Sprecher:

„Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt.“ schreibt der französische Historiker Pierre Nora. Nora zitiert hier die bekannte Logik, wonach eine Sache dann allgemein diskutiert und wissenschaftlich erforscht wird, wenn sie zum Problem geworden ist. Verhält es sich denn so mit dem Gedächtnis? Ist es in eine Krise geraten?

 

Sprecherin:

Die Angelegenheit scheint vielschichtig. Die Forschungsliteratur zum Thema Gedächtnis boomt, streut sich allerdings über das gesamte Wissenschaftsspektrum. Disziplinen, so verschieden wie Tag und Nacht, was Ansatz und Methode angeht, beschäftigen sich mit dem Gedächtnis.

Da stößt man als erstes auf Arbeiten der naturwissenschaftlichen Hirnforschung, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten große Fortschritte gemacht hat.  Neurologen vermögen inzwischen Zusammenhänge zwischen bestimmten Hirnregionen und Erinnerungsaktivitäten technisch zu erfassen. Am Modell neuronaler Netzwerke formulieren sie Hypothesen, wie Gedächtnis und Erinnerung funktionieren.

 

Sprecher:

Da trifft man ferner auf Werke aus dem Bereich der Informationswissenschaften und –technologien. Mit dem Siegeszug von Computer und Internet haben sich digitale Speichermedien durchgesetzt. Eine neue Art von technischem Gedächtnis mit gewaltigen Kapazitäten ist entstanden, wo ganze Bibliotheken buchstäblich in der Westentasche Platz finden.

 

Sprecherin:

Schließlich fällt der Blick auf zahlreiche Publikationen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, die um das Thema Gedächtnis kreisen. Ein Fokus der Auseinandersetzung ist ‚Das Gedächtnis des Jahrhunderts’, so auch der Titel der aktuellen April-Nummer der Zeitschrift Transit. Historiker und Sozialpsychologen, Philosophen und Literaturwissenschaftler schneiden die Fragen unterschiedlich an. Gemeinsames Merkmal ist jedoch, dass es nicht nur um individuelle, sondern zunehmend um kollektive Erinnerung geht, um „Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses’ wie ein Buch der Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann im Untertitel heißt.

 

Sprecher:

Das Thema kollektives Gedächtnis ist keine akademische Erfindung, sondern eine Frage von öffentlichem Belang. Sie verweist vor allem auf die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche nach 1989, meint der Sozialpsychologe Harald Welzer von der Universität Witten-Herdecke.

 

O-Ton, Harald Welzer:

Ein entscheidender Punkt für die Popularität des Themas hängt mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen der letzten zwanzig Jahre zusammen, also den Systemtransformationen in den osteuropäischen Ländern, auch in der Bundesrepublik, es hängt mit der Tatsache zusammen, dass wir eine Jahrtausendwende hatten, wo offenbar eine Notwendigkeit entsteht, für die Gesellschaftsmitglieder, aber auch für die Gesellschaften eine Selbstvergewisserung vorzunehmen: ‚Wer sind wir? Wo kommen wir her? Was sind unsere Traditionsbestandteile, was sind die Fundamente unseres Handelns?’ - Und da spielt Gedächtnis natürlich eine große Rolle. Das ist auch ein Teil der Popularität in den Kulturwissenschaften, in den Geistes- und etwas weniger in den Sozialwissenschaften, wo einfach vor dem Hintergrund der Identitätsbildung, und zwar nicht nur der individuellen, sondern auch kollektiven Identitätsbildung, der Aspekt des Gedächtnisses und der Erinnerung eine große Rolle spielt.

 

Sprecherin:

Von welch politischer Brisanz die Frage des kollektiven Gedächtnisses sein kann, wurde vor allem in den Ländern des früheren Ostblocks sichtbar. Der Kommunismus hatte ältere Bindungen der Menschen keineswegs aufgelöst, sondern nur wie in einem Kühlschrank eingefroren. Vom angeordneten Internationalismus nur zugedeckt aber nicht bewältigt, hielten die ethnischen, religiösen und nationalen Konflikte eine Art Winterschlaf. Nach 1989 flackerten sie wieder auf. Zum verheerenden Flächenbrand kam es in Ex-Jugoslawien, wo sich die Menschen fortan als Serben, Kroaten oder Bosnier begriffen oder begreifen mussten, aufgehetzt von ehemals kommunistischen Machthabern, die im neuen nationalistischen Gewand ihre alte Herrschaft fortsetzten.

 

Sprecher:

Für das künftige Schicksal eines Landes kann es entscheidend sein, an welchen  historischen Ereignissen und Bildern sich die Menschen orientieren, womit sie sich identifizieren. Deshalb ist auch der Rückbezug auf Geschichte und Tradition nie­mals nur folkloristisch oder museal. Geschichte bildet für jede Gesell­schaft ein Medium der Selbstverständigung, erläutert der Historiker Jörn Rüsen, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen:

 

O-Ton, Jörn Rüsen:

Eine Gemeinschaft, ein Volk, eine Nation, eine Kultur, eine Gruppe, eine Religion, eine Partei lebt immer auch vom Gedächtnis, vom kollektiven Gedächtnis, wie man das zu nennen beliebt, indem diese Gruppe über eine Geschichte sich über sich selbst verständigt und sich klar macht: ‚Wofür stehen wir? Wem und was sind wir verpflichtet? Was zeichnet uns aus, was unterscheidet uns von den anderen?’ Und das ist ungeheuer mächtig. Das ist eine große kulturelle Kraft, Macht und in mancher Hinsicht sogar eine Gewalt, die über die Menschen herrscht, manchmal wie ein böses Geschick, wenn man einmal an die Vorgänge in Nordirland denkt. Wo historische Ereignisse des 17. Jahrhunderts noch so lebendig sind im kollektiven Gedächtnis, dass katholische Eltern ihre Kinder zur Schule begleiten müssen, wenn sie durch ein protestantisches Viertel gehen, und auch umgekehrt. – Das muss man sich einmal vorstellen, wie mächtig Erinnerung sein kann.

 

Sprecherin:

In Deutschland über kollektives Gedächtnis zu sprechen, weist unumgänglich auf die Last des vergangenen Jahrhunderts: Schuld bzw. Mitschuld an zwei Weltkriegen, Teilung und Wiedervereinigung, nationalsozialistische Diktatur und Massenmord an den Juden.

‚Vergangenheitsbewältigung in Deutschland’, wie das jüngste Buch des Hamburger Politikwissenschaftlers Peter Reichel heißt, stellt inzwischen selbst schon ein eigenes wechselvolles Geschichtskapitel dar:

 

Sprecher:

Das frühe  Nachkriegsdeutschland floh hinter Mauern aus Schweigen und Verdrängung, es versuchte das Gewissen im zyklischen Ritual der Gedenktage zu beschwichtigen. In immer neuen Schüben durchbrachen aber auch Auseinandersetzungen und öffentliche Debatten, Prozesse gegen NS-Verbrecher das hilflose Schweigen, und eine Fülle wissenschaftlicher Arbeiten sind inzwischen entstanden. Doch mehr als die Wissenschaften beeindruckten Film und Fernsehen die Menschen, insbesondere die amerikanische Fernsehserie über den Holocaust 1979/80.

Nach seinem Erfolg mit dem Film Schindlers Liste gründete der Hollywood-Regisseur Stephen Spielberg 1994 die Shoah Foundation. Diese Stiftung rief weltweit die Überlebenden der Vernichtungslager dazu auf, individuelles Zeugnis abzulegen von ihren Erfahrungen und Leiden. Bis heute sammelte die Shoah Foundation in riesigen Datenbanken mehr als 50.000 Videos mit persönlichen Berichten in 32 Sprachen von Zeugen aus 57 Ländern.

 

Sprecherin:

Die Arbeit der Shoah Foundation nimmt den Wettlauf mit der Zeit auf. Denn sie geschieht in einer historischen Phase, wo die Generation

der Opfer, der Täter und der Zeitzeugen ausstirbt. „Bald sprechen nur noch die Akten, angereichert durch Bilder, Filme, Memoiren“ warnt der Historiker Reinhart Koselleck. Das kollektive Gedächtnis steht vor einem kritischen Übergang: Die unmittelbare Geschichtserfahrung muss in ein medienvermitteltes Gedächtnis, lebendige Erinnerung in einen materiellen Speicher übertragen werden.

Aber können Gedenkstätten und Archive, Mahnmäler und Museen die Erinnerung genauso wach halten wie leibhaftige Zeugen, wie Menschen, die erzählen, was geschehen ist? Harald Welzer:

 

 

O-Ton, Harald Welzer

Das Aussterben der Zeitzeugengeneration, sowohl auf der Täter wie auf der Opferseite, ist natürlich in dieser Sicht ein riesiges Problem. Weil das bedeutet, dass man sich nicht mehr auf lebendige Erinnerungsbestände beziehen kann, sondern auf Interpretationen, die nicht mehr mit Lebendigkeit gefüllt werden, anschaulich gemacht werden können, daher kommt auch die ganze Idee, ... wiederum aus Täter- und Opferperspektive, riesige Videoarchive anzulegen, Stephen Spielbergs Shoah Foundation auf der einen Seite und Guido Knopps Jahrhundertbuße auf der anderen Seite, wo also versucht wird, dieses lebendige Material zu konservieren und jederzeit abrufbar zu halten.

Die Frage ist natürlich, ob so etwas geht: Das Erleben der Erzählung eines Überlebenden eines Lagers ist sicherlich etwas anderes als das Betrachten eines Videos derselben Person, wie sie das erzählt, zumal es auch keine Rückfragen gestattet.

 

Sprecher:

Lebenszeugnisse von NS-Opfern, Dokumentationsmaterial aller Art zu konservieren, ist wichtig, aber nicht ausreichend. Es gehört zu den Missverständnissen des Computerzeitalters, Gedächtnis mit Speicher gleichzusetzen. Doch die Speicherung ist nur eine, nicht die einzige Funktion von Gedächtnis. Speichern bedeutet Informationen so festzuhalten, dass sie später identisch wieder abgerufen werden können: Maschinen können speichern, zum Beispiel indem die Daten auf die Festplatte eines Computers geschrieben werden. Auch Menschen können speichern. Wir merken uns ein Gesicht, einen Weg, eine Telefonnummer, oder lernen gar ein Gedicht auswendig.

 

Sprecherin:

Menschen können aber auch erinnern, und dazu sind Maschinen nicht in der Lage. Spontan ruft eine bestimmte Situation frühere Erlebnisse, Gedanken und Gefühle in uns wach. Wir holen sie im Bewusstsein ganz nach vorn, während andere in den Hintergrund treten. Neue Erfahrungen überdecken ältere, lassen sie unwichtig werden und geben sie dem Vergessen anheim.

Die Leistung des menschlichen Gedächtnisses besteht also gerade nicht in der puren ungefilterten Speicherung, sondern in der Auswahl und Strukturierung des Aufgenommenen.  Das Gedächtnis wertet: was ist für mein künftiges Leben wichtig, was unwichtig, es trennt die Spreu vom Weizen. Deshalb gehört zur Fähigkeit des Erinnerns komplementär auch die des Vergessen-Könnens hinzu, darauf hat insbesondere Friedrich Nietzsche hingewiesen.

 

Sprecher:

Solche Wertungen und Verwerfungen, auch wenn sie für das Erinnern charakteristisch sind, können jedoch problematisch sein, nicht nur für das individuelle, sondern auch für das kollektive Gedächtnis, wie der Historiker Jörn Rüsen erläutert:

 

O-Ton, Jörn Rüsen:

Das Gedächtnis ist ein riesiges Filter, das die Menschen benutzen, um vergessen zu können. Wir müssen uns auch freimachen von den vielen unendlichen Eindrücken, die wir irgendwo alle speichern und sammeln. Es besteht die Aufgabe des Gedächtnisses einfach darin, das Wichtigste zu behalten, und das Unwichtige zu vergessen. Wenn das alles wäre, gäbe es keine Probleme. Das Problem besteht dort, wo Wichtiges vom Gedächtnis verdrängt wird, unterdrückt wird, verfälscht wird, weil es etwas ist, was wir nicht gerne haben, woran wir nicht gerne denken. Und wenn man sich die Menschen so anguckt, wie sie sind, dann machen sie meistens Dinge, die nicht so furchtbar toll sind. Die Erinnerung ist dann auch ein geschickter Lügner, der uns dann im nachhinein die Dinge so aufbereitet, wie wir sie gerne hätten. Machen wir uns da nichts vor. Deshalb muss es zum Beispiel Wissenschaft geben, um das zu überprüfen, ob das wirklich stimmt, was wir da glauben, was geschehen sei, und meistens stimmt es nicht, es war ein bisschen anders.

 

Sprecherin:

Es gibt wissenschaftliche Studien, die in der jüngsten Vergangenheit untersucht haben, wie es um das Verhältnis von Gedächtnis und historischer Wahrheit steht, d.h. ob und wie geschichtliche Erfahrungen weitergegeben oder auch verfälscht werden. Besonders aufschlussreich war eine Mehrgenerationenstudie unter dem Titel ‚Tradierung von Geschichtsbewusstsein’, ein Forschungsprojekt das der Sozialpsychologe Harald Welzer von 1997 bis 2000 an der Universität Hannover durchgeführt hat. Harald Welzer selbst:

 

O-Ton, Harald Welzer

Das Projekt Tradierung von Geschichtsbewusstsein hat eigentlich eine sehr einfache Fragestellung, die richtete sich damals darauf, wie Vorstellungen und Bilder von der Vergangenheit im Gespräch zwischen den Generationen weitergegeben werden. Und die Ausgangsüberlegung bei dem Projekt war, dass neben den Wissensinhalten über Geschichte, wie sie etwa n der Schule vermittelt werden, oder in den Medien der politischen Bildung, dass neben diesen wissensbasierten Vorstellungen von der Vergangenheit ganz andere Bilder der Vergangenheit existieren, die auf anderen Wegen zustande kommen und in das Bewusstein gelangen. Und einer der Wege, wie Vergangenheitsvorstellungen entstehen, ist das Gespräch in der Familie.

 

Sprecher:

Am Projekt nahmen insgesamt vierzig Familien teil. Befragt wurden die Großeltern, also Zeitzeugen des Nationalsozialismus, dann ihre Söhne und Töchter, schließlich die Enkel, und zwar alle drei Generationen sowohl im gemeinsamen Gespräch als auch in Einzelinterviews. Die Untersuchung orientierte sich im Ansatz am Prinzip der so genannten Stillen Post. Leitfrage war also, ob und wie die Erinnerungen der Großeltern in den Erzählungen der Kinder aufgenommen bzw. verändert wurden, und welche Botschaften schließlich bei den Enkeln angekommen sind.

 

Sprecherin:

Das Ergebnis war erschütternd, denn es kam in der Mehrzahl der befragten Familien zu erstaunlichen Verzerrungen. Harald Welzer hat einen der Fälle herausgegriffen.

 

O-Ton, Harald Welzer:

Es funktioniert beispielsweise so, dass in einem Gespräch eine in der Nähe von Bergen-Belsen lebende alte Dame erzählt, wie es ihr gelungen ist, nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen dafür zu sorgen, dass bei ihr keine Juden einquartiert werden. Und sie erzählt das schon mit harten Worten, weil sie sagt, dass sie diese Leute widerwärtig fand, und immer gesehen hat, dass sie die nicht kriegt, und immer die britische Besatzungsmacht ausgetrickst hat,... Ihr Sohn erzählt eine ganz andere Geschichte, die mit der Familie selber direkt nicht viel zu tun hat, aber mit dem Verstecken von jüdischen Flüchtlingen zu tun hat, die von einer ganz anderen Person vorgenommen haben, die aber auch eine alte Dame ist, ... Die Enkelin nun erzählt eine Geschichte, wo all diese Elemente zusammengefügt werden, aber die Personen praktisch ausgetauscht sind, so dass die unbekannte dritte Person, die diese Heldentaten vollbracht hat, ersetzt wird durch ihre eigene Oma. Und die Enkelin erzählt die Geschichte, mit welcher Pfiffigkeit und trickreichem Verhalten ihre Oma Juden versteckt hat, die aus dem Lager geflohen sind, unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Und das ganze wird resümiert mit dem Satz: Das ist eine Tat, die ich ihr hoch anrechne.“

 

Sprecher:

Harald Welzer hat für dieses Phänomen, das bei der Mehrzahl der befragten Familien auftrat, den Begriff der kumulativen Heroisierung geprägt. D. h. auf dem Überlieferungsweg durch die Generationen werden die Großeltern mehr und mehr zu Helden des alltäglichen Widerstandes stilisiert, ungeachtet dessen, was jene selbst über ihre Vergangenheit erzählen.

 

Sprecherin:

Welzer entdeckt diese schönfärberischen Familienmythen auch bei Heranwachsenden, die im übrigen durchaus kritisch eingestellt sind und über die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Verstrickung vieler Deutscher sehr wohl Bescheid wissen. Aber in Bezug auf ihre Familie reagieren sie nach der Devise: ‚Die Nazis waren immer die anderen’. Offensichtlich orientiert sich das Gedächtnis hier weniger am Kriterium der Wahrheit, sondern weit mehr am Willen zur Loyalität gegenüber der Familie. Es folgt dem psychischen Bedürfnis gute und integre Großeltern zu besitzen, d.h. einen unbescholtenen Ursprung für das eigene Ich.

 

Sprecher:

Geschichtsbewusstsein wird aber nicht nur in Schule und Öffentlichkeit geformt, sondern auch über das so genannte kommunikative Gedächtnis, d.h. den Gesprächszusammenhang der Generationen in der Familie.  Viele kennen die Kriegs-, Flucht- und Vertreibungsgeschichten ihrer Eltern bzw Großeltern. Hier gravieren sich dramatische Erlebnisse ein, verbunden mit Gefühlen, Ängsten und Kränkungen, das alles beeindruckt mehr als die nüchternen und abgewogenen Sätze im Geschichtsbuch.

 

Sprecherin:

Neben den Familienmythen werden auch Fiktionen aus Film und Fernsehen für die Erinnerung immer wichtiger und einflussreicher. Werden die neuen Medien unser kollektives Gedächtnis verändern? Die Gedächtnisforschung bemerkt, dass Episoden aus Filmen herausgelöst und in die eigene Biographie hineinphantasiert werden.

 

O-Ton, Harald Welzer

Wir finden in unseren Interviews auch das total interessante Phänomen, dass gerade in der Zeitzeugengeneration und aus dem Krieg häufig Geschichten erzählt werden, die aus Filmen und Filmdokumentationen importiert werden in die eigene Lebensgeschichte. Wo Episoden aus der ‚Brücke’ beispielsweise erzählt werden, oder auch aus dem ‚Boot’, oder aus ‚Im Westen nichts Neues’, die dann aber den Erzählern so zu eigen geworden sind, dass sie das für zentrale Bestandteile ihrer eigenen Autobiographie halten. ... Inwieweit jetzt unsere Erinnerungspraktiken und Importe in die eigene Lebensgeschichte durch solche Medien wie das Internet oder die beliebige Verfügbarkeit aller möglichen Sorten von Filmen und Bildquellen usw verändert worden, ... vermag ich nicht zu beantworten, ich würde nur sagen, es spricht alles dafür, dass solche Medien angeeignet werden, individualisiert und personalisiert werden, alles das, was unser kommunikativer Raum ist, wird in gewisser Weise praktisch verändert.

 

Sprecher:

Das kollektive Gedächtnis muss zwei Klippen umschiffen. Die erste Klippe bildet nach wie vor die Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung eines monströsen 20. Jahrhunderts, jedoch unter der Erschwernis, dass die Zeitzeugen sterben. Hier geht es um das politische Gedächtnis in Deutschland.

Die zweite Klippe betrifft den Umbruch der Gedächtniskultur, von der Gutenberg-Galaxis des Buches hin zu einem digitalen Universum der Bilder, Texte und Töne. Hier geht es um das kulturelle Gedächtnis in einem sehr umfassenden Sinn.

 

Sprecherin:

Über eine Vielzahl von Kanälen dringt eine ungeheure Masse an Information auf den Einzelnen ein, die kaum mehr zu bewältigen ist. Kulturkritiker wie der New Yorker Kommunikationswissenschaftler Neil Postman prophezeien, dass sich das Reflexionsniveau immer mehr zersetze und eine Kultur befördert werde, die einseitig auf Kurzweil und Zerstreuung ausgerichtet sei. Wir amüsieren uns zu Tode - so lauten die These und der Titel eines seiner Bücher. Die Kaskaden der Bilderflut trainierten das Vergessen, nicht aber das Gedächtnis. Denn Erinnern braucht Zeit, bedarf der Unterbrechungen und Pausen, damit Reflexion und Nachdenken einsetzen können.

Zersetzt die Bilderflut der neuen Medien das kollektive Gedächtnis?

 

O-Ton, Harald Welzer:

Es ist sehr schwierig, solche Fragen, die den gesamten kulturellen Entwicklungsvorgang betreffen, zu beantworten. Aber ich würde – etwas ungeschützt einige Gedanken und Thesen dazu äußern: man muß glaube ich verzeichnen, dass hinsichtlich des Geschichtsbewusstseins über den Holocaust, sicherlich bestimmte mediale Produkte wie die Holocaust-Serie von 1979 wie ‚Schindlers Liste’ aus den 90er Jahren und einiger andrer solcher Dinge, wahrscheinlich viel mehr das Bewusstsein über die vergangenen Verbrechen überhaupt geschärft haben oder erst angestoßen haben, als dass diverse Regalmeter von sehr guten Geschichtswerken vermocht haben.

Insofern würde ich das nicht gegeneinander ausspielen, sondern würde immer denken, das steht in einem Ergänzungsverhältnis, weil die Formate und die Ebenen, auf denen Informationen transportiert werden, eben verschiedene sind. Die kann man als ergänzende betrachten, man muss die nicht gegeneinander unter kulturkritischer Perspektive sehen.

 

Sprecher:

Man sollte nicht vorschnell urteilen oder gar den Untergang des Abendlandes an die Wand malen. Umbrüche im Memorialkonzept, wie sie zur Zeit stattfinden, sind Zeiten der Krise. Sie sensibilisieren aber auch und schärfen die Wahrneh­mung, sie rücken das scheinbar Selbstverständliche einer Sache wieder ins Bewußtsein. Als sich im vierten Jahrhundert vor Christus in Griechenland das Alphabet verbreitete und die alte mündliche zu einer schriftdominierten Kultur transformierte, hegte man keineswegs Vertrauen in das junge Medium Schrift. Kein geringerer als Platon erhob gegen die Schrift  genau jene Vorwürfe, die man heute den neuen Medien entgegenbringt, nämlich dass sie das Gedächtnis ruiniere.

 

Sprecherin:

"Diese Erfindung – heißt es bei Platon wörtlich über die Schrift - wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden.“

 

Sprecher:

Im Blick auf Ressentiments, die bis auf Platon zurückgehen, gibt Jörn Rüsen, Historiker und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, zu bedenken:

 

O-Ton, Jörn Rüsen:

Wir Schriftmenschen, vor allen Dingen in den westlichen Gesellschaften, teilen vielleicht ein tiefsitzendes Misstrauen von Leuten, denen es im wesentlichen ums Denken geht, gegenüber all dem, was mit Sehen und Wahrnehmen zu tun hat, also es gibt so ein tiefes Misstrauen gegen die Künste, gegen die Ästhetik. Bei Platon übrigens auch: die Dichter, die nicht die Herrschenden preisen wollen, werden rausgeschmissen. Man kann auch ernsthaft, tief, auch reflexiv, auch wahrheitsfähig im Medium der sinnlichen Anschauung – in Anführungsstrichen – denken, das ist aber anstrengend. Und die medialen Präsentationen, in denen das geschieht, das mögen die Leute auch nicht. ... Das Problem liegt darin, dass die nichtschriftlichen Massenmedien sozusagen einem Sog des Gefälligen permanent ausgesetzt werden, dem sie auch folgen müssen, weil das ein nicht unbeträchtlicher Teil wirtschaftlicher Realität ist, ... aber das Medium als solches: also Film, die bewegten Bilder, ist nicht per se, sozusagen gefährlich oder problematisch.

 

Sprecherin:

Das Fernsehen etwa meidet in der Regel sperrige, anstößige oder fremdbleibende Bilder. Gibt es dennoch irritierende Bilder, so werden sie sogleich durch Kommentare abgedeckt, damit möglichst kein Befremden aufkommt Das Gesehene soll keine Fragen offen lassen, sondern ist schon in sich gesättigt. Auf diese Weise wird die Welt gleichsam entkernt, vorverdaut und zu einem unproblematischen Verzehr aufbereitet. Ob Nachdenklichkeit aufkommt, hängt nicht einfach davon ab, welches Medium, sondern wie es eingesetzt wird.

 

Sprecher:

Tatsache ist jedoch, dass eine Gedächtniskultur, die sich bis ins 19. Jahrhundert hinein hauptsächlich auf Schrift stütze, weitere Medien oder Aufschreibsysteme, wie das der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler nennt, hinzubekommen hat: von der Photographie am Ende des 19. Jahrhunderts, über Töne, Stimmen und bewegte Bilder des 20. Jahrhunderts bis zum digitalen Code der Gegenwart, welcher alle Gattungen in sich zusammenführt.

Parallel wandelt sich die klassische Buchhandlung in ein modernes Medienkaufhaus, wo das Buch nur noch ein Medium neben anderen, wenn auch das wichtigste darstellt.

 

Sprecherin:

Sind Bücher und Text nicht länger der Königsweg der Information und Gedächtnisbildung?  Wird die klassische Lektüre und Auseinandersetzung mit Texten einer unterhaltsamen Darbietung von Geschichte, einem Histotainment weichen? Peter Reichel, der an der Hamburger Universität Politische Wissenschaften lehrt, räumt ein:

 

O-Ton, Peter Reichel:

Solange wir in so etwas leben wie Erlebnisgesellschaften, multimedial inszenierten Lebenswelten, Alltagswelten ist das so, und man kann vielleicht befürchten, dass die Schriftkundigkeit, die Lesefähigkeit, zurückgeht. Dazu würde ich mich auch rechnen, dass ich diese Sorge immer habe, dass ich auch im Alltag mit meinen Studenten, was die Fähigkeit einfache Texte zu schreiben angeht, manchmal gar zu entsetzt bin, und die Leseunlust, das ist sicherlich so.

Andrerseits belehren uns die Leute vor Ort, die tagtäglich arbeiten in den Gedenkstätten, dass also die gefürchtete so genannte Flachware immer wieder aufgesucht wird. Und ich bewundere es, wenn Leute immer wieder Stunden auch im Stehen lesen - wie in China Wandzeitungen - und sich nicht dabei einigermaßen bequem hinsetzen und eine Tasse Kaffee oder Tee trinken, um ein Buch zu lesen.

 

Sprecher:

Mit ihren Gedenkstätten, Archiven und Museen verfügt die Gesellschaft verfügt über eine Reihe von Einrichtungen, in denen die Vergangenheit nicht nur in Schrift und Bild, sondern in Materialien aller Art gesammelt und aufbewahrt wird. Das kollektive Gedächtnis organisiert sich darüber hinaus aber auch in gemeinsamen Festtagen, die das Leben im Kreislauf des Jahres gliedern. Schon archaische Kulturen hoben Feste aus dem Alltagsleben heraus, um den Göttern zu opfern, zugleich aber auch, um die Gemeinschaft zu stärken. Die älteste Form – das Totengedenken – hat bis heute Bestand. In der Erinnerung und Ehrung der Ahnen versichert sich eine Gemeinschaft ihres Ursprungs, erneuert so die Zusammengehörigkeit und bekräftigt ihre Identität.

 

Sprecherin:

Heute sind es neben den religiösen vor allem staatliche Feiertage, in den nationalstaatlich geordnete Gesellschaften ihre Legitimationsbasis stärken wollen. Immer wieder erhebt sich die Kritik, dass die von oben inszenierten Gedenktage die Menschen nicht mehr berühren. Politiker halten ihre Feiertagsreden, entleerte Gedenkrituale laufen ab, denen die Bevölkerung den Rücken zukehrt und sich diversen Freizeitvergnügungen überlässt.

 

Sprecher:

Besonders brisant scheint diese Aushöhlung von Gedenktagen, wenn es um die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen angeht, zum Beispiel an die Judenverfolgungen in der so genannten Reichskristallnacht am 9. November 1938. Peter Reichel macht allerdings darauf aufmerksam, dass die Gedächtnisarbeit an diesem Tag sich nicht in den kritisierten offiziellen Veranstaltungen erschöpft.

 

O-Ton, Peter Reichel:

Wir können eben auch konstatieren, dass am 9. November neben den zwei großen Fernsehsendern und neben den offiziellen Veranstaltungen in nicht-gezählten Kleinstädten und mittleren Städten, Aktion Sühnezeichen, die Kirchen, der Gewerkschaftsbund, also überall dort wo gesellschaftliche Organisationen zwischen Gesellschaft und Politik ihre intermediären Funktionen wahrnehmen sich auch an diesen Tagen orientieren, weil sie da eine didaktisch hochwillkommene Anschlussmöglichkeit haben, ihre Arbeit auch an solchen Themen zu orientieren ...... mein Eindruck ist, dass wir doch mehrere Ebenen haben, auf denen das Gedenken, das Thematisieren von Zeitgeschichte stattfindet, die eine - die spektakuläre, nehmen wir in all ihren Attraktionen, aber auch in ihren bedenklichen Dimensionen, Ritualisierungen wahr, und das andere nimmt man nur wahr, wenn man in der Region oder am Ort ist, aber das geschieht, diese geschichtspolitische Basisarbeit findet statt, ... also muss man nicht beunruhigt sein, wenn man nur auf diese erste in der medialen Öffentlichkeit präsentierte Ebene guckt.

 

Sprecherin:

Neben den Erinnerungstagen ist auch auf der Ebene von Erinnerungsorten viel geschehen: Längst sind es nicht mehr nur die großen Baudenkmäler, Adelsschlösser und Burgruinen, die historische Aufmerksamkeit und Denkmalpflege erfahren. Der Sinn für Geschichte und Herkunft hat den bürgerlichen Alltag der Städte und des Landes entdeckt und begonnen deren Vergangenheit zu erschließen. In den vom Bombenkrieg versehrten Stadtkernen wurden viele halbwegs erhaltene Häuser und Fassaden restauriert. So hat sich nach der Phase des meist rücksichtlosen Wiederaufbaus der Nachkriegsjahrzehnte eine Sensibilität für alles Gewachsene und Gewordene entwickelt. Inzwischen legen Industrie- und Wirtschaftsgeschichte, Landschaftsgeschichte und themenspezifische Stadtführungen überall historischen Boden frei.

 

Sprecher:

Die moderne Gesellschaft besitzt mehr historischen Sinn als alle Epochen zuvor. Das Mittelalter, auch die Renaissance hatten keine Bedenken, die Hinterlassenschaften der Griechen und Römer für neues Baumaterial auszuschlachten. Der moderne Sinn für Historie entspringt aber auch dem Bewusstsein, dass sich alles ungeheuer schnell wandelt und kaum etwas dauert. Er ist von Melancholie durchzogen in einer Welt, wo kaum etwas von dem, was heute zählt, morgen noch gilt.

Das Missverhältnis von hohem Wandel und geringer Kontinuität bildet für das kollektive Gedächtnis ein großes Problem.

 

O-Ton, Jörn Rüsen:

Das ist ein wichtiger Punkt, der leider in der Diskussion in der wissenschaftlichen Debatte über Erinnerung und Gedächtnis immer noch etwas zu kurz kommt: Worum geht es denn da letztlich? Alle werden sagen: ‚Na klar, um die Vergangenheit.’ Das stimmt aber gar nicht. Es geht um die Zukunft. Wir erinnern uns, um für die Zukunft gewappnet zu sein, wir brauchen die Erinnerung an die Vergangenheit, um unser Handeln, womit wir immer auf Zukunft hin leben, erfahrungskonform zu machen. Also wir brauchen Boden unter den Füßen, um nach vorn zu gehen. Und diesen Boden unter den Füßen legt uns die Erinnerung und das Gedächtnis als eine Art verarbeiteter Erfahrung, die wir brauchen, um vernünftig, erfahrungsgestützt, realistisch, Zukunft erwarten und gestalten zu können. In letzter Instanz geht es um Zukunft und nicht um Vergangenheit. Das ist leider in der ganzen Erinnerungs- und Gedächtnisdebatte in den Kulturwissenschaften zu kurz gekommen. Und weil das zu kurz gekommen ist, hat diese ganze Debatte auch so etwas wie ein kulturelle Schieflage.

 

Sprecherin:

Die Debatten um Erhaltung oder Restaurierung von Vergangenem ist kein Selbstzweck, wenn es um die Orientierung des Gemeinwesens geht. Das bedeutendste Beispiel hierfür ist sicherlich die Frage, ob das Berliner Stadt-Schloß wieder aufgebaut werden soll oder nicht. Es geht hier nicht primär um ästhetische Fragen, sonder darum, welche Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis durch Architektur gestützt und hervorgehoben werden soll:

 

O-Ton, Peter Reichel:

Die Frage, was in die Mitte der Republik gehört, nämlich in die Mitte der Hauptstadt, das ist eine Frage der politischen Symbolik, und da mag man das Schloss, den Schlossbau prächtig oder weniger prächtig finden, die Kurzantwort heißt: Das Schloss ist das falsche Symbol für eine Demokratie. Punkt. Bestünde es noch, hätte es bereits eine Geschichte innerhalb der Demokratie gehabt, wäre möglicherweise längst Ort von Kongressen, von Kultursammlungen und hätte auf diese Weise bereits seine Vergangenheit in einer vordemokratischen Vergangenheit an sich selbst abgearbeitet, aber das ist nicht so,

das Gebäude ist in der Anfangszeit der DDR aus einer ganz bestimmten politischen Interessenlage, Dritter Parteitag der SED, von Ulbricht, gegen große Widerstände innerhalb der SPD gesprengt worden, es hätte erhalten werden können, man hätte es auch benutzen können, wenn man den damaligen Berichten folgt, ... aber das ist ein Nebenaspekt. Für meine Begriffe reicht es aus zu sagen, das primäre Kriterium hätte für meine Begriffe auch das leitende Kriterium der Swoboda-Kommission sein müssen: Was ist für das vereinte Deutschland, ein republikanisches Staatswesen, eine demokratische Verfassung, architektonisch, in der politischen Architektur, das wichtigste Symbol?

 

Sprecher:

Die Kommission ‚Historische Mitte Berlin’, nach dem  Vorsitzenden auch Swoboda-Kommission genannt, die die Bundesregierung und der Berliner Senat im November 2000 eingesetzt haben, hat ihren Bericht inzwischen vorgelegt. Er enthält die Empfehlung, das Schloß, mindestens in Teilen wieder aufzubauen. Eine Entscheidung wird aber frühestens der nächste Bundestag treffen. Wichtig ist dabei auch die Frage, was mit dem Palast der Republik an gleicher Stätte geschieht. Gesetzt den Fall, dass man den Palast der Republik für den Wiederaufbau des Schlosses vollständig abrisse, so würde zugunsten einer älteren preußischen Vergangenheit ein wichtiger Teil der DDR-Geschichte ausgelöscht, und zwar ausgerechnet jenes Gebäude, in dem die Volkskammer der DDR den Beitritt zum Grundgesetz beschlossen hat. Die Architektur ist Ausdruck und Stütze des kollektiven Gedächtnisses, zumal im Zentrum einer Hauptstadt.

 

Sprecherin:

In vereinten Deutschland geht die Diskussion seit Jahren darum, wie die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust in Berlin manifestiert werden soll. Inzwischen scheint es nicht mehr sinnvoll darüber zu streiten, inwieweit ein einzelnes Projekt allen Gedächtnisaspekten genügt, sondern auf die Konstellation der drei großen Erinnerungsorte zu achten: Das beschlossene zentrale Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor, die im Ausbau befindliche Dokumentationsstätte „Topografie des Terrors“, an jener historischen Stätte, wo Gestapo, SS und Reichssicherheitsdienst ihre Schaltzentralen des organisierten Verbrechens besaßen. Schließlich das Jüdische Museum in Berlin-Kreuzberg, dessen aufsehen erregender symbolischer Bau sich im letzten Jahr mit der ersten Ausstellung präsentiert hat.

 

Sprecher:

Aber welche Bedeutung wird der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der Deutschen fürderhin einnehmen? – Jörn Rüsen:

 

O-Ton, Jörn Rüsen:

Der Holocaust und das Dritte Reich bleiben Gründungereignisse im kollektiven Gedächtnis und in der Geschichtskultur der Deutschen, und zwar werden sie das für absehbare Zeit blieben, ich sehe nicht die Gefahr, dass das wegdämmert, ich sehe höchstens die Gefahr, dass das durch die Kulturindustrie gleichsam verdaut wird, dass die schwere Verstörung, die von dieser Erfahrung ausgeht, beseitigt wird, wenn Sie schon Slapstick-Komödien über den Holocaust machen können wie in dem Film „Das Leben ist schön“ dann verliert diese Erfahrung ihren Schrecken, das ist problematisch, denn ich komme zu meinem Punkt: Historisierung bedeutet, dass diese negative historische Erfahrung weiterhin in der Geschichtskultur oder im kollektiven Gedächtnis der Deutschen  eine wichtige Rolle spielt, aber im Zusammenhang mit anderen Erfahrungen.

 

Sprecherin:

Auch wenn der historische Abstand wächst, der Holocaust bleibt eine Katastrophe, die in ihrer Barbarei und ihrem Ausmaß den Rahmen der Geschichte aufsprengt. Im Grunde kann die Monströsität des Verbrechens auch gar nicht abschließend bewältigt, wiedergutgemacht oder vom kollektiven Gedächtnis irgendwie verdaut werden. Dieses Argument wäre den Vertretern der Schlussstrichmentalität entgegenzuhalten.

Auf der anderen Seite darf man aber die deutsche Geschichte nicht auf das letzte Jahrhundert reduzieren und wie gebannt nur auf das Dritte Reich starren. Damit würde man das kollektive Gedächtnis in fataler Engführung auf den Nationalsozialismus und seine Verbrechen fixieren.

 

Sprecher:

Der historischen Horizont kann sich erweitern, wie es beispielsweise das Jüdische Museum vorführt. Im Zentrum des Museums steht unweigerlich der Holocaust, das Ende der deutsch-jüdischen Geschichte. Aber trotz seiner erdrückenden Realität versucht die Ausstellung nicht die gesamte Zeit von beinah zweitausend Jahren, in der Juden in Deutschland leben, als bloße Vorgeschichte der Katastrophe zu erzählen.  Die Ausstellung beleuchtet vielmehr ebenso die zerstörten Ansätze und Möglichkeiten, die Vielfalt und den kulturellen Reichtum der deutsch-jüdischen Beziehungen.

 

Sprecherin:

Peter Reichel konstatiert, dass das kollektive Gedächtnis seinen historischen Horizont geweitet habe, ohne dass man deshalb von einer Krise sprechen könne.

 

O-Ton, Peter Reichel:

Ich würde von Krise eher sprechen in einer Zeit als man nicht von Krise gesprochen hat, also als der Gesellschaft noch bekannt oder nicht klar war, ... was für eine liberale und kollektive Gedächtnisbildung notwendig ist, ...

Und der Nachkriegsgesellschaft war das vielfach nicht klar, im ersten Jahrzehnt war eine generelle Abkehr von der Geschichte angesagt, der Rückblick verpönt es ging um Gegenwarts- und Zukunftsorientierung, Wiederaufbau der Gesellschaft, und dann hat eine Phase eingesetzt, die sehr selektiv und fast wie gebannt auf 12 Jahre war, und erst dann danach hat sich der Blick wieder geöffnet. Wie unterschiedlich er dann auch immer Themen aus mittelalterlicher, frühmoderner, neuzeitlicher Geschichte wählt, so denke ich, sollte in einem nichtpathologischen Sinne öffentliches Gedächtnis funktionieren, dass es sich klar ist, dass es in jedem größeren gewachsenen Nationalstaat doch eine Vorgeschichte von mehreren hundert Jahren gibt, die mehr oder weniger verfügbar oder präsent ist, deshalb spricht man auch von langen oder von kurzen nationalen Gedächtnissen, und in Deutschland war dieses Gedächtnis zwangsläufig und zwanghaft einige Jahre sehr kurz, und das öffnet sich.

 

Sprecher:

In Frankreich ist die Optik des nationalen Gedächtnisses auf gut zweihundert Jahre eingestellt, auf die Epoche seit der Französischen Revolution. In England greift man aufgrund der älteren Verfassungstradition noch weiter zurück.

Neben der Frage, wie sich das kollektive Gedächtnis in Deutschland zeitlich dimensioniert, welchen Vergangenheitshorizont es wählt, ist wohl entscheidend, welche Inhalte darin Platz finden. Jörn Rüsen bringt seine Forderungen auf einen einzigen Begriff – Ambivalenz. 

 

O-Ton, Jörn Rüsen:

Ambivalenz: Licht und Schatten im historischen Selbstverständnis, das ist das Gebot der Stunde und der Zukunft, wir müssen weg von der traditionellen Weise, dass ein Volk oder eine Gruppe das Licht der Bedeutung, der Werte, des Zivilisatorischen, des Fortschritts besonders hell, sozusagen in der eigenen Geschichte scheinen lässt, und die dunkleren Seiten liegen jenseits der Grenzen des eigenen Selbst, das sind die Barbaren, das sind die anderen. Diese Form des historischen Denkens ist nicht zukunftsfähig, aus ganz einfachem Grund: Im Globalisierungsprozess nimmt die Vernetzung der verschiedenen Gruppen, Nationen und Kulturen dramatisch zu. Und wenn wir dann weiterhin so denken,  ‚Wir und die anderen’, mit dieser moralischen Asymmetrie, dann steigert das angeblich so unschuldige kulturelle Denken die Friedensunfähigkeit dieser Kulturen, und da ist ein Ambivalenzgewinn der Geschichtskultur eine echte Friedenschance. Das ist allerdings harte Arbeit.

 

Sprecherin:

Neben den Licht- auch die Schattenseiten der Vergangenheit in sich aufzunehmen, dafür ist das kollektive Gedächtnis von seinem begrifflichen Ursprung her allerdings schlecht gerüstet. Die Hypothek geht bis auf Nietzsches Schrift  ‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie’ zurück. Nietzsche polemisierte gegen Geschichtssinn und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, da sie den Geist mit einer Flut von Quellenmaterial und Detailkenntnissen überschwemmten.  Nietzsche witterte darin eine große Gefahr für das kulturelle Gedächtnis, insofern es unter dem Ballast zusammenbreche und nicht mehr zwischen Wesentlichem und Belanglosem zu unterscheiden vermöge, ähnlich wie heute der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard fürchtet, dass die lebendige Erinnerung in den überfetteten Dateinspeichern ersticke.

 

Sprecher:

Unter Gedächtnis verstand Nietzsche die Leistung, sich immer aufs neue jener Teile der Vergangenheit zu versichern, die positiv, zukunftsfähig und identitätsichernd seien, mit einem Wort: Brauchbares zu erinnern und Unbrauchbares zu vergessen. In dieser Weise hat Nietzsche lebensdienliches Gedächtnis auf der einen und lebensfremde Geschichte und Geschichtswissenschaft auf der anderen Seite gegeneinander gestellt.

 

Sprecherin:

Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses wie der Soziologe Maurice Halbwachs haben diese Opposition beibehalten. Das Gedächtnis – die gemeinsamen Erinnerungen einer Gruppe – sind dann verbunden mit sozialer Wärme und Emotion, mit Orientierung, Identität und Zukunftsperspektive, wohingegen Geschichtswissen mit Verstandeskälte, Neutralität und Sinnleere assoziiert ist.

Diese Art von  ideologischer Gegenüberstellung findet Jörn Rüsen falsch und äußerst bedenklich.

 

O-Ton, Jörn Rüsen:

Die Wissenschaft ist nicht kalt. Die Wissenschaft bringt in die Wärme des kulturellen Gedächtnisses die Kühle des Verstandes ein. Aber der ist nicht kalt, sondern das ist sozusagen ein Element der Besonnenheit und der Distanzierung.

... die Wissenschaft, die Geschichtswissenschaft selber arbeitet ebenfalls  mit Sinnkriterien, erfüllt wenn auch indirekt und viel vermittelter auch Orientierungsfunktion, und das was die Wissenschaft gegenüber den andern Gedächtnis und Erinnerungsprozeduren auszeichnet, das ist eben so wichtig, das man es nicht rauslassen sollte aus der ganzen Überlegung zum kollektiven, kommunikativen und kulturellen Gedächtnis, dafür gibt es ein wunderschönes Wort, das leider vollkommen aus der Mode gekommen ist, das Wort Kritik. Und eine Geschichtskultur einer modernen Gesellschaft wie der unsrigen in der das Element der Kritik nicht ein stück des eigenen Lebens ist, ja in der möchte ich nicht leben. Und ich als Historiker sehe eine meiner wesentliche Aufgaben darin, dieses Lebenselexier des kritischen Denkens lebendig zu erhalten.

 

Sprecher:

Eine vorrangige Aufgabe des Geschichtsbewusstseins ist es, ein kritisches Selbstverständnis hervorzubringen, damit das kollektive Gedächtnis nicht von positiv verklärten Selbstbildern und nationalistischen Mythen besetzt wird, Ideologien, die zwar den Selbsterhaltungsdrang von Gruppen und Nationen stärken, aber auf Kosten von Toleranz und friedlicher Koexistenz. 

 

Sprecherin:

Die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schlägt einen Ausweg aus der theoriegeschichtlichen Sackgasse vor. Statt Gedächtnis weiterhin gegen Geschichte auszuspielen, unterscheidet sie zwei einander ergänzende Erinnerungsmodi: das bewohnte und das unbewohnte Gedächtnis.

Das bewohnte Gedächtnis bilden jene Vergangenheitsinhalte, von denen eine Gesellschaft im Augenblick Gebrauch macht, aus denen sie ihre Identität bezieht und ihre Perspektiven gewinnt. Zwangsläufig hat es eine subjektive und wertende Qualität.

 

Sprecher:

Das unbewohnte Gedächtnis umfasst ein Meer an Daten und Informationen, vor allem jenes Quellenmaterial, das die Geschichtswissenschaften bereitstellen. Dieses unbewohnte Gedächtnis geht zwar aktuell nicht in die Gegenwartsdeutung ein, aber es bildet eine Reserve und ein kritisches Widerlager gegen die ideologische Selbstverblendung einer Zeit. Es ermöglicht künftige Anschlüsse für eine demokratische und pluralistische Gesellschaft, in der – so Peter Reichels Bild - das kollektive Gedächtnis aus dem Steinbruch der Vergangenheit immer wieder neu und anders Gestalt gewinnt.

 

O-Ton, Peter Reichel:

Sie können Vergangenheit nicht komplett als Vergangenheit in jede Gegenwart ziehen, etwas bleibt, etwas fällt weg, etwas anderes wird thematisiert, und so ist ein ständiger Austausch in einem großen Steinbruch der Vergangenheit da, Geschichte wird sozusagen in jeder Gegenwart neu erfunden und neu erzeugt, und die ganze Geschichte bleibt unbekannt. ...  und wenn das so läuft, muss es einem um ein kollektives Gedächtnis in einer freien Gesellschaft, ein institutionell gestütztes kulturelles Gedächtnis auch gar nicht bange sein.