Zitator:

Wer jung ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern. ... Daher soll der Jüngling und der Greis philosophieren, der eine, damit er im Alter noch jung bleibe an Gütern durch die Freude am Vergangenen, der andere, damit er gleichzeitig jung und alt sei durch die Furchtlosigkeit vor dem Künftigen. Wir müssen uns also kümmern um das, was die Glückseligkeit schafft: wenn sie da ist, so besitzen wir alles, wenn sie aber nicht da ist, dann tun wir alles, um sie zu erringen.

 

Sprecherin:

Mit diesen Worten ermahnt Epikur seinen Schüler Menoikeus zu philosophieren. Ein Philosophieren nicht jedoch als spekulativer Selbstzweck, sondern um auf diesem Wege das gute Leben zu finden - oder wie es in der Antike heißt: die eudaimonia, die Glückseligkeit.

 

Sprecher:

Ein solches Philosophieren, dass die Menschen in ihrer Lebensführung klüger machen will, hat Sokrates vorgeführt. Auf dem antiken Markplatz, der agora, in den Straßen und Häusern Athens hat er jung und alt, Laien und Fachleute in Diskussionen verwickelt über moralpraktische Fragen aller Art: Was ist Tapferkeit? Was ist Tugend? Was ist Frömmigkeit? Und was Besonnenheit?

 

Sprecherin:

Sokrates führt seine Gesprächspartner, wie es zum Beispiel im Dialog Laches geschildert wird, so lange herum, bis sie eingestehen müssen, dass sie nichts wissen, dass ihre Ansichten der gemeinsamen Prüfung nicht standhalten. Doch Sokrates’ Einsicht ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß’ war nicht selbstgerecht, sondern von dem Willen beseelt, im Dialog Aufklärung zu erreichen und gemeinsam in der Erkenntnis voranzukommen. Denn Wissen und Tugend betrachtete er als Einheit.

 

Sprecher:

Diese lebenspraktische Orientierung scheint der Philosophie in der Gegenwart gänzlich abhanden gekommen. Nicht nur in der Universität, auch in der Öffentlichkeit wird Philosophie einseitig mit theoretischer Abstraktion und Philosophiegeschichte gleichgesetzt,  mit einem Fundus schwieriger Sy­steme, unverständlicher Begriffe und einer Sammlung von Aussa­gen über die Welt. Natürlich gehört auch das zur Philosophie. Adorno sagte, sie sei ein Fach und ein Nichtfach zugleich.

 

Sprecherin:

Ein Fach, insofern sie ebenso wie andere Disziplinen ihre eigene Ter­minologie, ihre Methoden, ihre Geschichte hervorgebracht hat; aber auch ein Nichtfach, insofern sie die Grenzen einer Disziplin übersteigt und kein abfragbares totes Wissen, sondern ein lebendiges Denken darstellt, das nicht zuletzt helfen soll das Leben zu meistern.

Und gerade in dieser Hinsicht sei ein Blick auf die Antike erhellend, meint Christoph Horn, der an der Universität Bonn antike Philosophie lehrt:

 

O-Ton, Christoph Horn:

In der Tat gehört es zu den Thesen, die unter Philosophiehistorikern heftig diskutiert werden, ob die antike Philosophie, sei es zum größeren Teil, sei es insgesamt, eine therapeutische oder konsiliatorische – d.h. beratende – Ausrichtung hat. ... Ich bin der Frage selbst einmal nachgegangen, nach meinem Eindruck ist die These leicht überpointiert, hat aber einen beträchtlichen Wahrheitswert. Es scheint in der Tat so zu sein, dass wenigstens beginnend mit Sokrates, also in der klassischen Epoche der griechischen Philosophie, die Frage nach der Lebensführung, nach dem gelingenden, nach dem guten Leben, maßgeblich für die philosophischen Bemühungen insgesamt gewesen sind.

 

Sprecher:

Christoph Horn hat seine Nachforschungen in dem Buch Antike Lebenskunst veröffentlicht. Der Titel ist wörtlich zu nehmen. Tatsächlich sprach die Antike von ars vivendi – von Lebenskunst, um die es der Philosophie in weiten Teilen zu tun war.

 

Sprecherin:

Diesen hohen Sinn hat der Begriff in der Gegenwart eingebüßt. Heute verstehen wir unter einem Lebenskünstler jemand, „der sich unter widrigen Umständen erfolgreich durchschlägt und sich mit minimalen Einkünften und schwierigsten Verhältnissen arrangiert“ schreibt Christoph Horn. Oder aber bei Lebenskunst assoziiert man eine Synthese von Geld und Geschmack, ein raffiniertes Genießertum, wo man genau weiß, welcher Rotwein zum Menü passt und sich das ganze auch leisten kann. Es gibt aber noch eine dritte Variante: Lebenskunst als Lifestyle. Und da geht es nicht allein darum, im Fitness-Studio den Körper zu stylen, sondern die gesamte Person nach Maßgabe eines Identitätsdesign zu stilisieren, d.h. sich gleichsam eine Persönlichkeit zuzulegen.

 

Sprecher:

Dagegen erinnern verschiedene Denker an die antike Auffassung einer philosophischen Lebenskunst und versuchen deren Konzept, zum Teil gegen den Widerstand der akademischen Tradition, neu zu formulieren. Besonders exponiert tut dies der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid:  Philosophie der Lebenskunst heißt eines von Wilhelm Schmids Büchern, ein anderes trägt den provozierend-verlockenden Titel Schönes Leben.

 

O-Ton, Wilhelm Schmid:

Die Philosophie ist selbst schuld, dass die Lebenskunst so verkommen ist, denn es sind die Philosophen gewesen, die sie seit annähernd zweihundert Jahren haben brachliegen lassen. Es war ursprünglich eins der großen Themen der Philosophie und das ist es auch geblieben, bis ungefähr 1800, 1805. Wenn also heute neu von Lebenskunst in der Philosophie die Rede sein soll, dann nicht wie von Lifestyle und Identitätsdesign die Rede ist, sondern Philosophie meint hier, wie immer ein Innehalten und Nachdenken. Und das Nachdenken geht hier auf die Fragen des Lebens, auf die Grundlagen des Lebens, die Möglichkeiten des Lebens, die Rahmenbedingungen, und ich denke, da kann Philosophie ein bisschen Lebenshilfe leisten in dem Bereich. Nicht indem der Philosoph sagt: ‚Das haben Sie zu tun! So hat man zu leben, das ist das richtige Leben!’ - sondern indem er hilft, die Lebensgrundlagen zu klären und Lebensmöglichkeiten zu finden.

 

Musik:

 

Sprecherin:

Die Frage wie man sein Leben gestalten und führen kann, das Thema der Lebenskunst gehört in den weiteren Bereich der Ethik. Die Ethik handelt umfassend davon, an welchen Normen und Werten sich menschliches Handeln orientieren soll, welche Ziele, aber auch Grenzen es sich dabei setzen will. Ethische Fragen haben gegenwärtig Konjunktur. Das hängt offensichtlich mit der Gefährdung des Lebens durch menschliches Handeln zusammen: Naturzerstörung und gentechnologische Manipulation lauten die Stichworte.

 

Sprecher:

Noch eine weitere Problematik prägt den Hintergrund der ethischen Diskussion im Hinblick auf das Thema Lebenskunst: die Menschen müssen verkraften, dass die sozialen Utopien verblasst sind. Nach dem Untergang des Sozialismus präsentiert sich die herrschende Gesellschaft ohne ernstzunehmendes Alternativmodell. In der Frage, wie man leben soll und will, erfährt sich der Einzelne verstärkt auf sich selbst zurückgeworfen, durchaus mit beträchtlichen Freiräumen, aber ohne Orientierungshilfe.

 

Sprecherin:

In dieser Hinsicht gibt es gewisse Parallelen zur Situation in der Antike, als sich im vierten Jahrhundert die philosophische Disziplin der Ethik herausbildete. Platon und Aristoteles philosophierten damals vor dem Hintergrund einer niedergehenden Polis. Platon liefert in seiner Schrift politeia eine restriktive Ethik im Rahmen eines starren Gemeinwesens mit totalitären Zügen. In seinem Staatsmodell sind die Bürger hierarchisch in Lehrstand, Wehrstand und Nährstand gegliedert, und jedem ist sein Verhalten genauestens vorgeschrieben, individuellen Freiraum gibt es darin nicht. Platon schuf eine Ordnungs- und keine Freiheitsutopie.

 

Sprecher:

Aristoteles hingegen begann in seiner praktischen Philosophie zwischen Ethik und Staat, zwischen Lebensführung und politischer Verfassung zu differenzieren.

In der Ethik ging Aristoteles davon aus, dass alles menschliche Tun und Leben nach Glück strebt, nach Eudaimonia.  Eudaimonia bedeutet wörtlich „von einem guten Geist geleitet zu sein“ d.h. von einer inneren vernünftigen Stimme, die - wie Aristoteles meint - dem Menschen in seinem Verhalten Maß und Mitte gibt. Wilhelm Schmid:

 

O-Ton, Wilhelm Schmid:

Die Idee des glücklichen Lebens findet man bei Aristoteles sehr stark ausgearbeitet in seinem Buch Nikomachische Ethik, das war die Begründung der Ethik überhaupt. Es ist nicht ganz angemessen, heute von Ethik zu sprechen und nur die reine Sollensethik zu meinen, denn schon der Begründer der Ethik, Aristoteles, hat unter Ethik noch ein paar andere Dinge verstanden, als wir heute unter unserer Sollensethik: Aristoteles spricht in der Nikomachischen Ethik in zwei von zehn Kapiteln nur über die Freundschaft, in weiteren zwei Kapiteln nur über die Lust, in einem weiteren Kapitel nur über die Großzügigkeit, in einem weiten Kapitel nur über die Klugheit – alles Themen, die Sie in heutiger Ethik vergebens suchen.

Der Zustand lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, denn natürlich sind das zentrale Fragen menschlichen Lebens, wie gehe ich mit der Lust um? Wie gewinne ich Freunde? Was ist die Voraussetzung für Freundschaft auf meiner Seite? Was kann ich dafür tun? Was ist eine Klugheit, von Vernunft gar nicht zu sprechen: Klugheit – ein Vermögen, das zwischen Gefühlen und Verstand angesiedelt ist. All das sind Dinge, die für eine Ethik unverzichtbar sind, und wo wir gut daran tun, die wieder zurückzuholen.

 

Sprecherin:

Klugheit in Fragen der Lebenskunst war Immanuel Kant suspekt: er argwöhnte, dass diese Klugheit sich in den Dienst  des Egoismus stelle. Kant schrieb deshalb gegen die Antike gewandt „das Prinzip der eigenen Glückseligkeit“ sei in der Ethik „am meisten verwerflich“.

 

Sprecher:

Im Gegenzug kritisieren heute andere an Kant, dass seine Ethik selber Schlagseite habe. Denn einseitig thematisiere die moderne Ethik moralische Normen und deren Begründung, d. h. sie ist an der Frage ausgerichtet. Was sollen wir tun? – Dagegen fragt die antike Ethik: Wie wollen wir leben? Anders gesagt: Wonach strebt der Mensch, was dünkt ihm ein guter Zustand?

 

Sprecherin:

Die Antike entwickelt dergestalt eine Strebensethik; die Moderne hingegen eine Pflichtethik. Kritiker argumentieren heute, die moderne Ethik entspringe der jüdisch-christlichen Tradition, deren starker Gebotscharakter sich säkularisiert in Kants Pflichtethik wiederfinde. 

Ein Blick auf die Antike kann also die Gegenwart bereichern, allerdings gilt es den Begriff Glück genauer zu reflektieren, erklärt Christoph Horn.

 

 

O-Ton, Christoph Horn:

In dem Zusammenhang muss man darauf hinweisen, dass der Glücksbegriff in der Antike ein deutlich anderer ist als jener, den wir seit der frühen Neuzeit in der allgemeinen Philosophietradition, auch im allgemeinen Bewusstsein vor Augen haben. Der eudaimonia-, Glücks- oder beatitudo-Begriff ist der des so genannten Erfüllungsglücks, nicht der des Empfindungsglücks. Unter Erfüllungsglück ist zu verstehen, die Vorstellung eines insgesamt gelungenen wohlgeratenen, beneidenswerten, geglückten Lebens; während wir unter Glück in der Neuzeit und in der Gegenwart in aller Regel den Enthusiasmus, die aufgekratzte Stimmung, das Hochgefühl verstehen, das sich an eine bestandene Prüfung anschließt, das einen besonderen Erfolg begleitet, das man empfindet, wenn einem etwas ganz besonders gelungen ist. –natürlich muss man beim Glücksbegriff der Antike erst recht darauf verzichten, daran zu denken, dass Glück im Deutschen ja auch Erfolg bedeutet, also das gute Gelingen, das zufällige Gelingen, dieses Glück haben ist damit überhaupt nicht gemeint, sondern glücklich sein.

 

Sprecher:

Die antike Vorstellung von Glück ist also nicht an den Augenblick gebunden, sondern meint  Lebensglück oder gutes Leben.  „Glückseligkeit ist der Wohlfluss des Lebens“, definierte Zenon, der Begründer der stoischen Philosophie. Für die Antike bedeutete Lebensglück und Gutes Leben dasselbe. Und dabei sollte dem Denken eine Führungsrolle zufallen, man soll das eigene Leben reflektieren und bewusst lenken, anstatt sich blind dahintreiben zu lassen.

Dabei sei der Erfolg jedoch kein Kriterium, ja ein gutes Leben ist auch nicht mit einem gelingenden Leben gleichzusetzen, so radikalisiert Wilhelm Schmid sein eigenes Konzept der Lebenskunst.

 

O-Ton, Wilhelm Schmid:

Daran liegt mir sehr, das Missverständnis auszuschließen, dass es hier um das gelingende Leben geht, Ich glaube, das ist zu anspruchsvoll und liegt auch nicht auf der Linie dessen, worum es meiner Sicht der Dinge nach gehen kann im Leben. Ein gelingendes Leben heißt sich festzulegen auf das Gelingen. Jedem, dem schon etwas misslungen ist, weiß, dass das vielleicht die viel wertvollere Erfahrung ist. Es hat also keinen Sinn, das Leben festzulegen auf das Gelingen, natürlich auch nicht auf das Misslingen, sondern sich sinnvollerweise vorzustellen, beides kann geschehen: es kann gelingen, es kann misslingen, auch wenn es misslingt, wird es eine Erfahrung sein, die mich reifen lässt und die mich möglicherweise in engerer Verbindung zum Leben hält als das Gelingen, das uns leichtsinnig macht und uns dem Leben eher entfremdet.

 

Musik:

 

Sprecherin:

Die antiken Philosophen waren sich einig, dass der Mensch nach Glück bzw dem gutem Leben strebe, aber was unter diesem Ziel inhaltlich zu verstehen sei, darüber gingen die Ansichten der verschiedenen philosophischen Schulen auseinander.

Die wohl bis heute populärste Ausdeutung von Glück hat der hellenistische Philosoph Epikur gegeben, so Katja Vogt, die an der Berliner Humboldt-Universität antike Philosophie lehrt:

 

O-Ton, Katja Vogt:

Die berühmte These von Epikur zu dieser Frage lautet, dass das Glück in der  Lust besteht. Die Lust sei Anfang und Ziel (telos) – und das soll heißen, dass wir von Anfang an, wenn wir handeln, Lust verfolgen und auch als letztes Ziel dieser kleinen Einzelziele von Handlungen, die Lust hinter allem steht, als unser letztes Ziel. Indem ein Zustand an Lust dasjenige sein soll, was wir alle erstreben, nämlich der Zustand des Glücks, der eudaimonia, man kann auch sagen des guten Lebens ... Und diese These von Epikur, dass das Glück in der Lust bestehe, ist eine These, die in der Antike seit Platon, vielleicht auch noch früher, diskutiert worden ist, weil sie sozusagen ernstnimmt, dass viele Menschen, auch heute, sicherlich so handeln, dass sie Lust verfolgen. Und da lohnt es sich natürlich zu fragen, ob das die richtige Lebensweise ist und die Lebensweise, die uns wirklich zu dem führt, wonach wir streben, nämlich dass es uns wirklich gut geht.

 

Sprecher:

Epikur, ein philosophischer Autodidakt, der aus Samos stammte, kaufte sich 306 vor Chr. in Athen einen Garten, wo er sich mit Schülern und Freunden zusammenkam. Lathe biosas – Lebe im Verborgenen – war sein Wahlspruch. Er pries den Rückzug von der Politik ins Private, in den Freundeskreis, zu einer Zeit, wo die Diadochenreiche nach dem Tod Alexander des Großen längst über die griechischen Poleis triumphiert hatten.

 

Sprecherin:

Bis heute ist Epikur der bekannteste und zugleich verkannteste Philosoph der Lebenskunst. Schon zu Lebzeiten überzogen ihn andere mit üblen Nachreden vor allem Gegner aus dem Lager der Stoa. Alles mögliche wurde ihm angedichtet: Epikur erbreche sich zweimal am Tag, um weiter essen zu können, erzählte Timokrates. Und Posidonios behauptete, Epikur habe seinen Bruder zur Prostitution verleitet. Die Liste der Diffamierungen nahm kein Ende und lieferte ein Zerrbild Epikurs und seiner Lehre, das durch Zeiten und Epochen hindurch bis in die Gegenwart hartnäckig fortbesteht:

 

Sprecher:

 Der Epikureer – so das Klischee – sei genusssüchtig, ein Lustmolch, stets auf der Sonnenseite des Lebens, nur das Feinste sei ihm gut genug ist und kein Vergnügen lasse er sich entgehen nach den Motto: ‚Morgen sind wir alle tot.’ Vom Ernst des Lebens mag er nichts hören, das Nachdenken fände er zu beschwerlich – kurzum: Epikur sei ein Ahnherr der postmodernen Spaßgesellschaft.

Den Missverständnissen und Verleumdungen seiner Lehre ist Epikur selbst mit sehr klaren Aussagen begegnet: 

 

Zitator:

Wenn wir also sagen, daß die Lust das Lebensziel sei, so meinen wir nicht die Lüste der Wüstlinge und das bloße Genießen, wie einige aus Unkenntnis und weil sie mit uns nicht übereinstimmen oder weil sie uns missverstehen, meinen, sondern wir verstehen darunter, weder Schmerz im Körper noch Beunruhigung in der Seele zu empfinden. Denn nicht Trinkgelage und ununterbrochenes Schwärmen und nicht Genuß von Knaben und Frauen und von Fischen und allem anderen, was ein reichbesetzter Tisch bietet, erzeugt das lustvolle Leben, sondern die nüchterne Überlegung, die die Ursachen für alles Wählen und Meiden erforscht und die leeren Meinungen austreibt, aus denen die schlimmste Verwirrung der Seele entsteht.

 

Musik:

 

Sprecherin:

Epikur hat die Lust, das höchste Gut, auf einer zweiten Stufe definiert: Lust sei in letzter Instanz Vermeidung von Unlust, ein Freisein von Schmerz. Er hat also sein Lustprinzip in einer sehr lebensklugen Weise ausgelegt, die nicht auf den Rausch des Augenblicks abhebt, sondern langfristig auf eine positive Lustökonomie bedacht ist. Katja Vogt:

 

O-Ton, Katja Vogt:

Epikur sagt, berühmtermaßen: wenn man Durst hat und ihn stillt, so sei es egal, es sei die gleiche Lust, ob man diesen mit Brackwasser stillt oder mit gutem Wasser. Da entscheidet einfach nur die Aufhebung des Unlust- oder Schmerzzustandes, der nämlich Durst ist, und wenn der so oder so behoben ist, empfinde man dieselbe Lust. Wenn man diese Art von Thesen, jede Lust ist gleich, oder egal wie Unlust behoben wird, es entsteht die gleiche Lust, es gibt nicht intensivere oder weniger intensivere Lust sich vor Augen führt, dann sieht man, worauf das Ganze zielt. Es zielt darauf ab zu sagen, Lust ist verfügbar, Brackwasser mindestens haben wir immer, und insofern ist Lust nichts, wonach wir immer qualvoll streben und sie dennoch nicht erreichen, sondern sie ist durchaus erreichbar, und insofern auch ein gutes Lebenskonzept. Denn wir uns etwas Erreichbares zum Ziel setzen, dann haben wir uns die richtige Sache herausgesucht, denn dann wissen wir, wie wir es machen, damit wir glücklich sein können.

 

Sprecher:

Epikur lehrt also nicht den hemmungslosen Genuß, sondern einen klugen Umgang mit den eigenen Lustmöglichkeiten. Dazu gehört Selbstgenügsamkeit, nicht um des Verzichts willen, sondern um sich nicht von schwer erreichbaren Dingen abhängig zu machen. Autarkie ist der andere Name dieser Selbstgenügsamkeit. Die Vermeidung von Unlust soll uns helfen, einen inneren Gleichmut zu finden und zu bewahren, die Seelenruhe, ataraxia wie Epikur es nannte.

 

Sprecherin:

Von zwei Seiten sah Epikur die angestrebte Seelenruhe gefährdet, zum einen durch die die Angst vor göttlicher Strafe, zum anderen durch die Todesfurcht. Von den Göttern entwarf Epikur deshalb ein angstentlastetes Bild. Er zeichnete sie als heitere weltabgewandte Wesen, die ihr unsterbliches Leben genießen. Im Grunde sind die Götter schon im Zustand jener Eudaimonia, jenes glücklichen Lebens, das die Menschen erst noch anstreben.

 

Sprecher:

Das andere schwerwiegende Übel ist die Todesfurcht. Als permanente Beunruhigung, als Horror vacui steht sie ins Leben hinein und droht gleichfalls das psychische Gleichgewicht zu zersetzen. Epikur begegnet dem Problem der  Todesfurcht als strenger Sensualist, der von der Sinneserfahrung ausgeht: Was man nicht mit den Sinnen wahrnimmt, hat keine Wirklichkeit. Auf diese Weise sucht Epikur die Todesangst zu bannen:

 

Zitator:

Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten; denn die einen geht er nicht an, und die anderen existieren nicht mehr.

 

Musik:

 

Sprecherin:

Was den Menschen ängstigt ist nicht das Totsein, sondern das konkrete Sterben Epikurs Bannspruch wirkt deshalb nicht überzeugend. Und auch das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, das ins Leben  hineinsteht, beunruhigt. Für Epikur wie für andere antike Denker gab es allerdings keinen Zweifel daran, dass zur ars vivendi -  zur Lebenskunst immer auch eine ars moriendi - ein Nachdenken über Tod und Sterben hinzugehört. Wilhelm Schmid:

 

O-Ton, Wilhelm Schmid:

Im Hintergrund von Lebenskunst, wenn sie eine philosophische sein soll, muss immer das Denken an den Tod stehen ... In der Moderne wird von Menschen diese Grenze des Lebens als äußerst lästig wahrgenommen, es könnte aber grundsätzlich sein, dass diese Grenze des Lebens nicht verzichtbar ist. Das kann man sich heute am besten in einem Gedankenexperiment vergegenwärtigen: Was wäre denn, wenn dieses Leben nicht mehr enden würde, wenn das Leben dauern würde 200, 500, 5000 Jahre. Was würde ich denn all diese Zeit machen? Eine kleine Verlängerung wäre ja vielleicht wunderschön, aber so lange Zeit hier zu sein ohne Aussicht, dass das jemals endet - woher nehme ich den Antrieb überhaupt morgens aus dem Bett zu kommen? Woher nehme ich den Antrieb einen Streit irgendwann zu beenden? Es könnte ja interessant sein, einen Streit 50.000 Jahre durchzuführen. Das alles könnte klar werden lassen: wir verdanken dem Tod auch etwas, nämlich dass dieses Leben überhaupt Leben wird und nicht in unendlicher Langeweile zerfließt. Insofern denke ich, kann man heute in der Lebenskunst das Denken an den Tod erneuern.

 

Sprecher:

Gemeinhin betrachten wir die Grenze, die der Tod dem Leben zieht, nur als eine Verminderung, als eine Einschränkung, die dem Leben weitere Möglichkeiten vorenthält. Aber unter der Gedankenhypothese eines unendlichen Lebens kommen andere Bedeutungen zu Bewusstsein. Die Endlichkeit, der Tod gibt dem Leben in paradoxer Weise auch einen außerordentlichen Wert, verleiht den Möglichkeiten und Chancen ein Gewicht, die sie in einem unendlichen Dasein nicht hätten. Würde man ewig existieren, wäre alles Tun und Erleben revidierbar und daher belanglos.

Für Wilhelm Schmid stellt sich dieses Thema nicht nur theoretisch, da er jedes Jahr im September als Philosoph in einem Krankenhaus arbeitet:

 

O-Ton, Wilhelm Schmid:

Ich habe natürlich etliches zu tun mit dieser Frage bei der Arbeit im Krankenhaus, die seit vier Jahren läuft, da kommen immer wieder Menschen, die vor dem Tod stehen und da gibt es ganz unterschiedliche Gespräche, ... es gibt nicht wenige Menschen, die sich angesichts des Todes beklagen, dass  nicht schon früher jemand gesagt hat, dass das ihr eigenes Leben sei. Wenn sie sich dessen bewusst gewesen wären, dann hätten sie dieses Leben viel intensiver gelebt, dann hätten sie das Leben nicht so einfach dahingehen lassen. Das ist sehr schade, wenn das geschieht,  aber ändern lässt es sich nur durch eine einzige Sache, nämlich dass Individuen dieses Leben beizeiten selbst in die Hand nehmen. Es hilft nichts, wenn man vor dem Tod steht, der Ehefrau oder dem Ehemann den Vorwurf zu machen, dass sie das Leben geraubt hätten, oder der Firma oder dem Staat oder dem System. Denen ist das nämlich vollkommen egal in diesem Fall. Egal ist übertrieben, aber es ist in jedem Fall nicht ihr Tod, sondern immer der eigene Tod, der gestorben wird. Und somit das eigene Leben und nicht das Leben von jemandem anderen.

 

Musik:

 

Zitator:

Niemand wird dir die Jahre zurückholen, niemand wird dich dir noch einmal wiedergeben. Das Leben wird gehen, wie es begonnen hat, und seinen Lauf weder umkehren noch anhalten. Es wird keinen Lärm machen, nicht an seine Geschwindigkeit erinnern: lautlos wird es dahinfließen. (...) Was wird geschehen? Du steckst in Geschäften, das Leben eilt dahin; unterdessen wird der Tod vor dich treten, für den du Zeit haben mußt, ob du willst oder nicht.

 

Sprecherin:

Der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca, von dem die Worte stammen, lebte im ersten Jahrhundert nach Chr.

Seneca gehört zur Schule der jüngeren Stoa, genau wie Epiktet und der römische Kaiser Marc Aurel. Die Anfänge der älteren Stoa datieren um 300 vor Chr. in Athen, es war dieselbe Zeitspanne, in der Epikur seine Philosophieschule des Gartens begründete.

 

Sprecher:

Der Begründer der älteren Stoa  hieß Zenon aus Kition. Nach eigenen Lehrjahren in Athen hatte er begonnen selber Vorlesungen zu halten auf dem Athener Markt in der Stoa Poikile, der Bunten Säulenhalle, von der die neue Richtung ihren Namen erhielt. Wie die Epikureer sahen auch die Stoiker im Glücklichsein das höchste Gut des Lebens. Aber dieses Ziel verfehlen die meisten nach Ansicht der Stoiker. Im Strudel der Affekte und Leidenschaften, der dauernden Gier nach Geld, Macht und Ansehen verliert sich der Mensch an die Betriebsamkeit der Welt. Senecas Beschreibung liest sich wie eine Diagnose der Gegenwart. 

 

Zitator:

Den einen hält unersättliche Habsucht gefangen, den anderen mühevolle Betriebsamkeit in überflüssigen Anstrengungen; der eine trieft vom Wein, der andere ist vor Trägheit starr; den einen zermürbt Ehrgeiz, der immer von fremder Meinung abhängig ist, den andern treibt blindwütige Gier nach Geschäften kreuz und quer durch alle Länder, alle Meere (...) Nie können sie zu sich kommen. Wenn einmal zufällig Ruhe eintritt, wirft es sie noch hin und her, wie auf hoher See, wo auch nach dem Sturm noch Wogen rollen, und niemals lassen ihre Begierden sie in Frieden.

 

Sprecherin:

So heißt es in Senecas Schrift De brevitate vitaeVon der Kürze des Lebens. Doch den Stoikern schien nicht das Leben an sich zu kurz, wohl aber die Weise, in der es vertan wird. Und so lautete ihr scharfes Urteil über jene, die ihre Lebenszeit mit Nebensächlichem vergeuden:

 

Zitator:

Wegen grauer Haare und Runzeln brauchst du nicht zu glauben, einer habe lang gelebt. Er hat nicht lang gelebt, sondern ist lang dagewesen.

 

Sprecher:

Im Gegensatz Epikurs Grundannahme, das höchste Gut bestehe in der Lust, vertreten die Stoiker die  These, die Tugend sei das höchste Gut, nach dem die Menschen streben. Doch was versteht die Antike, was verstehen die Stoiker unter Tugend? Schon das Wort scheint heute nahezu ausgestorben, und wenn wir ihm nochmals begegnen, mutet es altfränkisch an.

 

O-Ton, Katja Vogt:

Der Begriff Tugend ist notorisch schwierig in Bezug auf alle antiken Philosophien, das griechische Wort areté kann man auch als Tüchtigkeit oder Tauglichkeit einer Sache übersetzen, es wird immer wieder erwähnt, dass zum Beispiel auch solche Dinge wie Messer eine Tugend haben können, indem sie nämlich gut schneiden können, also so weit ist eigentlich dieses griechische Wort, das für Tugend steht, ... Es gibt seit Platon die Diskussion wie sich eigentlich die bekannten Kardinaltugenden Klugheit, Besonnenheit, Mäßigung und Gerechtigkeit zueinander verhalten, ob nicht letztlich alle diese Tugenden irgendwie Formen von Klugheit sind, also zum Beispiel Gerechtigkeit die Klugheit ist, die Dinge richtig zu verteilen, oder ob das wirklich genuin verschiedene Charakterhaltungen sind, ausgehend von denen man in verschiedenen Lebensbereichen richtig handelt.

 

Sprecherin:

Tugend ist für die Stoiker ein Bemühen um philosophische Weisheit und um lebenspraktische Klugheit. Mit dieser intellektualistischen Auffassung sind sie Sokrates am nächsten: Tugend ist Wissen. Man kann zum guten Leben, zum Glück nur über eine fundamentale Einsicht gelangen, die Seneca ausspricht.

 

Zitator:

Demgemäß ist ein Leben dann glücklich zu nennen, wenn es sich im Einklang mit der Natur befindet.

 

Sprecher:

Senecas Wort ist doppelt zu lesen. Der Mensch soll mit seiner eigenen Natur im Einklang sein, wie auch mit der gesamten Natur des Kosmos. Beides fällt für den Stoiker ineins. Denn er nimmt an, dass das Universum von einem Vernunftprinzip, vom Logos durchwaltet und geordnet sei. Das griechische Wort Kosmos bedeutet ursprünglich das Wohlgeordnete. Und der Mensch als Vernunftwesen partizipiert an diesem Logos. Je mehr er sich auf seine Vernunftnatur besinnt, desto mehr stimmt er mit dem Kosmos, mit der Natur überein.

 

Sprecherin:

Störend sind jedoch die Affekte und Begierden, die ihn von seiner Bestimmung ablenken. Deshalb verfolgt die stoische Ethik das Ziel, die Leidenschaften, griechisch pathe zu überwinden, um zur Apathia, zur – sprichwörtlichen - stoischen Ruhe und Leidenschaftslosigkeit zu gelangen.

 

Musik

 

Sprecher:

Zwischen Epikureern und Stoikern gibt es auf den ersten Blick eine überraschende Konvergenz in der lebenspraktischen Haltung.  Die epikureische Seelenruhe ataraxia und die Leidenschaftsüberwindung apathia des Stoikers liegen nahe beieinander und scheinen sich zum Verwechseln ähnlich.

Und doch könnten die dahinter stehenden Philosophien in ihrem Weltverständnis nicht gegensätzlicher ausfallen.

 

Sprecherin:

Epikur, als Anhänger des Atomismus, nimmt an, dass die Welt grundlos ist, kontingent wie man in der Gegenwartsphilosophie sagen würde. Die Welt gleicht einem Wirbel von Atomen, den der Zufall regiert. Solche von einander isolierten Atome sind auch die Menschen selbst. Trauen kann der Einzelne allenfalls den sinnlichen Eindrücken, aber die Welt im ganzen verdient Misstrauen. Denn von ihrer blinden Willkür hat der Mensch nichts zu erwarten. Die Kälte und Gleichgültigkeit der Welt ihm gegenüber zahlt der Epikureer ihr mit derselben Münze heim. Im Rückzug aus der Welt findet er Souveränität bei sich selbst in einer inneren Seelenruhe, Geborgenheit vor möglichen Verletzungen und Kränkungen draußen. 

 

Sprecher:

Im Gegensatz dazu spricht aus der stoischen Philosophie ein unbedingtes Weltvertrauen. Zwar geht auch der Stoiker auf Distanz zum Trubel des Lebens. Es lohnt nicht, sein Herz an vergängliche Güter zu hängen, an Reichtum, Macht  oder sozialen Ruf. Es lohnt aber ebensowenig, sich wegen zeitweiliger Übel zu grämen, wenn man unglücklich verliebt, krank oder mittellos ist, - das alles sind nur Oberflächenphänomene. In der Tiefe regiert die Welt ein vernünftiges Prinzip, das alles wohlgeordnet hat.

 

Sprecherin:

Die stoische Philosophie rückt damit in die Nähe des Christentums, auch wenn sie keinen transzendenten personalen Gott annimmt, sondern von einer immanenten Vernunft ausgeht. Für den Stoiker ist der Gang der Geschichte geregelt, das Schicksal bestimmt. Er identifiziert sich mit einem positiven Weltganzen, das verpflichtet den Stoiker zu Toleranz, Kosmopolitismus und caritativer Haltung. Man hat von der Weltfrömmigkeit der Stoa gesprochen, weil sie den Gedanken, man könne ins Geschehen eingreifen, mit den Worten Marc Aurels abweist:

 

Zitator:

"Wenn du einwilligst, führt dich das Schicksal, wenn nicht, zwingt es dich."

 

Sprecher:

Die Lehren der Stoa oder Epikurs wurden von ihren Anhängern nicht bloß als Gedankensysteme behandelt, als reine Weltanschauungen, die man abstrakt übernimmt. Vielmehr waren sie mit einer Vielzahl von asketischen Techniken und Übungen verknüpft: Lebenskunst wurde buchstäblich eingeübt: Unsere christliche Tradition verdeckt allerdings, was die Antike unter Askese verstand, erklärt Christoph Horn, der an der Universität Bonn antike Philosophie lehrt: 

 

O-Ton, Christoph Horn:

Unser neuzeitlicher Askesebegriff ist christlich geprägt, wir denken an die Entsagungsaskese, Verzicht und an Selbstkasteiung oder Selbstbeschränkung. Dieser Askesebegriff ist nicht der, der in der griechischen Philosophie seit dem fünften Jahrhundert prominent geworden ist. Der Ausdruck  askesis heißt dort tatsächlich Übung und nicht Entsagung oder Verzicht. Gemeint sind körperliche, aber vor allem psychische und geistige Übungen, mit denen jemand ein Lebensziel, das er gemäß seiner philosophischen Position als erstrebenswert identifiziert hat, zu erreichen versucht, anders gesagt: diese asketischen Übungen zielen auf eine Transformation der Persönlichkeit, auf die Therapie von falschen Lebenseinstellungen, insbesondere auf ein Freiwerden von destruktiven Affekten, destruktiven Neigungen, ein Freiwerden von einem steten Mehr-haben-wollen, Pleonexia, Drängen nach immer mehr Besitz, und diese Übungen .... waren von einem großen Variantenreichtum, es war eine ganze Palette unterschiedlicher Techniken, dazu gehörte etwa das Memorieren von zentralen Einsichten, dann gehörte das Tagebuchführen dazu, sich schriftlich auseinanderzusetzen mit den jeweiligen Lehrüberzeugungen, denen man sich verpflichtet fühlte.

 

Sprecherin:

Marc Aurel empfiehlt zum Beispiel als eine geistige Übung, sich die Alltagsrealität, wie von einer Anhöhe aus zu betrachten. Ebenfalls soll man sich vergegenwärtigen, welche Lebensformen früher existiert hätten, welche künftig gelten könnten und welche unter fremden Völkern vorkämen. – Der Zweck von Marc Aurels Übung leuchtet unmittelbar ein. Es gilt den eigenen Standpunkt zu relativieren, die Dinge einmal von anderer Seite zu betrachten, um an Problembewusstsein, Urteilskraft und Toleranz zu gewinnen.

 

Sprecher:

Eine andere Übung trainiert die Antizipation künftigen Übels. Hier geht es darum, eine bevorstehende schwierige Situation in der Phantasie vorwegzunehmen und die möglichen besseren und schlechteren Verläufe durchzuspielen, um sich dergestalt innerlich zu wappnen. Nehmen die Ereignisse einen schlimmen Verlauf, so trifft das die Psyche nicht mehr unvorbereitet.

 

Sprecherin:

Philosophische Lebenskunst übernahm in der Antike eine  Reihe von Funktionen und Aufgaben, die später in die kirchliche Seelsorge, heute vor allem in die Psychotherapie und in die psychologische Beratung gewandert sind. In der antiken Philosophie hieß dieses ethische Konzept Selbstsorge oder Sorge um sich. 

 

O-Ton, Wilhelm Schmid:

Die Sorge ist immer das Zentrum von Lebenskunst, von einer als Lebenskunst verstandenen Ethik - das muß heute bei der Neubegründung genauso sein wie in der Antike. Sokrates war übrigens der Erfinder der Selbstsorge, ... die vollkommen missverstanden wird, wenn man sie wörtlich nimmt, eine Sorge nur für sich selbst, denn schon damals sagten die Philosophen, dass die Sorge für sich selbst sinnvollerweise zugleich eine Sorge für andere und für die Gesellschaft ist. Denn es gibt kein Leben nur für sich selbst, sondern immer nur in diesem Umfeld, in diesem Rahmen, den man versuchen sollte, mitzugestalten. Aber dieses Zentrum der Sorge ist unabdingbar, man muss heute vielleicht nur im Unterschied zur Antike hinzufügen, die Sorge allein kann es nicht sein, ... Sorge allein ist anstrengend, das lässt sich nicht umstandslos durchhalten. Die Sorge wäre klug beraten, immer wieder abzuwechseln mit Zeiten der Lüste und des Genießens, das Genießen ist per se die Zeit, in der wir uns nicht sorgen, in der die Sorge sich erholen kann, so wie umgekehrt in Zeiten der Sorge, die Lüste sich erholen können, denn die können auch nicht unentwegt anhalten, sondern brauchen Erholung.

 

Musik

 

Sprecher:

Die Idee der Selbstsorge war nicht gänzlich aus der Philosophie verschwunden. Heidegger definierte in einem umfassenden Sinn das menschliche Dasein als Sorge. Aber erst der 1984 verstorbene französische Philosoph Michel Foucault brachte das Konzept der Selbstsorge zurück in die Ethik-Diskussion. Von ihm hatte man es am allerwenigsten erwartet. Denn Foucault hatte in den sechziger Jahren provozierend vom ‚Tod des Menschen’ gesprochen – d.h. vom Ende des Subjekts, der Rationalität und des Humanismus. In seinem Spätwerk, in den Bänden Sexualität und Wahrheit, beschäftigte er sich mit der Antike und verblüffte mit folgender These:

 

Sprecherin:

Die Persönlichkeit habe sich in der Antike weniger repressiv modellieren und selbst gestalten können als im Mittelalter und in der Neuzeit. Während in der Neuzeit das Individuum von großen Herrschaftsinstanzen zugerichtet wurde, von der Kirche, dem Staat, der Armee, der Fabrik - habe der antike Mensch einen offenen Raum vorgefunden, wo er mit Hilfe von geistigen Übungen, Praktiken und Lebensregeln sein Selbst ausformen konnte. Foucault suchte seine Behauptung mit Beispielen antiker Lebensthemen wie  Freundschaft, Erotik, Genuss und Verhältnis zum Sterben zu belegen.

 

Sprecher:

Foucaults Sicht ist nicht unumstritten. Insbesondere ist es wichtig, sich die soziologischen Dimensionen im Blick zu behalten. Welchen sozialen Milieus standen in der Antike überhaupt Freiräume offen?

Und welchen Einfluß hatten die Religionen? 

 

O-Ton, Christoph Horn:

In der Antike hatten die Philosophenschulen durchweg einen elitären Charakter. Sie waren nie Massenbewegungen mit Ausnahme einer bestimmten populär gewordenen neuplatonischen Bewegung in der Spätantike, die dann schon mit den vorderasiatischen Offenbarungsreligionen konkurrierte und mit dem Christentum konkurrierte. ... anders diese Philosophenschulen in der klassischen und in der hellenistischen Zeit. Sie waren elitär, sie wandten sich an die Oberschicht, sie wandten sich nicht eigentlich an ein Erlösungsbedürfnis, dass ist nicht eigentlich die Pointe, ... sondern die Interessenlage für jemanden der sich dort einer Philosophenschule zuwendet, ist die Selbstkonstitution, nicht die Erlösung, nicht die Spiritualität.

 

Musik

 

Sprecher:

Es gab eine dritte bedeutende Schulrichtung in der hellenistischen Zeit. Die Skeptiker, wie sie der Sextus Empiricus vorstellt:

 

Zitator:

Die skeptische Schule wird auch die »suchende« genannt nach ihrer Tätigkeit im Suchen und Spähen. Sie heißt auch die »zurückhaltende« nach dem Erlebnis, das der Spähende nach der Suche an sich erfährt.

 

Sprecher:

Die ältere Schule der Skepsis, gegründet von Pyrrhon aus Elis, teilt die ethische Grundannahme der anderen hellenistischen Schulen: Die Menschen streben nach dem Glück, dem guten Leben. Weiterhin teilen die Skeptiker die Überzeugung, dass zum glücklichen Leben die Seelenruhe gehört. Nur befürchten die Skeptiker, dass gerade die Festlegung auf eine philosophische Antwort, sei sie epikureisch: Glück ist Lust, sei sie stoisch: Glück ist Tugend – den Menschen in die Irre führt und unglücklich macht. Deshalb gilt es sich vor solch einer dogmatischen Einseitigkeit zu hüten. Die Skeptiker konfrontieren deshalb Pro und Kontra einer Position, Argumente und Einwände miteinander, und gelangen zu einer entscheidenden Erfahrung, wie Katja Vogt erläutert:

 

O-Ton, Katja Vogt:

Nun sagen die Skeptiker, sie hätten die Erfahrung gemacht, dass wenn man all diese Thesen und Gegenthesen und Gegenargumentationen einander so gegenüberstellt, dass sich eine Art von Gleichgewicht für die verschiedenen Seiten einer Sache ergibt, und dass sich dann wie durch ein Wunder gewissermaßen die Seelenruhe einstellt, begriffen als Urteilsenthaltung. Man merkt sozusagen, es spricht für alles gleich viel, also ist die einzig vernünftige Haltung nicht zu urteilen, sich nicht der einen oder anderen Position zu verschreiben. Plötzlich stellt man fest, dass diese Urteilsenthaltung gewissermaßen die Lösung ist, denn jetzt ist man innerlich ruhig, und das beschreiben die Skeptiker als eine Erfahrung, die sie gemacht hätten, denn sie können es gewissermaßen nicht als Theorie oder dogmatische These vertreten, das wäre ja dann unskeptisch, denn sie enthalten sich ja dieser Art von Urteilen.

 

Sprecherin:

Heute begegnet man einem vermeintlichen Skeptizismus, der sich von vornherein auf den Standpunkt zurückzieht: alles sei relativ, man könne nichts wirklich erkennen, bewerten oder entscheiden. Eine Attitüde, die sich gar nicht erst auf die widerstreitenden Positionen einlässt, geschweige denn sie durchdenkt. Im Grunde ist dies keine skeptische, sondern eine dogmatische Haltung, eine äußerst denkfaule zudem. Die phyrronische Skepsis der Antike war nicht von dieser Art. Sie fand die Balance der Seelenruhe nur auf eine paradoxe Weise, indem sie die Standpunkte immer wieder überprüfte, d.h. fortfuhr zu philosophieren.

 

Musik:

 

Sprecher:

Unter Studenten heute ist das Interesse an antiker Philosophie wieder gewachsen. Gleichzeitig hat jedoch ihre Kenntnis alter Sprachen abgenommen. In angelsächsischen Ländern hat man schon vor längerer Zeit auf diesen Missstand reagiert und die altphilologischen Institute, wo die Sprachen gelehrt werden, stärker mit den philosophischen Instituten vernetzt. In Deutschland sind ähnliche Maßnahmen überfällig. Im Oktober wurde in München eine Gesellschaft für antike Philosophie gegründet. Ihr Vorsitzender ist der Philosoph Christof Rapp, der an der Berliner Humboldt-Universität antike Philosophie lehrt. Zum Vorstand gehören auch Christoph Horn und Katja Vogt: 

 

O-Ton, Katja Vogt:

Die Gesellschaft für antike Philosophie, abgekürzt GanPH, wurde ... in München gegründet, und ihre Ziele sind im wesentlichen, in Deutschland eine Stimme für die antike Philosophie zu schaffen.

Es gibt im Ausland verschiedene Gesellschaften dieser Art, die sich dafür einsetzen, dass an Universitäten weiterhin die antike Philosophie unterrichtet wird, dass man sich auch um den Dialog mit Lehrern an den Schulen bemüht, die alte Sprachen unterrichten, die vielleicht auch im Ethikunterricht gerne zur Antike ihren Unterricht gestalten möchten.

In Deutschland hat eine solche Einrichtung bis heute gefehlt. Da man sich schon bemühen muss, nicht nur als einzelner zu sprechen, sondern auch eine Interessenvertretung zu haben gegenüber Stiftungen, gegenüber wissenschaftlichen Förderinstitutionen in Deutschland und auch gegenüber der Politik, um dieses Interesse, die Beschäftigung mit der Antike nicht absterben zu lassen, stark zu machen und in der Öffentlichkeit zu artikulieren.

 

Sprecherin:

Natürlich ist eine wissenschaftliche Erforschung der antiken Philosophie unabdingbar. Aber kann eine Beschäftigung mit ihr über den akademisch-historischen Rahmen hinaus für die Gegenwart nutzbringend sein? Ist die Antike nicht so fern und anders geartet in ihrem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang, dass die philosophischen Gedanken von Epikur, Seneca, Marc Aurel höchstens eine schöne Sammlung von Lebensweisheiten abgeben?

Oder kann man an ihre Konzeptionen der Lebenskunst noch anschließen? Wilhelm Schmid bejaht dies, macht aber auf gewichtige Unterschiede aufmerksam zwischen einem antiken und einem neuformulierten Lebenskunstmodell, wie es ihm vorschwebt.

 

O-Ton, Wilhelm Schmid:

Der ganz große Unterschied ist, dass eine Lebenskunst heute den Namen nicht verdient, wenn sie nicht auch eine ökologische Lebenskunst ist. Dieses Problem kannten frühere Zeiten nicht in dem Maße, wie wir das kennen. Dass es zu einer Frage der menschlichen Existenz geworden ist, ob wir ökologisch handeln und damit ökologische Ressourcen wahren oder sie ruinieren, und damit auch unsere eigene Existenz ruinieren. Und wenn mich nicht alles täuscht, hat dieses Problem einen Zeithorizont von nur noch ein paar Jahrzehnten. So dass wir gut daran tun, unser Leben so einzurichten, dass wir uns auf Schritt und Tritt fragen, ob das was wir tun ökologische Konsequenzen hat oder nicht.

 

Sprecher:

Die antike Ethik und Konzepte der Lebensführung mussten sich nicht um eine Erhaltung der Natur kümmern.  Die Natur sorgte für sich selbst; sie war ohnedies viel mächtiger als der Mensch, und es war im Gegenteil bitter nötig, alle Klugheit und die begrenzten technischen Mittel zusammenzunehmen, um ihren Ge­walten menschliche Lebensmöglichkeiten abzutrotzen.

 

Sprecherin:

Neben der ökologischen Korrektur muss eine moderne Philosophie der Lebenskunst auch die Definition des guten Lebens offen lassen. Anders als Epikur oder die Stoa kann heute kein Philosoph über die Köpfe hinweg bestimmen, was das gute Leben sei, nach dem alle zu streben hätten. Das fällt in einer pluralistischen Demokratie unter die Selbstbestimmung des Einzelnen. Aber warum sollte die Philosophie die Antwortsuchenden allein den Angeboten der Psychotherapie, der Religion oder dubioser Sekten überlassen, und nicht auch selbst Verantwortung in Form von Beratung übernehmen? Das ist in den letzten Jahren in Gestalt der so genannten Philosophischen Praxen mit mäßigem Erfolg versucht worden.

 

Sprecher:

Wilhelm Schmid schlägt einen existentiellen Imperativ der Lebenskunst vor:

‚Gestalte Dein Leben so, dass es bejahenswert ist.’

Was aber heißt bejahenswert? Welche Kriterien sollen darüber entscheiden? Kann ich nicht eine Lebensweise bejahen, weil sie mir gefällt, auch wenn sie schlecht ist, für mich oder für andere. D.h. wandert die Lebensführung von einer ethischen auf ein rein ästhetische Ebene?

 

Sprecherin:

Gegen den Einwand, dass ethische Fragen ins Beliebige abdriften könnten, führt Wilhelm Schmid sein Beispiel ins Feld:

 

O-Ton, Wilhelm Schmid:

Ich arbeite regelmäßig in einem Krankenhaus, dazu kann mich niemand nötigen, das ist meine eigene freie Entscheidung. So etwas zu machen, aber ich möchte den Menschen gerne nahe sein an dem Punkt, wo es ihnen wehtut, und ich möchte aus meinem Leben diese Seiten der Existenz nicht verbannt haben, und ich fahre seit fünft Jahren regelmäßig zur Gastdozentur nach Georgien, das ist ein Land wo 60% Arbeitslosigkeit herrscht, vor kurzem hat das deutsche Außenministerium vor Reisen nach Georgien gewarnt, weil die Kriminalitätsrate immer größer wird, das ist mein glückliches Leben und meine schöne Existenz.

... Ich glaube, dass man die Lebenskunst missversteht, wenn man glaubt, sie bestünde darin, sich das Leben leicht zu machen, unter philosophischem Aspekt ist das pure Gegenteil wahr: sie besteht natürlich darin, sich das Leben schwer zu machen. Denn nur in der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten kann man wachsen und reifen. Und nur dann kann man vielleicht auch das Gefühl haben, ein sinnvolles Leben zu führen, wenn man nicht nur ein Leben für sich allein führt, sondern auch versucht, für andere dazusein.

 

Sprecherin:

Mit Absicht und ohne Not das schwerste Leben zu wählen, ist ein Heroismus der Existenz wie ihn Nietzsche sich auferlegt und darunter gelitten hat, vielleicht sogar daran zerbrochen ist. Aber als Kontrapunkt zur herrschenden Konsumideologie des Easy-living scheint Schmids Plädoyer für die Schwere im Leben sinnvoll. Die Antike kannte und schätzte beide Seiten des Lebens - diejenige, wo das Leben leicht und heiter ist wie ein Spiel; und jene andere, wo es ernst wird und eine schwere Bürde.

 

Zitator:

Wir sind nur ein einziges Mal geboren; zweimal geboren zu werden ist nicht möglich. Eine ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein dürfen. Und da schiebst du das, was Freude macht, auf, obwohl Du nicht einmal Herr bist über das Morgen? Über dem Aufschieben schwindet das Leben dahin und so manch einer stirbt, ohne sich jemals Muße gegönnt zu haben.

 

Musik: