeit und trickreichem Verhalten ihre Oma Juden versteckt hat,
die aus dem Lager geflohen sind, unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Und das
ganze wird resümiert mit dem Satz: Das ist eine Tat, die ich ihr hoch
anrechne.“
Sprecher:
Harald
Welzer hat für dieses Phänomen, das bei der Mehrzahl der befragten Familien
auftrat, den Begriff der kumulativen Heroisierung geprägt. D. h. auf dem
Überlieferungsweg durch die Generationen werden die Großeltern mehr und mehr zu
Helden des alltäglichen Widerstandes stilisiert, ungeachtet dessen, was jene
selbst über ihre Vergangenheit erzählen.
Sprecherin:
Welzer
entdeckt diese schönfärberischen Familienmythen auch bei Heranwachsenden, die
im übrigen durchaus kritisch eingestellt sind und über die Verbrechen des
Nationalsozialismus und die Verstrickung vieler Deutscher sehr wohl Bescheid
wissen. Aber in Bezug auf ihre Familie reagieren sie nach der Devise: ‚Die
Nazis waren immer die anderen’. Offensichtlich orientiert sich das Gedächtnis
hier weniger am Kriterium der Wahrheit, sondern weit mehr am Willen zur
Loyalität gegenüber der Familie. Es folgt dem psychischen Bedürfnis gute und
integre Großeltern zu besitzen, d.h. einen unbescholtenen Ursprung für das
eigene Ich.
Sprecher:
Geschichtsbewusstsein
wird aber nicht nur in Schule und Öffentlichkeit geformt, sondern auch über das
so genannte kommunikative Gedächtnis, d.h. den Gesprächszusammenhang der
Generationen in der Familie. Viele kennen
die Kriegs-, Flucht- und Vertreibungsgeschichten ihrer Eltern bzw Großeltern.
Hier gravieren sich dramatische Erlebnisse ein, verbunden mit Gefühlen, Ängsten
und Kränkungen, das alles beeindruckt mehr als die nüchternen und abgewogenen
Sätze im Geschichtsbuch.
Sprecherin:
Neben den
Familienmythen werden auch Fiktionen aus Film und Fernsehen für die Erinnerung
immer wichtiger und einflussreicher. Werden die neuen Medien unser kollektives
Gedächtnis verändern? Die Gedächtnisforschung bemerkt, dass Episoden aus Filmen
herausgelöst und in die eigene Biographie hineinphantasiert werden.
Wir finden
in unseren Interviews auch das total interessante Phänomen, dass gerade in der
Zeitzeugengeneration und aus dem Krieg häufig Geschichten erzählt werden, die
aus Filmen und Filmdokumentationen importiert werden in die eigene
Lebensgeschichte. Wo Episoden aus der ‚Brücke’ beispielsweise erzählt werden,
oder auch aus dem ‚Boot’, oder aus ‚Im Westen nichts Neues’, die dann aber den
Erzählern so zu eigen geworden sind, dass sie das für zentrale Bestandteile
ihrer eigenen Autobiographie halten. ... Inwieweit jetzt unsere
Erinnerungspraktiken und Importe in die eigene Lebensgeschichte durch solche
Medien wie das Internet oder die beliebige Verfügbarkeit aller möglichen Sorten
von Filmen und Bildquellen usw verändert worden, ... vermag ich nicht zu
beantworten, ich würde nur sagen, es spricht alles dafür, dass solche Medien
angeeignet werden, individualisiert und personalisiert werden, alles das, was unser
kommunikativer Raum ist, wird in gewisser Weise praktisch verändert.
Sprecher:
Das
kollektive Gedächtnis muss zwei Klippen umschiffen. Die erste Klippe bildet
nach wie vor die Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung eines monströsen 20.
Jahrhunderts, jedoch unter der Erschwernis, dass die Zeitzeugen sterben. Hier
geht es um das politische Gedächtnis in Deutschland.
Die zweite
Klippe betrifft den Umbruch der Gedächtniskultur, von der Gutenberg-Galaxis des
Buches hin zu einem digitalen Universum der Bilder, Texte und Töne. Hier geht
es um das kulturelle Gedächtnis in einem sehr umfassenden Sinn.
Sprecherin:
Über eine
Vielzahl von Kanälen dringt eine ungeheure Masse an Information auf den
Einzelnen ein, die kaum mehr zu bewältigen ist. Kulturkritiker wie der New
Yorker Kommunikationswissenschaftler Neil Postman prophezeien, dass sich das
Reflexionsniveau immer mehr zersetze und eine Kultur befördert werde, die
einseitig auf Kurzweil und Zerstreuung ausgerichtet sei. Wir amüsieren uns
zu Tode - so lauten die These und der Titel eines seiner Bücher. Die
Kaskaden der Bilderflut trainierten das Vergessen, nicht aber das Gedächtnis.
Denn Erinnern braucht Zeit, bedarf der Unterbrechungen und Pausen, damit
Reflexion und Nachdenken einsetzen können.
Zersetzt die Bilderflut der neuen Medien das kollektive
Gedächtnis?
O-Ton, Harald Welzer:
Es ist sehr
schwierig, solche Fragen, die den gesamten kulturellen Entwicklungsvorgang
betreffen, zu beantworten. Aber ich würde – etwas ungeschützt einige Gedanken
und Thesen dazu äußern: man muß glaube ich verzeichnen, dass hinsichtlich des
Geschichtsbewusstseins über den Holocaust, sicherlich bestimmte mediale
Produkte wie die Holocaust-Serie von 1979 wie ‚Schindlers Liste’ aus den 90er
Jahren und einiger andrer solcher Dinge, wahrscheinlich viel mehr das
Bewusstsein über die vergangenen Verbrechen überhaupt geschärft haben oder erst
angestoßen haben, als dass diverse Regalmeter von sehr guten Geschichtswerken
vermocht haben.
Insofern
würde ich das nicht gegeneinander ausspielen, sondern würde immer denken, das
steht in einem Ergänzungsverhältnis, weil die Formate und die Ebenen, auf denen
Informationen transportiert werden, eben verschiedene sind. Die kann man als
ergänzende betrachten, man muss die nicht gegeneinander unter kulturkritischer
Perspektive sehen.
Sprecher:
Man sollte
nicht vorschnell urteilen oder gar den Untergang des Abendlandes an die Wand
malen. Umbrüche im Memorialkonzept, wie sie zur Zeit stattfinden, sind Zeiten
der Krise. Sie sensibilisieren aber auch und schärfen die Wahrnehmung, sie
rücken das scheinbar Selbstverständliche einer Sache wieder ins Bewußtsein. Als
sich im vierten Jahrhundert vor Christus in Griechenland das Alphabet
verbreitete und die alte mündliche zu einer schriftdominierten Kultur transformierte,
hegte man keineswegs Vertrauen in das junge Medium Schrift. Kein geringerer als
Platon erhob gegen die Schrift genau
jene Vorwürfe, die man heute den neuen Medien entgegenbringt, nämlich dass sie
das Gedächtnis ruiniere.
Sprecherin:
"Diese
Erfindung – heißt es bei Platon wörtlich über die Schrift - wird den Seelen der
Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung,
weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder
Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden.“
Sprecher:
Im Blick auf
Ressentiments, die bis auf Platon zurückgehen, gibt Jörn Rüsen, Historiker und
Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, zu bedenken:
O-Ton, Jörn Rüsen:
Wir
Schriftmenschen, vor allen Dingen in den westlichen Gesellschaften, teilen
vielleicht ein tiefsitzendes Misstrauen von Leuten, denen es im wesentlichen
ums Denken geht, gegenüber all dem, was mit Sehen und Wahrnehmen zu tun hat,
also es gibt so ein tiefes Misstrauen gegen die Künste, gegen die Ästhetik. Bei
Platon übrigens auch: die Dichter, die nicht die Herrschenden preisen wollen,
werden rausgeschmissen. Man kann auch ernsthaft, tief, auch reflexiv, auch
wahrheitsfähig im Medium der sinnlichen Anschauung – in Anführungsstrichen –
denken, das ist aber anstrengend. Und die medialen Präsentationen, in denen das
geschieht, das mögen die Leute auch nicht. ... Das Problem liegt darin, dass
die nichtschriftlichen Massenmedien sozusagen einem Sog des Gefälligen
permanent ausgesetzt werden, dem sie auch folgen müssen, weil das ein nicht
unbeträchtlicher Teil wirtschaftlicher Realität ist, ... aber das Medium als
solches: also Film, die bewegten Bilder, ist nicht per se, sozusagen gefährlich
oder problematisch.
Sprecherin:
Das
Fernsehen etwa meidet in der Regel sperrige, anstößige oder fremdbleibende
Bilder. Gibt es dennoch irritierende Bilder, so werden sie sogleich durch
Kommentare abgedeckt, damit möglichst kein Befremden aufkommt Das Gesehene soll
keine Fragen offen lassen, sondern ist schon in sich gesättigt. Auf diese Weise
wird die Welt gleichsam entkernt, vorverdaut und zu einem unproblematischen
Verzehr aufbereitet. Ob Nachdenklichkeit aufkommt, hängt nicht einfach davon
ab, welches Medium, sondern wie es eingesetzt wird.
Sprecher:
Tatsache ist
jedoch, dass eine Gedächtniskultur, die sich bis ins 19. Jahrhundert hinein
hauptsächlich auf Schrift stütze, weitere Medien oder Aufschreibsysteme, wie
das der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler nennt, hinzubekommen
hat: von der Photographie am Ende des 19. Jahrhunderts, über Töne, Stimmen und
bewegte Bilder des 20. Jahrhunderts bis zum digitalen Code der Gegenwart,
welcher alle Gattungen in sich zusammenführt.
Parallel
wandelt sich die klassische Buchhandlung in ein modernes Medienkaufhaus, wo das
Buch nur noch ein Medium neben anderen, wenn auch das wichtigste darstellt.
Sprecherin:
Sind Bücher
und Text nicht länger der Königsweg der Information und Gedächtnisbildung? Wird die klassische Lektüre und
Auseinandersetzung mit Texten einer unterhaltsamen Darbietung von Geschichte,
einem Histotainment weichen? Peter Reichel, der an der Hamburger Universität
Politische Wissenschaften lehrt, räumt ein:
O-Ton, Peter Reichel:
Solange wir
in so etwas leben wie Erlebnisgesellschaften, multimedial inszenierten
Lebenswelten, Alltagswelten ist das so, und man kann vielleicht befürchten,
dass die Schriftkundigkeit, die Lesefähigkeit, zurückgeht. Dazu würde ich mich
auch rechnen, dass ich diese Sorge immer habe, dass ich auch im Alltag mit
meinen Studenten, was die Fähigkeit einfache Texte zu schreiben angeht,
manchmal gar zu entsetzt bin, und die Leseunlust, das ist sicherlich so.
Andrerseits
belehren uns die Leute vor Ort, die tagtäglich arbeiten in den Gedenkstätten,
dass also die gefürchtete so genannte Flachware immer wieder aufgesucht wird.
Und ich bewundere es, wenn Leute immer wieder Stunden auch im Stehen lesen -
wie in China Wandzeitungen - und sich nicht dabei einigermaßen bequem hinsetzen
und eine Tasse Kaffee oder Tee trinken, um ein Buch zu lesen.
Sprecher:
Mit ihren
Gedenkstätten, Archiven und Museen verfügt die Gesellschaft verfügt über eine
Reihe von Einrichtungen, in denen die Vergangenheit nicht nur in Schrift und
Bild, sondern in Materialien aller Art gesammelt und aufbewahrt wird. Das
kollektive Gedächtnis organisiert sich darüber hinaus aber auch in gemeinsamen
Festtagen, die das Leben im Kreislauf des Jahres gliedern. Schon archaische
Kulturen hoben Feste aus dem Alltagsleben heraus, um den Göttern zu opfern,
zugleich aber auch, um die Gemeinschaft zu stärken. Die älteste Form – das
Totengedenken – hat bis heute Bestand. In der Erinnerung und Ehrung der Ahnen
versichert sich eine Gemeinschaft ihres Ursprungs, erneuert so die
Zusammengehörigkeit und bekräftigt ihre Identität.
Sprecherin:
Heute sind
es neben den religiösen vor allem staatliche Feiertage, in den
nationalstaatlich geordnete Gesellschaften ihre Legitimationsbasis stärken
wollen. Immer wieder erhebt sich die Kritik, dass die von oben inszenierten
Gedenktage die Menschen nicht mehr berühren. Politiker halten ihre
Feiertagsreden, entleerte Gedenkrituale laufen ab, denen die Bevölkerung den
Rücken zukehrt und sich diversen Freizeitvergnügungen überlässt.
Sprecher:
Besonders
brisant scheint diese Aushöhlung von Gedenktagen, wenn es um die Erinnerung an
die nationalsozialistischen Verbrechen angeht, zum Beispiel an die
Judenverfolgungen in der so genannten Reichskristallnacht am 9. November 1938.
Peter Reichel macht allerdings darauf aufmerksam, dass die Gedächtnisarbeit an
diesem Tag sich nicht in den kritisierten offiziellen Veranstaltungen
erschöpft.
O-Ton, Peter Reichel:
Wir können
eben auch konstatieren, dass am 9. November neben den zwei großen
Fernsehsendern und neben den offiziellen Veranstaltungen in nicht-gezählten
Kleinstädten und mittleren Städten, Aktion Sühnezeichen, die Kirchen, der
Gewerkschaftsbund, also überall dort wo gesellschaftliche Organisationen
zwischen Gesellschaft und Politik ihre intermediären Funktionen wahrnehmen sich
auch an diesen Tagen orientieren, weil sie da eine didaktisch hochwillkommene
Anschlussmöglichkeit haben, ihre Arbeit auch an solchen Themen zu orientieren
...... mein Eindruck ist, dass wir doch mehrere Ebenen haben, auf denen das
Gedenken, das Thematisieren von Zeitgeschichte stattfindet, die eine - die
spektakuläre, nehmen wir in all ihren Attraktionen, aber auch in ihren
bedenklichen Dimensionen, Ritualisierungen wahr, und das andere nimmt man nur
wahr, wenn man in der Region oder am Ort ist, aber das geschieht, diese
geschichtspolitische Basisarbeit findet statt, ... also muss man nicht
beunruhigt sein, wenn man nur auf diese erste in der medialen Öffentlichkeit
präsentierte Ebene guckt.
Sprecherin:
Neben den
Erinnerungstagen ist auch auf der Ebene von Erinnerungsorten viel geschehen:
Längst sind es nicht mehr nur die großen Baudenkmäler, Adelsschlösser und
Burgruinen, die historische Aufmerksamkeit und Denkmalpflege erfahren. Der Sinn
für Geschichte und Herkunft hat den bürgerlichen Alltag der Städte und des
Landes entdeckt und begonnen deren Vergangenheit zu erschließen. In den vom
Bombenkrieg versehrten Stadtkernen wurden viele halbwegs erhaltene Häuser und
Fassaden restauriert. So hat sich nach der Phase des meist rücksichtlosen Wiederaufbaus
der Nachkriegsjahrzehnte eine Sensibilität für alles Gewachsene und Gewordene
entwickelt. Inzwischen legen Industrie- und Wirtschaftsgeschichte,
Landschaftsgeschichte und themenspezifische Stadtführungen überall historischen
Boden frei.
Sprecher:
Die moderne
Gesellschaft besitzt mehr historischen Sinn als alle Epochen zuvor. Das
Mittelalter, auch die Renaissance hatten keine Bedenken, die
Hinterlassenschaften der Griechen und Römer für neues Baumaterial
auszuschlachten. Der moderne Sinn für Historie entspringt aber auch dem
Bewusstsein, dass sich alles ungeheuer schnell wandelt und kaum etwas dauert.
Er ist von Melancholie durchzogen in einer Welt, wo kaum etwas von dem, was
heute zählt, morgen noch gilt.
Das
Missverhältnis von hohem Wandel und geringer Kontinuität bildet für das
kollektive Gedächtnis ein großes Problem.
O-Ton, Jörn Rüsen:
Das ist ein
wichtiger Punkt, der leider in der Diskussion in der wissenschaftlichen Debatte
über Erinnerung und Gedächtnis immer noch etwas zu kurz kommt: Worum geht es
denn da letztlich? Alle werden sagen: ‚Na klar, um die Vergangenheit.’ Das
stimmt aber gar nicht. Es geht um die Zukunft. Wir erinnern uns, um für die
Zukunft gewappnet zu sein, wir brauchen die Erinnerung an die Vergangenheit, um
unser Handeln, womit wir immer auf Zukunft hin leben, erfahrungskonform zu
machen. Also wir brauchen Boden unter den Füßen, um nach vorn zu gehen. Und
diesen Boden unter den Füßen legt uns die Erinnerung und das Gedächtnis als
eine Art verarbeiteter Erfahrung, die wir brauchen, um vernünftig,
erfahrungsgestützt, realistisch, Zukunft erwarten und gestalten zu können. In
letzter Instanz geht es um Zukunft und nicht um Vergangenheit. Das ist leider
in der ganzen Erinnerungs- und Gedächtnisdebatte in den Kulturwissenschaften zu
kurz gekommen. Und weil das zu kurz gekommen ist, hat diese ganze Debatte auch
so etwas wie ein kulturelle Schieflage.
Sprecherin:
Die Debatten
um Erhaltung oder Restaurierung von Vergangenem ist kein Selbstzweck, wenn es
um die Orientierung des Gemeinwesens geht. Das bedeutendste Beispiel hierfür
ist sicherlich die Frage, ob das Berliner Stadt-Schloß wieder aufgebaut werden
soll oder nicht. Es geht hier nicht primär um ästhetische Fragen, sonder darum,
welche Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis durch Architektur gestützt und
hervorgehoben werden soll:
O-Ton, Peter Reichel:
Die Frage,
was in die Mitte der Republik gehört, nämlich in die Mitte der Hauptstadt, das
ist eine Frage der politischen Symbolik, und da mag man das Schloss, den
Schlossbau prächtig oder weniger prächtig finden, die Kurzantwort heißt: Das
Schloss ist das falsche Symbol für eine Demokratie. Punkt. Bestünde es noch,
hätte es bereits eine Geschichte innerhalb der Demokratie gehabt, wäre
möglicherweise längst Ort von Kongressen, von Kultursammlungen und hätte auf
diese Weise bereits seine Vergangenheit in einer vordemokratischen
Vergangenheit an sich selbst abgearbeitet, aber das ist nicht so,
das Gebäude
ist in der Anfangszeit der DDR aus einer ganz bestimmten politischen Interessenlage,
Dritter Parteitag der SED, von Ulbricht, gegen große Widerstände innerhalb der
SPD gesprengt worden, es hätte erhalten werden können, man hätte es auch
benutzen können, wenn man den damaligen Berichten folgt, ... aber das ist ein
Nebenaspekt. Für meine Begriffe reicht es aus zu sagen, das primäre Kriterium
hätte für meine Begriffe auch das leitende Kriterium der Swoboda-Kommission
sein müssen: Was ist für das vereinte Deutschland, ein republikanisches
Staatswesen, eine demokratische Verfassung, architektonisch, in der politischen
Architektur, das wichtigste Symbol?
Sprecher:
Die
Kommission ‚Historische Mitte Berlin’, nach dem
Vorsitzenden auch Swoboda-Kommission genannt, die die Bundesregierung
und der Berliner Senat im November 2000 eingesetzt haben, hat ihren Bericht
inzwischen vorgelegt. Er enthält die Empfehlung, das Schloß, mindestens in
Teilen wieder aufzubauen. Eine Entscheidung wird aber frühestens der nächste
Bundestag treffen. Wichtig ist dabei auch die Frage, was mit dem Palast der Republik
an gleicher Stätte geschieht. Gesetzt den Fall, dass man den Palast der
Republik für den Wiederaufbau des Schlosses vollständig abrisse, so würde
zugunsten einer älteren preußischen Vergangenheit ein wichtiger Teil der
DDR-Geschichte ausgelöscht, und zwar ausgerechnet jenes Gebäude, in dem die
Volkskammer der DDR den Beitritt zum Grundgesetz beschlossen hat. Die
Architektur ist Ausdruck und Stütze des kollektiven Gedächtnisses, zumal im
Zentrum einer Hauptstadt.
Sprecherin:
In vereinten
Deutschland geht die Diskussion seit Jahren darum, wie die Erinnerung an
Nationalsozialismus und Holocaust in Berlin manifestiert werden soll.
Inzwischen scheint es nicht mehr sinnvoll darüber zu streiten, inwieweit ein
einzelnes Projekt allen Gedächtnisaspekten genügt, sondern auf die
Konstellation der drei großen Erinnerungsorte zu achten: Das beschlossene
zentrale Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor, die im Ausbau befindliche
Dokumentationsstätte „Topografie des Terrors“, an jener historischen Stätte, wo
Gestapo, SS und Reichssicherheitsdienst ihre Schaltzentralen des organisierten
Verbrechens besaßen. Schließlich das Jüdische Museum in Berlin-Kreuzberg,
dessen aufsehen erregender symbolischer Bau sich im letzten Jahr mit der ersten
Ausstellung präsentiert hat.
Sprecher:
Aber welche
Bedeutung wird der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der Deutschen fürderhin
einnehmen? – Jörn Rüsen:
O-Ton, Jörn Rüsen:
Der
Holocaust und das Dritte Reich bleiben Gründungereignisse im kollektiven
Gedächtnis und in der Geschichtskultur der Deutschen, und zwar werden sie das
für absehbare Zeit blieben, ich sehe nicht die Gefahr, dass das wegdämmert, ich
sehe höchstens die Gefahr, dass das durch die Kulturindustrie gleichsam verdaut
wird, dass die schwere Verstörung, die von dieser Erfahrung ausgeht, beseitigt
wird, wenn Sie schon Slapstick-Komödien über den Holocaust machen können wie in
dem Film „Das Leben ist schön“ dann verliert diese Erfahrung ihren Schrecken,
das ist problematisch, denn ich komme zu meinem Punkt: Historisierung bedeutet,
dass diese negative historische Erfahrung weiterhin in der Geschichtskultur
oder im kollektiven Gedächtnis der Deutschen
eine wichtige Rolle spielt, aber im Zusammenhang mit anderen
Erfahrungen.
Sprecherin:
Auch wenn
der historische Abstand wächst, der Holocaust bleibt eine Katastrophe, die in
ihrer Barbarei und ihrem Ausmaß den Rahmen der Geschichte aufsprengt. Im Grunde
kann die Monströsität des Verbrechens auch gar nicht abschließend bewältigt,
wiedergutgemacht oder vom kollektiven Gedächtnis irgendwie verdaut werden.
Dieses Argument wäre den Vertretern der Schlussstrichmentalität
entgegenzuhalten.
Auf der
anderen Seite darf man aber die deutsche Geschichte nicht auf das letzte
Jahrhundert reduzieren und wie gebannt nur auf das Dritte Reich starren. Damit
würde man das kollektive Gedächtnis in fataler Engführung auf den
Nationalsozialismus und seine Verbrechen fixieren.
Sprecher:
Der
historischen Horizont kann sich erweitern, wie es beispielsweise das Jüdische
Museum vorführt. Im Zentrum des Museums steht unweigerlich der Holocaust, das
Ende der deutsch-jüdischen Geschichte. Aber trotz seiner erdrückenden Realität
versucht die Ausstellung nicht die gesamte Zeit von beinah zweitausend Jahren,
in der Juden in Deutschland leben, als bloße Vorgeschichte der Katastrophe zu
erzählen. Die Ausstellung beleuchtet
vielmehr ebenso die zerstörten Ansätze und Möglichkeiten, die Vielfalt und den
kulturellen Reichtum der deutsch-jüdischen Beziehungen.
Sprecherin:
Peter
Reichel konstatiert, dass das kollektive Gedächtnis seinen historischen
Horizont geweitet habe, ohne dass man deshalb von einer Krise sprechen könne.
O-Ton, Peter Reichel:
Ich würde
von Krise eher sprechen in einer Zeit als man nicht von Krise gesprochen hat,
also als der Gesellschaft noch bekannt oder nicht klar war, ... was für eine
liberale und kollektive Gedächtnisbildung notwendig ist, ...
Und der
Nachkriegsgesellschaft war das vielfach nicht klar, im ersten Jahrzehnt war
eine generelle Abkehr von der Geschichte angesagt, der Rückblick verpönt es
ging um Gegenwarts- und Zukunftsorientierung, Wiederaufbau der Gesellschaft,
und dann hat eine Phase eingesetzt, die sehr selektiv und fast wie gebannt auf
12 Jahre war, und erst dann danach hat sich der Blick wieder geöffnet. Wie
unterschiedlich er dann auch immer Themen aus mittelalterlicher, frühmoderner,
neuzeitlicher Geschichte wählt, so denke ich, sollte in einem
nichtpathologischen Sinne öffentliches Gedächtnis funktionieren, dass es sich
klar ist, dass es in jedem größeren gewachsenen Nationalstaat doch eine
Vorgeschichte von mehreren hundert Jahren gibt, die mehr oder weniger verfügbar
oder präsent ist, deshalb spricht man auch von langen oder von kurzen
nationalen Gedächtnissen, und in Deutschland war dieses Gedächtnis zwangsläufig
und zwanghaft einige Jahre sehr kurz, und das öffnet sich.
Sprecher:
In
Frankreich ist die Optik des nationalen Gedächtnisses auf gut zweihundert Jahre
eingestellt, auf die Epoche seit der Französischen Revolution. In England
greift man aufgrund der älteren Verfassungstradition noch weiter zurück.
Neben der
Frage, wie sich das kollektive Gedächtnis in Deutschland zeitlich
dimensioniert, welchen Vergangenheitshorizont es wählt, ist wohl entscheidend,
welche Inhalte darin Platz finden. Jörn Rüsen bringt seine Forderungen auf
einen einzigen Begriff – Ambivalenz.
O-Ton, Jörn Rüsen:
Ambivalenz:
Licht und Schatten im historischen Selbstverständnis, das ist das Gebot der
Stunde und der Zukunft, wir müssen weg von der traditionellen Weise, dass ein
Volk oder eine Gruppe das Licht der Bedeutung, der Werte, des
Zivilisatorischen, des Fortschritts besonders hell, sozusagen in der eigenen
Geschichte scheinen lässt, und die dunkleren Seiten liegen jenseits der Grenzen
des eigenen Selbst, das sind die Barbaren, das sind die anderen. Diese Form des
historischen Denkens ist nicht zukunftsfähig, aus ganz einfachem Grund: Im
Globalisierungsprozess nimmt die Vernetzung der verschiedenen Gruppen, Nationen
und Kulturen dramatisch zu. Und wenn wir dann weiterhin so denken, ‚Wir und die anderen’, mit dieser moralischen
Asymmetrie, dann steigert das angeblich so unschuldige kulturelle Denken die
Friedensunfähigkeit dieser Kulturen, und da ist ein Ambivalenzgewinn der
Geschichtskultur eine echte Friedenschance. Das ist allerdings harte Arbeit.
Sprecherin:
Neben den
Licht- auch die Schattenseiten der Vergangenheit in sich aufzunehmen, dafür ist
das kollektive Gedächtnis von seinem begrifflichen Ursprung her allerdings
schlecht gerüstet. Die Hypothek geht bis auf Nietzsches Schrift ‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie’
zurück. Nietzsche polemisierte gegen Geschichtssinn und Geschichtswissenschaft
im 19. Jahrhundert, da sie den Geist mit einer Flut von Quellenmaterial und
Detailkenntnissen überschwemmten.
Nietzsche witterte darin eine große Gefahr für das kulturelle
Gedächtnis, insofern es unter dem Ballast zusammenbreche und nicht mehr
zwischen Wesentlichem und Belanglosem zu unterscheiden vermöge, ähnlich wie
heute der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard fürchtet, dass die
lebendige Erinnerung in den überfetteten Dateinspeichern ersticke.
Sprecher:
Unter
Gedächtnis verstand Nietzsche die Leistung, sich immer aufs neue jener Teile
der Vergangenheit zu versichern, die positiv, zukunftsfähig und
identitätsichernd seien, mit einem Wort: Brauchbares zu erinnern und
Unbrauchbares zu vergessen. In dieser Weise hat Nietzsche lebensdienliches
Gedächtnis auf der einen und lebensfremde Geschichte und Geschichtswissenschaft
auf der anderen Seite gegeneinander gestellt.
Sprecherin:
Theoretiker
des kollektiven Gedächtnisses wie der Soziologe Maurice Halbwachs haben diese
Opposition beibehalten. Das Gedächtnis – die gemeinsamen Erinnerungen einer
Gruppe – sind dann verbunden mit sozialer Wärme und Emotion, mit Orientierung,
Identität und Zukunftsperspektive, wohingegen Geschichtswissen mit
Verstandeskälte, Neutralität und Sinnleere assoziiert ist.
Diese Art
von ideologischer Gegenüberstellung
findet Jörn Rüsen falsch und äußerst bedenklich.
O-Ton, Jörn Rüsen:
Die
Wissenschaft ist nicht kalt. Die Wissenschaft bringt in die Wärme des
kulturellen Gedächtnisses die Kühle des Verstandes ein. Aber der ist nicht
kalt, sondern das ist sozusagen ein Element der Besonnenheit und der
Distanzierung.
... die
Wissenschaft, die Geschichtswissenschaft selber arbeitet ebenfalls mit Sinnkriterien, erfüllt wenn auch indirekt
und viel vermittelter auch Orientierungsfunktion, und das was die Wissenschaft
gegenüber den andern Gedächtnis und Erinnerungsprozeduren auszeichnet, das ist
eben so wichtig, das man es nicht rauslassen sollte aus der ganzen Überlegung
zum kollektiven, kommunikativen und kulturellen Gedächtnis, dafür gibt es ein
wunderschönes Wort, das leider vollkommen aus der Mode gekommen ist, das Wort
Kritik. Und eine Geschichtskultur einer modernen Gesellschaft wie der unsrigen
in der das Element der Kritik nicht ein stück des eigenen Lebens ist, ja in der
möchte ich nicht leben. Und ich als Historiker sehe eine meiner wesentliche
Aufgaben darin, dieses Lebenselexier des kritischen Denkens lebendig zu
erhalten.
Sprecher:
Eine
vorrangige Aufgabe des Geschichtsbewusstseins ist es, ein kritisches
Selbstverständnis hervorzubringen, damit das kollektive Gedächtnis nicht von
positiv verklärten Selbstbildern und nationalistischen Mythen besetzt wird,
Ideologien, die zwar den Selbsterhaltungsdrang von Gruppen und Nationen
stärken, aber auf Kosten von Toleranz und friedlicher Koexistenz.
Sprecherin:
Die
Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schlägt einen Ausweg aus der
theoriegeschichtlichen Sackgasse vor. Statt Gedächtnis weiterhin gegen
Geschichte auszuspielen, unterscheidet sie zwei einander ergänzende
Erinnerungsmodi: das bewohnte und das unbewohnte Gedächtnis.
Das bewohnte
Gedächtnis bilden jene Vergangenheitsinhalte, von denen eine Gesellschaft im
Augenblick Gebrauch macht, aus denen sie ihre Identität bezieht und ihre
Perspektiven gewinnt. Zwangsläufig hat es eine subjektive und wertende
Qualität.
Sprecher:
Das
unbewohnte Gedächtnis umfasst ein Meer an Daten und Informationen, vor allem
jenes Quellenmaterial, das die Geschichtswissenschaften bereitstellen. Dieses
unbewohnte Gedächtnis geht zwar aktuell nicht in die Gegenwartsdeutung ein,
aber es bildet eine Reserve und ein kritisches Widerlager gegen die
ideologische Selbstverblendung einer Zeit. Es ermöglicht künftige Anschlüsse
für eine demokratische und pluralistische Gesellschaft, in der – so Peter
Reichels Bild - das kollektive Gedächtnis aus dem Steinbruch der Vergangenheit
immer wieder neu und anders Gestalt gewinnt.
O-Ton, Peter Reichel:
Sie können
Vergangenheit nicht komplett als Vergangenheit in jede Gegenwart ziehen, etwas
bleibt, etwas fällt weg, etwas anderes wird thematisiert, und so ist ein
ständiger Austausch in einem großen Steinbruch der Vergangenheit da, Geschichte
wird sozusagen in jeder Gegenwart neu erfunden und neu erzeugt, und die ganze
Geschichte bleibt unbekannt. ... und
wenn das so läuft, muss es einem um ein kollektives Gedächtnis in einer freien
Gesellschaft, ein institutionell gestütztes kulturelles Gedächtnis auch gar
nicht bange sein.