Zitator:
Wer jung
ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde
werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu
spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern. ... Daher soll der Jüngling
und der Greis philosophieren, der eine, damit er im Alter noch jung bleibe an
Gütern durch die Freude am Vergangenen, der andere, damit er gleichzeitig jung
und alt sei durch die Furchtlosigkeit vor dem Künftigen. Wir müssen uns also
kümmern um das, was die Glückseligkeit schafft: wenn sie da ist, so besitzen
wir alles, wenn sie aber nicht da ist, dann tun wir alles, um sie zu erringen.
Sprecherin:
Mit diesen
Worten ermahnt Epikur seinen Schüler Menoikeus zu philosophieren. Ein
Philosophieren nicht jedoch als spekulativer Selbstzweck, sondern um auf diesem
Wege das gute Leben zu finden - oder wie es in der Antike heißt: die
eudaimonia, die Glückseligkeit.
Sprecher:
Ein solches
Philosophieren, dass die Menschen in ihrer Lebensführung klüger machen will,
hat Sokrates vorgeführt. Auf dem antiken Markplatz, der agora, in den Straßen
und Häusern Athens hat er jung und alt, Laien und Fachleute in Diskussionen
verwickelt über moralpraktische Fragen aller Art: Was ist Tapferkeit? Was ist
Tugend? Was ist Frömmigkeit? Und was Besonnenheit?
Sprecherin:
Sokrates
führt seine Gesprächspartner, wie es zum Beispiel im Dialog Laches geschildert
wird, so lange herum, bis sie eingestehen müssen, dass sie nichts wissen, dass
ihre Ansichten der gemeinsamen Prüfung nicht standhalten. Doch Sokrates’
Einsicht ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß’ war nicht selbstgerecht, sondern von
dem Willen beseelt, im Dialog Aufklärung zu erreichen und gemeinsam in der
Erkenntnis voranzukommen. Denn Wissen und Tugend betrachtete er als Einheit.
Sprecher:
Diese
lebenspraktische Orientierung scheint der Philosophie in der Gegenwart gänzlich
abhanden gekommen. Nicht nur in der Universität, auch in der Öffentlichkeit
wird Philosophie einseitig mit theoretischer Abstraktion und
Philosophiegeschichte gleichgesetzt, mit
einem Fundus schwieriger Systeme, unverständlicher Begriffe und einer Sammlung
von Aussagen über die Welt. Natürlich gehört auch das zur Philosophie. Adorno
sagte, sie sei ein Fach und ein Nichtfach zugleich.
Sprecherin:
Ein Fach,
insofern sie ebenso wie andere Disziplinen ihre eigene Terminologie, ihre
Methoden, ihre Geschichte hervorgebracht hat; aber auch ein Nichtfach, insofern
sie die Grenzen einer Disziplin übersteigt und kein abfragbares totes Wissen,
sondern ein lebendiges Denken darstellt, das nicht zuletzt helfen soll das
Leben zu meistern.
Und gerade
in dieser Hinsicht sei ein Blick auf die Antike erhellend, meint Christoph
Horn, der an der Universität Bonn antike Philosophie lehrt:
O-Ton, Christoph Horn:
In der Tat
gehört es zu den Thesen, die unter Philosophiehistorikern heftig diskutiert
werden, ob die antike Philosophie, sei es zum größeren Teil, sei es insgesamt,
eine therapeutische oder konsiliatorische – d.h. beratende – Ausrichtung hat.
... Ich bin der Frage selbst einmal nachgegangen, nach meinem Eindruck ist die
These leicht überpointiert, hat aber einen beträchtlichen Wahrheitswert. Es
scheint in der Tat so zu sein, dass wenigstens beginnend mit Sokrates, also in
der klassischen Epoche der griechischen Philosophie, die Frage nach der
Lebensführung, nach dem gelingenden, nach dem guten Leben, maßgeblich für die
philosophischen Bemühungen insgesamt gewesen sind.
Sprecher:
Sprecherin:
Sprecher:
Dagegen
erinnern verschiedene Denker an die antike Auffassung einer philosophischen
Lebenskunst und versuchen deren Konzept, zum Teil gegen den Widerstand der
akademischen Tradition, neu zu formulieren. Besonders exponiert tut dies der
Berliner Philosoph Wilhelm Schmid: Philosophie
der Lebenskunst heißt eines von Wilhelm Schmids Büchern, ein anderes trägt
den provozierend-verlockenden Titel Schönes Leben.
O-Ton, Wilhelm Schmid:
Die
Philosophie ist selbst schuld, dass die Lebenskunst so verkommen ist, denn es
sind die Philosophen gewesen, die sie seit annähernd zweihundert Jahren haben
brachliegen lassen. Es war ursprünglich eins der großen Themen der Philosophie
und das ist es auch geblieben, bis ungefähr 1800, 1805. Wenn also heute neu von
Lebenskunst in der Philosophie die Rede sein soll, dann nicht wie von Lifestyle
und Identitätsdesign die Rede ist, sondern Philosophie meint hier, wie immer
ein Innehalten und Nachdenken. Und das Nachdenken geht hier auf die Fragen des
Lebens, auf die Grundlagen des Lebens, die Möglichkeiten des Lebens, die
Rahmenbedingungen, und ich denke, da kann Philosophie ein bisschen Lebenshilfe
leisten in dem Bereich. Nicht indem der Philosoph sagt: ‚Das haben Sie zu tun!
So hat man zu leben, das ist das richtige Leben!’ - sondern indem er hilft, die
Lebensgrundlagen zu klären und Lebensmöglichkeiten zu finden.
Musik:
Sprecherin:
Die Frage
wie man sein Leben gestalten und führen kann, das Thema der Lebenskunst gehört
in den weiteren Bereich der Ethik. Die Ethik handelt umfassend davon, an
welchen Normen und Werten sich menschliches Handeln orientieren soll, welche
Ziele, aber auch Grenzen es sich dabei setzen will. Ethische Fragen haben
gegenwärtig Konjunktur. Das hängt offensichtlich mit der Gefährdung des Lebens
durch menschliches Handeln zusammen: Naturzerstörung und gentechnologische
Manipulation lauten die Stichworte.
Sprecher:
Noch eine
weitere Problematik prägt den Hintergrund der ethischen Diskussion im Hinblick
auf das Thema Lebenskunst: die Menschen müssen verkraften, dass die sozialen
Utopien verblasst sind. Nach dem Untergang des Sozialismus präsentiert sich die
herrschende Gesellschaft ohne ernstzunehmendes Alternativmodell. In der Frage,
wie man leben soll und will, erfährt sich der Einzelne verstärkt auf sich
selbst zurückgeworfen, durchaus mit beträchtlichen Freiräumen, aber ohne
Orientierungshilfe.
Sprecherin:
In dieser
Hinsicht gibt es gewisse Parallelen zur Situation in der Antike, als sich im
vierten Jahrhundert die philosophische Disziplin der Ethik herausbildete.
Platon und Aristoteles philosophierten damals vor dem Hintergrund einer
niedergehenden Polis. Platon liefert in seiner Schrift politeia eine
restriktive Ethik im Rahmen eines starren Gemeinwesens mit totalitären Zügen.
In seinem Staatsmodell sind die Bürger hierarchisch in Lehrstand, Wehrstand und
Nährstand gegliedert, und jedem ist sein Verhalten genauestens vorgeschrieben,
individuellen Freiraum gibt es darin nicht. Platon schuf eine Ordnungs- und
keine Freiheitsutopie.
Sprecher:
Aristoteles
hingegen begann in seiner praktischen Philosophie zwischen Ethik und Staat,
zwischen Lebensführung und politischer Verfassung zu differenzieren.
In der Ethik
ging Aristoteles davon aus, dass alles menschliche Tun und Leben nach Glück
strebt, nach Eudaimonia. Eudaimonia
bedeutet wörtlich „von einem guten Geist geleitet zu sein“ d.h. von einer
inneren vernünftigen Stimme, die - wie Aristoteles meint - dem Menschen in
seinem Verhalten Maß und Mitte gibt. Wilhelm Schmid:
O-Ton, Wilhelm Schmid:
Die Idee des
glücklichen Lebens findet man bei Aristoteles sehr stark ausgearbeitet in
seinem Buch Nikomachische Ethik, das war die Begründung der Ethik überhaupt. Es
ist nicht ganz angemessen, heute von Ethik zu sprechen und nur die reine
Sollensethik zu meinen, denn schon der Begründer der Ethik, Aristoteles, hat
unter Ethik noch ein paar andere Dinge verstanden, als wir heute unter unserer
Sollensethik: Aristoteles spricht in der Nikomachischen Ethik in zwei von zehn
Kapiteln nur über die Freundschaft, in weiteren zwei Kapiteln nur über die
Lust, in einem weiteren Kapitel nur über die Großzügigkeit, in einem weiten
Kapitel nur über die Klugheit – alles Themen, die Sie in heutiger Ethik
vergebens suchen.
Der Zustand
lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, denn natürlich sind das zentrale Fragen
menschlichen Lebens, wie gehe ich mit der Lust um? Wie gewinne ich Freunde? Was
ist die Voraussetzung für Freundschaft auf meiner Seite? Was kann ich dafür
tun? Was ist eine Klugheit, von Vernunft gar nicht zu sprechen: Klugheit – ein
Vermögen, das zwischen Gefühlen und Verstand angesiedelt ist. All das sind
Dinge, die für eine Ethik unverzichtbar sind, und wo wir gut daran tun, die
wieder zurückzuholen.
Sprecherin:
Klugheit in
Fragen der Lebenskunst war Immanuel Kant suspekt: er argwöhnte, dass diese
Klugheit sich in den Dienst des Egoismus
stelle. Kant schrieb deshalb gegen die Antike gewandt „das Prinzip der eigenen
Glückseligkeit“ sei in der Ethik „am meisten verwerflich“.
Sprecher:
Im Gegenzug
kritisieren heute andere an Kant, dass seine Ethik selber Schlagseite habe.
Denn einseitig thematisiere die moderne Ethik moralische Normen und deren
Begründung, d. h. sie ist an der Frage ausgerichtet. Was sollen wir tun?
– Dagegen fragt die antike Ethik: Wie wollen wir leben? Anders gesagt:
Wonach strebt der Mensch, was dünkt ihm ein guter Zustand?
Sprecherin:
Die Antike
entwickelt dergestalt eine Strebensethik; die Moderne hingegen eine
Pflichtethik. Kritiker argumentieren heute, die moderne Ethik entspringe der
jüdisch-christlichen Tradition, deren starker Gebotscharakter sich
säkularisiert in Kants Pflichtethik wiederfinde.
Ein Blick
auf die Antike kann also die Gegenwart bereichern, allerdings gilt es den
Begriff Glück genauer zu reflektieren, erklärt Christoph Horn.
O-Ton, Christoph Horn:
In dem
Zusammenhang muss man darauf hinweisen, dass der Glücksbegriff in der Antike
ein deutlich anderer ist als jener, den wir seit der frühen Neuzeit in der
allgemeinen Philosophietradition, auch im allgemeinen Bewusstsein vor Augen
haben. Der eudaimonia-, Glücks- oder beatitudo-Begriff ist der des so genannten
Erfüllungsglücks, nicht der des Empfindungsglücks. Unter Erfüllungsglück ist zu
verstehen, die Vorstellung eines insgesamt gelungenen wohlgeratenen,
beneidenswerten, geglückten Lebens; während wir unter Glück in der Neuzeit und
in der Gegenwart in aller Regel den Enthusiasmus, die aufgekratzte Stimmung,
das Hochgefühl verstehen, das sich an eine bestandene Prüfung anschließt, das
einen besonderen Erfolg begleitet, das man empfindet, wenn einem etwas ganz
besonders gelungen ist. –natürlich muss man beim Glücksbegriff der Antike erst
recht darauf verzichten, daran zu denken, dass Glück im Deutschen ja auch
Erfolg bedeutet, also das gute Gelingen, das zufällige Gelingen, dieses Glück
haben ist damit überhaupt nicht gemeint, sondern glücklich sein.
Sprecher:
Die antike
Vorstellung von Glück ist also nicht an den Augenblick gebunden, sondern
meint Lebensglück oder gutes Leben. „Glückseligkeit ist der Wohlfluss des
Lebens“, definierte Zenon, der Begründer der stoischen Philosophie. Für die
Antike bedeutete Lebensglück und Gutes Leben dasselbe. Und dabei sollte dem
Denken eine Führungsrolle zufallen, man soll das eigene Leben reflektieren und
bewusst lenken, anstatt sich blind dahintreiben zu lassen.
Dabei sei
der Erfolg jedoch kein Kriterium, ja ein gutes Leben ist auch nicht mit einem
gelingenden Leben gleichzusetzen, so radikalisiert Wilhelm Schmid sein eigenes
Konzept der Lebenskunst.
O-Ton, Wilhelm Schmid:
Daran liegt
mir sehr, das Missverständnis auszuschließen, dass es hier um das gelingende
Leben geht, Ich glaube, das ist zu anspruchsvoll und liegt auch nicht auf der
Linie dessen, worum es meiner Sicht der Dinge nach gehen kann im Leben. Ein
gelingendes Leben heißt sich festzulegen auf das Gelingen. Jedem, dem schon
etwas misslungen ist, weiß, dass das vielleicht die viel wertvollere Erfahrung
ist. Es hat also keinen Sinn, das Leben festzulegen auf das Gelingen, natürlich
auch nicht auf das Misslingen, sondern sich sinnvollerweise vorzustellen,
beides kann geschehen: es kann gelingen, es kann misslingen, auch wenn es
misslingt, wird es eine Erfahrung sein, die mich reifen lässt und die mich
möglicherweise in engerer Verbindung zum Leben hält als das Gelingen, das uns
leichtsinnig macht und uns dem Leben eher entfremdet.
Musik:
Sprecherin:
Die antiken
Philosophen waren sich einig, dass der Mensch nach Glück bzw dem gutem Leben
strebe, aber was unter diesem Ziel inhaltlich zu verstehen sei, darüber gingen
die Ansichten der verschiedenen philosophischen Schulen auseinander.
Die wohl bis
heute populärste Ausdeutung von Glück hat der hellenistische Philosoph Epikur
gegeben, so Katja Vogt, die an der Berliner Humboldt-Universität antike
Philosophie lehrt:
O-Ton, Katja
Vogt:
Die berühmte
These von Epikur zu dieser Frage lautet, dass das Glück in der Lust besteht. Die Lust sei Anfang und Ziel
(telos) – und das soll heißen, dass wir von Anfang an, wenn wir handeln, Lust
verfolgen und auch als letztes Ziel dieser kleinen Einzelziele von Handlungen,
die Lust hinter allem steht, als unser letztes Ziel. Indem ein Zustand an Lust
dasjenige sein soll, was wir alle erstreben, nämlich der Zustand des Glücks,
der eudaimonia, man kann auch sagen des guten Lebens ... Und diese These von
Epikur, dass das Glück in der Lust bestehe, ist eine These, die in der Antike
seit Platon, vielleicht auch noch früher, diskutiert worden ist, weil sie
sozusagen ernstnimmt, dass viele Menschen, auch heute, sicherlich so handeln,
dass sie Lust verfolgen. Und da lohnt es sich natürlich zu fragen, ob das die
richtige Lebensweise ist und die Lebensweise, die uns wirklich zu dem führt,
wonach wir streben, nämlich dass es uns wirklich gut geht.
Sprecher:
Epikur, ein
philosophischer Autodidakt, der aus Samos stammte, kaufte sich 306 vor Chr. in
Athen einen Garten, wo er sich mit Schülern und Freunden zusammenkam. Lathe
biosas – Lebe im Verborgenen – war sein Wahlspruch. Er pries den Rückzug von
der Politik ins Private, in den Freundeskreis, zu einer Zeit, wo die
Diadochenreiche nach dem Tod Alexander des Großen längst über die griechischen
Poleis triumphiert hatten.
Sprecherin:
Bis heute
ist Epikur der bekannteste und zugleich verkannteste Philosoph der Lebenskunst.
Schon zu Lebzeiten überzogen ihn andere mit üblen Nachreden vor allem Gegner
aus dem Lager der Stoa. Alles mögliche wurde ihm angedichtet: Epikur erbreche
sich zweimal am Tag, um weiter essen zu können, erzählte Timokrates. Und
Posidonios behauptete, Epikur habe seinen Bruder zur Prostitution verleitet.
Die Liste der Diffamierungen nahm kein Ende und lieferte ein Zerrbild Epikurs
und seiner Lehre, das durch Zeiten und Epochen hindurch bis in die Gegenwart
hartnäckig fortbesteht:
Sprecher:
Der Epikureer – so das Klischee – sei
genusssüchtig, ein Lustmolch, stets auf der Sonnenseite des Lebens, nur das
Feinste sei ihm gut genug ist und kein Vergnügen lasse er sich entgehen nach
den Motto: ‚Morgen sind wir alle tot.’ Vom Ernst des Lebens mag er nichts
hören, das Nachdenken fände er zu beschwerlich – kurzum: Epikur sei ein Ahnherr
der postmodernen Spaßgesellschaft.
Den
Missverständnissen und Verleumdungen seiner Lehre ist Epikur selbst mit sehr
klaren Aussagen begegnet:
Zitator:
Wenn wir
also sagen, daß die Lust das Lebensziel sei, so meinen wir nicht die Lüste der
Wüstlinge und das bloße Genießen, wie einige aus Unkenntnis und weil sie mit
uns nicht übereinstimmen oder weil sie uns missverstehen, meinen, sondern wir
verstehen darunter, weder Schmerz im Körper noch Beunruhigung in der Seele zu
empfinden. Denn nicht Trinkgelage und ununterbrochenes Schwärmen und nicht
Genuß von Knaben und Frauen und von Fischen und allem anderen, was ein
reichbesetzter Tisch bietet, erzeugt das lustvolle Leben, sondern die nüchterne
Überlegung, die die Ursachen für alles Wählen und Meiden erforscht und die
leeren Meinungen austreibt, aus denen die schlimmste Verwirrung der Seele
entsteht.
Musik:
Sprecherin:
Epikur hat
die Lust, das höchste Gut, auf einer zweiten Stufe definiert: Lust sei in
letzter Instanz Vermeidung von Unlust, ein Freisein von Schmerz. Er hat also
sein Lustprinzip in einer sehr lebensklugen Weise ausgelegt, die nicht auf den
Rausch des Augenblicks abhebt, sondern langfristig auf eine positive
Lustökonomie bedacht ist. Katja Vogt:
O-Ton, Katja
Vogt:
Epikur
sagt, berühmtermaßen: wenn man Durst hat und ihn stillt, so sei es egal, es sei
die gleiche Lust, ob man diesen mit Brackwasser stillt oder mit gutem Wasser.
Da entscheidet einfach nur die Aufhebung des Unlust- oder Schmerzzustandes, der
nämlich Durst ist, und wenn der so oder so behoben ist, empfinde man dieselbe
Lust. Wenn man diese Art von Thesen, jede Lust ist gleich, oder egal wie Unlust
behoben wird, es entsteht die gleiche Lust, es gibt nicht intensivere oder
weniger intensivere Lust sich vor Augen führt, dann sieht man, worauf das Ganze
zielt. Es zielt darauf ab zu sagen, Lust ist verfügbar, Brackwasser mindestens
haben wir immer, und insofern ist Lust nichts, wonach wir immer qualvoll
streben und sie dennoch nicht erreichen, sondern sie ist durchaus erreichbar,
und insofern auch ein gutes Lebenskonzept. Denn wir uns etwas Erreichbares zum
Ziel setzen, dann haben wir uns die richtige Sache herausgesucht, denn dann
wissen wir, wie wir es machen, damit wir glücklich sein können.
Sprecher:
Epikur
lehrt also nicht den hemmungslosen Genuß, sondern einen klugen Umgang mit den
eigenen Lustmöglichkeiten. Dazu gehört Selbstgenügsamkeit, nicht um des
Verzichts willen, sondern um sich nicht von schwer erreichbaren Dingen abhängig
zu machen. Autarkie ist der andere Name dieser Selbstgenügsamkeit. Die
Vermeidung von Unlust soll uns helfen, einen inneren Gleichmut zu finden und zu
bewahren, die Seelenruhe, ataraxia wie Epikur es nannte.
Sprecherin:
Von zwei Seiten sah Epikur die angestrebte Seelenruhe
gefährdet, zum einen durch die die Angst vor göttlicher Strafe, zum anderen
durch die Todesfurcht. Von den Göttern entwarf Epikur deshalb ein
angstentlastetes Bild. Er zeichnete sie als heitere weltabgewandte Wesen, die
ihr unsterbliches Leben genießen. Im Grunde sind die Götter schon im Zustand
jener Eudaimonia, jenes glücklichen Lebens, das die Menschen erst noch
anstreben.
Sprecher:
Das andere schwerwiegende Übel ist die Todesfurcht. Als
permanente Beunruhigung, als Horror vacui steht sie ins Leben hinein und droht
gleichfalls das psychische Gleichgewicht zu zersetzen. Epikur begegnet dem
Problem der Todesfurcht als strenger
Sensualist, der von der Sinneserfahrung ausgeht: Was man nicht mit den Sinnen
wahrnimmt, hat keine Wirklichkeit. Auf diese Weise sucht Epikur die Todesangst
zu bannen:
Zitator:
Das
schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir
existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht
mehr. Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten; denn die einen geht er
nicht an, und die anderen existieren nicht mehr.
Musik:
Sprecherin:
Was den
Menschen ängstigt ist nicht das Totsein, sondern das konkrete Sterben Epikurs
Bannspruch wirkt deshalb nicht überzeugend. Und auch das Bewusstsein der
eigenen Endlichkeit, das ins Leben
hineinsteht, beunruhigt. Für Epikur wie für andere antike Denker gab es
allerdings keinen Zweifel daran, dass zur ars vivendi - zur Lebenskunst immer auch eine ars moriendi
- ein Nachdenken über Tod und Sterben hinzugehört. Wilhelm Schmid:
O-Ton, Wilhelm Schmid:
Im
Hintergrund von Lebenskunst, wenn sie eine philosophische sein soll, muss immer
das Denken an den Tod stehen ... In der Moderne wird von Menschen diese Grenze
des Lebens als äußerst lästig wahrgenommen, es könnte aber grundsätzlich sein,
dass diese Grenze des Lebens nicht verzichtbar ist. Das kann man sich heute am
besten in einem Gedankenexperiment vergegenwärtigen: Was wäre denn, wenn dieses
Leben nicht mehr enden würde, wenn das Leben dauern würde 200, 500, 5000 Jahre.
Was würde ich denn all diese Zeit machen? Eine kleine Verlängerung wäre ja
vielleicht wunderschön, aber so lange Zeit hier zu sein ohne Aussicht, dass das
jemals endet - woher nehme ich den Antrieb überhaupt morgens aus dem Bett zu
kommen? Woher nehme ich den Antrieb einen Streit irgendwann zu beenden? Es
könnte ja interessant sein, einen Streit 50.000 Jahre durchzuführen. Das alles
könnte klar werden lassen: wir verdanken dem Tod auch etwas, nämlich dass
dieses Leben überhaupt Leben wird und nicht in unendlicher Langeweile
zerfließt. Insofern denke ich, kann man heute in der Lebenskunst das Denken an
den Tod erneuern.
Sprecher:
Gemeinhin
betrachten wir die Grenze, die der Tod dem Leben zieht, nur als eine
Verminderung, als eine Einschränkung, die dem Leben weitere Möglichkeiten
vorenthält. Aber unter der Gedankenhypothese eines unendlichen Lebens kommen
andere Bedeutungen zu Bewusstsein. Die Endlichkeit, der Tod gibt dem Leben in
paradoxer Weise auch einen außerordentlichen Wert, verleiht den Möglichkeiten
und Chancen ein Gewicht, die sie in einem unendlichen Dasein nicht hätten.
Würde man ewig existieren, wäre alles Tun und Erleben revidierbar und daher
belanglos.
Für Wilhelm
Schmid stellt sich dieses Thema nicht nur theoretisch, da er jedes Jahr im
September als Philosoph in einem Krankenhaus arbeitet:
O-Ton, Wilhelm Schmid:
Ich habe
natürlich etliches zu tun mit dieser Frage bei der Arbeit im Krankenhaus, die
seit vier Jahren läuft, da kommen immer wieder Menschen, die vor dem Tod stehen
und da gibt es ganz unterschiedliche Gespräche, ... es gibt nicht wenige
Menschen, die sich angesichts des Todes beklagen, dass nicht schon früher jemand gesagt hat, dass
das ihr eigenes Leben sei. Wenn sie sich dessen bewusst gewesen wären, dann
hätten sie dieses Leben viel intensiver gelebt, dann hätten sie das Leben nicht
so einfach dahingehen lassen. Das ist sehr schade, wenn das geschieht, aber ändern lässt es sich nur durch eine
einzige Sache, nämlich dass Individuen dieses Leben beizeiten selbst in die
Hand nehmen. Es hilft nichts, wenn man vor dem Tod steht, der Ehefrau oder dem
Ehemann den Vorwurf zu machen, dass sie das Leben geraubt hätten, oder der
Firma oder dem Staat oder dem System. Denen ist das nämlich vollkommen egal in
diesem Fall. Egal ist übertrieben, aber es ist in jedem Fall nicht ihr Tod,
sondern immer der eigene Tod, der gestorben wird. Und somit das eigene Leben
und nicht das Leben von jemandem anderen.
Musik:
Zitator:
Niemand
wird dir die Jahre zurückholen, niemand wird dich dir noch einmal wiedergeben.
Das Leben wird gehen, wie es begonnen hat, und seinen Lauf weder umkehren noch
anhalten. Es wird keinen Lärm machen, nicht an seine Geschwindigkeit erinnern:
lautlos wird es dahinfließen. (...) Was wird geschehen? Du steckst in
Geschäften, das Leben eilt dahin; unterdessen wird der Tod vor dich treten, für
den du Zeit haben mußt, ob du willst oder nicht.
Sprecherin:
Der
römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca, von dem die Worte stammen, lebte im
ersten Jahrhundert nach Chr.
Seneca
gehört zur Schule der jüngeren Stoa, genau wie Epiktet und der römische Kaiser
Marc Aurel. Die Anfänge der älteren Stoa datieren um 300 vor Chr. in Athen, es
war dieselbe Zeitspanne, in der Epikur seine Philosophieschule des Gartens
begründete.
Sprecher:
Der
Begründer der älteren Stoa hieß Zenon
aus Kition. Nach eigenen Lehrjahren in Athen hatte er begonnen selber
Vorlesungen zu halten auf dem Athener Markt in der Stoa Poikile, der Bunten
Säulenhalle, von der die neue Richtung ihren Namen erhielt. Wie die Epikureer
sahen auch die Stoiker im Glücklichsein das höchste Gut des Lebens. Aber dieses
Ziel verfehlen die meisten nach Ansicht der Stoiker. Im Strudel der Affekte und
Leidenschaften, der dauernden Gier nach Geld, Macht und Ansehen verliert sich
der Mensch an die Betriebsamkeit der Welt. Senecas Beschreibung liest sich wie
eine Diagnose der Gegenwart.
Zitator:
Den einen
hält unersättliche Habsucht gefangen, den anderen mühevolle Betriebsamkeit in
überflüssigen Anstrengungen; der eine trieft vom Wein, der andere ist vor
Trägheit starr; den einen zermürbt Ehrgeiz, der immer von fremder Meinung
abhängig ist, den andern treibt blindwütige Gier nach Geschäften kreuz und quer
durch alle Länder, alle Meere (...) Nie können sie zu sich kommen. Wenn einmal
zufällig Ruhe eintritt, wirft es sie noch hin und her, wie auf hoher See, wo
auch nach dem Sturm noch Wogen rollen, und niemals lassen ihre Begierden sie in
Frieden.
Sprecherin:
So heißt
es in Senecas Schrift De brevitate vitae – Von der Kürze des Lebens.
Doch den Stoikern schien nicht das Leben an sich zu kurz, wohl aber die Weise,
in der es vertan wird. Und so lautete ihr scharfes Urteil über jene, die ihre
Lebenszeit mit Nebensächlichem vergeuden:
Zitator:
Wegen
grauer Haare und Runzeln brauchst du nicht zu glauben, einer habe lang gelebt.
Er hat nicht lang gelebt, sondern ist lang dagewesen.
Sprecher:
Im Gegensatz
Epikurs Grundannahme, das höchste Gut bestehe in der Lust, vertreten die
Stoiker die These, die Tugend sei das
höchste Gut, nach dem die Menschen streben. Doch was versteht die Antike, was
verstehen die Stoiker unter Tugend? Schon das Wort scheint heute nahezu
ausgestorben, und wenn wir ihm nochmals begegnen, mutet es altfränkisch an.
O-Ton, Katja
Vogt:
Der Begriff
Tugend ist notorisch schwierig in Bezug auf alle antiken Philosophien, das
griechische Wort areté kann man auch als Tüchtigkeit oder Tauglichkeit einer
Sache übersetzen, es wird immer wieder erwähnt, dass zum Beispiel auch solche
Dinge wie Messer eine Tugend haben können, indem sie nämlich gut schneiden
können, also so weit ist eigentlich dieses griechische Wort, das für Tugend
steht, ... Es gibt seit Platon die Diskussion wie sich eigentlich die bekannten
Kardinaltugenden Klugheit, Besonnenheit, Mäßigung und Gerechtigkeit zueinander
verhalten, ob nicht letztlich alle diese Tugenden irgendwie Formen von Klugheit
sind, also zum Beispiel Gerechtigkeit die Klugheit ist, die Dinge richtig zu
verteilen, oder ob das wirklich genuin verschiedene Charakterhaltungen sind,
ausgehend von denen man in verschiedenen Lebensbereichen richtig handelt.
Sprecherin:
Tugend ist
für die Stoiker ein Bemühen um philosophische Weisheit und um lebenspraktische
Klugheit. Mit dieser intellektualistischen Auffassung sind sie Sokrates am
nächsten: Tugend ist Wissen. Man kann zum guten Leben, zum Glück nur über eine
fundamentale Einsicht gelangen, die Seneca ausspricht.
Zitator:
Demgemäß
ist ein Leben dann glücklich zu nennen, wenn es sich im Einklang mit der Natur
befindet.
Sprecher:
Senecas
Wort ist doppelt zu lesen. Der Mensch soll mit seiner eigenen Natur im Einklang
sein, wie auch mit der gesamten Natur des Kosmos. Beides fällt für den Stoiker
ineins. Denn er nimmt an, dass das Universum von einem Vernunftprinzip, vom
Logos durchwaltet und geordnet sei. Das griechische Wort Kosmos bedeutet
ursprünglich das Wohlgeordnete. Und der Mensch als Vernunftwesen partizipiert
an diesem Logos. Je mehr er sich auf seine Vernunftnatur besinnt, desto mehr
stimmt er mit dem Kosmos, mit der Natur überein.
Sprecherin:
Störend
sind jedoch die Affekte und Begierden, die ihn von seiner Bestimmung ablenken.
Deshalb verfolgt die stoische Ethik das Ziel, die Leidenschaften, griechisch
pathe zu überwinden, um zur Apathia, zur – sprichwörtlichen - stoischen Ruhe
und Leidenschaftslosigkeit zu gelangen.
Musik
Sprecher:
Zwischen
Epikureern und Stoikern gibt es auf den ersten Blick eine überraschende
Konvergenz in der lebenspraktischen Haltung.
Die epikureische Seelenruhe ataraxia und die Leidenschaftsüberwindung
apathia des Stoikers liegen nahe beieinander und scheinen sich zum Verwechseln
ähnlich.
Und doch
könnten die dahinter stehenden Philosophien in ihrem Weltverständnis nicht
gegensätzlicher ausfallen.
Sprecherin:
Epikur,
als Anhänger des Atomismus, nimmt an, dass die Welt grundlos ist, kontingent
wie man in der Gegenwartsphilosophie sagen würde. Die Welt gleicht einem Wirbel
von Atomen, den der Zufall regiert. Solche von einander isolierten Atome sind
auch die Menschen selbst. Trauen kann der Einzelne allenfalls den sinnlichen
Eindrücken, aber die Welt im ganzen verdient Misstrauen. Denn von ihrer blinden
Willkür hat der Mensch nichts zu erwarten. Die Kälte und Gleichgültigkeit der
Welt ihm gegenüber zahlt der Epikureer ihr mit derselben Münze heim. Im Rückzug
aus der Welt findet er Souveränität bei sich selbst in einer inneren
Seelenruhe, Geborgenheit vor möglichen Verletzungen und Kränkungen
draußen.
Sprecher:
Im
Gegensatz dazu spricht aus der stoischen Philosophie ein unbedingtes
Weltvertrauen. Zwar geht auch der Stoiker auf Distanz zum Trubel des Lebens. Es
lohnt nicht, sein Herz an vergängliche Güter zu hängen, an Reichtum, Macht oder sozialen Ruf. Es lohnt aber ebensowenig,
sich wegen zeitweiliger Übel zu grämen, wenn man unglücklich verliebt, krank
oder mittellos ist, - das alles sind nur Oberflächenphänomene. In der Tiefe
regiert die Welt ein vernünftiges Prinzip, das alles wohlgeordnet hat.
Sprecherin:
Die
stoische Philosophie rückt damit in die Nähe des Christentums, auch wenn sie
keinen transzendenten personalen Gott annimmt, sondern von einer immanenten
Vernunft ausgeht. Für den Stoiker ist der Gang der Geschichte geregelt, das
Schicksal bestimmt. Er identifiziert sich mit einem positiven Weltganzen, das
verpflichtet den Stoiker zu Toleranz, Kosmopolitismus und caritativer Haltung.
Man hat von der Weltfrömmigkeit der Stoa gesprochen, weil sie den Gedanken, man
könne ins Geschehen eingreifen, mit den Worten Marc Aurels abweist:
Zitator:
"Wenn
du einwilligst, führt dich das Schicksal, wenn nicht, zwingt es dich."
Sprecher:
Die
Lehren der Stoa oder Epikurs wurden von ihren Anhängern nicht bloß als
Gedankensysteme behandelt, als reine Weltanschauungen, die man abstrakt
übernimmt. Vielmehr waren sie mit einer Vielzahl von asketischen Techniken und
Übungen verknüpft: Lebenskunst wurde buchstäblich eingeübt: Unsere christliche
Tradition verdeckt allerdings, was die Antike unter Askese verstand, erklärt
Christoph Horn, der an der Universität Bonn antike Philosophie lehrt:
O-Ton,
Christoph Horn:
Unser neuzeitlicher Askesebegriff ist christlich geprägt,
wir denken an die Entsagungsaskese, Verzicht und an Selbstkasteiung oder
Selbstbeschränkung. Dieser Askesebegriff ist nicht der, der in der griechischen
Philosophie seit dem fünften Jahrhundert prominent geworden ist. Der
Ausdruck askesis heißt dort tatsächlich
Übung und nicht Entsagung oder Verzicht. Gemeint sind körperliche, aber vor
allem psychische und geistige Übungen, mit denen jemand ein Lebensziel, das er
gemäß seiner philosophischen Position als erstrebenswert identifiziert hat, zu
erreichen versucht, anders gesagt: diese asketischen Übungen zielen auf eine
Transformation der Persönlichkeit, auf die Therapie von falschen
Lebenseinstellungen, insbesondere auf ein Freiwerden von destruktiven Affekten,
destruktiven Neigungen, ein Freiwerden von einem steten Mehr-haben-wollen,
Pleonexia, Drängen nach immer mehr Besitz, und diese Übungen .... waren von
einem großen Variantenreichtum, es war eine ganze Palette unterschiedlicher
Techniken, dazu gehörte etwa das Memorieren von zentralen Einsichten, dann
gehörte das Tagebuchführen dazu, sich schriftlich auseinanderzusetzen mit den
jeweiligen Lehrüberzeugungen, denen man sich verpflichtet fühlte.
Sprecherin:
Marc Aurel empfiehlt zum Beispiel als eine geistige Übung,
sich die Alltagsrealität, wie von einer Anhöhe aus zu betrachten. Ebenfalls
soll man sich vergegenwärtigen, welche Lebensformen früher existiert hätten,
welche künftig gelten könnten und welche unter fremden Völkern vorkämen. – Der
Zweck von Marc Aurels Übung leuchtet unmittelbar ein. Es gilt den eigenen
Standpunkt zu relativieren, die Dinge einmal von anderer Seite zu betrachten,
um an Problembewusstsein, Urteilskraft und Toleranz zu gewinnen.
Sprecher:
Eine andere Übung trainiert die Antizipation künftigen
Übels. Hier geht es darum, eine bevorstehende schwierige Situation in der
Phantasie vorwegzunehmen und die möglichen besseren und schlechteren Verläufe
durchzuspielen, um sich dergestalt innerlich zu wappnen. Nehmen die Ereignisse
einen schlimmen Verlauf, so trifft das die Psyche nicht mehr unvorbereitet.
Sprecherin:
Philosophische Lebenskunst übernahm in der Antike eine Reihe von Funktionen und Aufgaben, die später
in die kirchliche Seelsorge, heute vor allem in die Psychotherapie und in die
psychologische Beratung gewandert sind. In der antiken Philosophie hieß dieses
ethische Konzept Selbstsorge oder Sorge um sich.
O-Ton, Wilhelm Schmid:
Die Sorge
ist immer das Zentrum von Lebenskunst, von einer als Lebenskunst verstandenen
Ethik - das muß heute bei der Neubegründung genauso sein wie in der Antike.
Sokrates war übrigens der Erfinder der Selbstsorge, ... die vollkommen
missverstanden wird, wenn man sie wörtlich nimmt, eine Sorge nur für sich
selbst, denn schon damals sagten die Philosophen, dass die Sorge für sich
selbst sinnvollerweise zugleich eine Sorge für andere und für die Gesellschaft
ist. Denn es gibt kein Leben nur für sich selbst, sondern immer nur in diesem
Umfeld, in diesem Rahmen, den man versuchen sollte, mitzugestalten. Aber dieses
Zentrum der Sorge ist unabdingbar, man muss heute vielleicht nur im Unterschied
zur Antike hinzufügen, die Sorge allein kann es nicht sein, ... Sorge allein
ist anstrengend, das lässt sich nicht umstandslos durchhalten. Die Sorge wäre
klug beraten, immer wieder abzuwechseln mit Zeiten der Lüste und des Genießens,
das Genießen ist per se die Zeit, in der wir uns nicht sorgen, in der die Sorge
sich erholen kann, so wie umgekehrt in Zeiten der Sorge, die Lüste sich erholen
können, denn die können auch nicht unentwegt anhalten, sondern brauchen
Erholung.
Sprecher:
Die Idee der
Selbstsorge war nicht gänzlich aus der Philosophie verschwunden. Heidegger
definierte in einem umfassenden Sinn das menschliche Dasein als Sorge. Aber
erst der 1984 verstorbene französische Philosoph Michel Foucault brachte das
Konzept der Selbstsorge zurück in die Ethik-Diskussion. Von ihm hatte man es am
allerwenigsten erwartet. Denn Foucault hatte in den sechziger Jahren
provozierend vom ‚Tod des Menschen’ gesprochen – d.h. vom Ende des Subjekts,
der Rationalität und des Humanismus. In seinem Spätwerk, in den Bänden Sexualität
und Wahrheit, beschäftigte er sich mit der Antike und verblüffte mit
folgender These:
Sprecherin:
Die
Persönlichkeit habe sich in der Antike weniger repressiv modellieren und selbst
gestalten können als im Mittelalter und in der Neuzeit. Während in der Neuzeit
das Individuum von großen Herrschaftsinstanzen zugerichtet wurde, von der
Kirche, dem Staat, der Armee, der Fabrik - habe der antike Mensch einen offenen
Raum vorgefunden, wo er mit Hilfe von geistigen Übungen, Praktiken und
Lebensregeln sein Selbst ausformen konnte. Foucault suchte seine Behauptung mit
Beispielen antiker Lebensthemen wie
Freundschaft, Erotik, Genuss und Verhältnis zum Sterben zu belegen.
Sprecher:
Foucaults
Sicht ist nicht unumstritten. Insbesondere ist es wichtig, sich die
soziologischen Dimensionen im Blick zu behalten. Welchen sozialen Milieus
standen in der Antike überhaupt Freiräume offen?
Und welchen
Einfluß hatten die Religionen?
O-Ton, Christoph Horn:
In der
Antike hatten die Philosophenschulen durchweg einen elitären Charakter. Sie
waren nie Massenbewegungen mit Ausnahme einer bestimmten populär gewordenen
neuplatonischen Bewegung in der Spätantike, die dann schon mit den
vorderasiatischen Offenbarungsreligionen konkurrierte und mit dem Christentum
konkurrierte. ... anders diese Philosophenschulen in der klassischen und in der
hellenistischen Zeit. Sie waren elitär, sie wandten sich an die Oberschicht,
sie wandten sich nicht eigentlich an ein Erlösungsbedürfnis, dass ist nicht
eigentlich die Pointe, ... sondern die Interessenlage für jemanden der sich
dort einer Philosophenschule zuwendet, ist die Selbstkonstitution, nicht die
Erlösung, nicht die Spiritualität.
Sprecher:
Es gab eine
dritte bedeutende Schulrichtung in der hellenistischen Zeit. Die Skeptiker, wie
sie der Sextus Empiricus vorstellt:
Zitator:
Die
skeptische Schule wird auch die »suchende« genannt nach ihrer Tätigkeit im
Suchen und Spähen. Sie heißt auch die »zurückhaltende« nach dem Erlebnis, das
der Spähende nach der Suche an sich erfährt.
Sprecher:
Die ältere
Schule der Skepsis, gegründet von Pyrrhon aus Elis, teilt die ethische
Grundannahme der anderen hellenistischen Schulen: Die Menschen streben nach dem
Glück, dem guten Leben. Weiterhin teilen die Skeptiker die Überzeugung, dass
zum glücklichen Leben die Seelenruhe gehört. Nur befürchten die Skeptiker, dass
gerade die Festlegung auf eine philosophische Antwort, sei sie epikureisch:
Glück ist Lust, sei sie stoisch: Glück ist Tugend – den Menschen in die Irre
führt und unglücklich macht. Deshalb gilt es sich vor solch einer dogmatischen
Einseitigkeit zu hüten. Die Skeptiker konfrontieren deshalb Pro und Kontra
einer Position, Argumente und Einwände miteinander, und gelangen zu einer
entscheidenden Erfahrung, wie Katja Vogt erläutert:
O-Ton, Katja
Vogt:
Nun sagen
die Skeptiker, sie hätten die Erfahrung gemacht, dass wenn man all diese Thesen
und Gegenthesen und Gegenargumentationen einander so gegenüberstellt, dass sich
eine Art von Gleichgewicht für die verschiedenen Seiten einer Sache ergibt, und
dass sich dann wie durch ein Wunder gewissermaßen die Seelenruhe einstellt,
begriffen als Urteilsenthaltung. Man merkt sozusagen, es spricht für alles
gleich viel, also ist die einzig vernünftige Haltung nicht zu urteilen, sich
nicht der einen oder anderen Position zu verschreiben. Plötzlich stellt man
fest, dass diese Urteilsenthaltung gewissermaßen die Lösung ist, denn jetzt ist
man innerlich ruhig, und das beschreiben die Skeptiker als eine Erfahrung, die
sie gemacht hätten, denn sie können es gewissermaßen nicht als Theorie oder
dogmatische These vertreten, das wäre ja dann unskeptisch, denn sie enthalten
sich ja dieser Art von Urteilen.
Sprecherin:
Heute
begegnet man einem vermeintlichen Skeptizismus, der sich von vornherein auf den
Standpunkt zurückzieht: alles sei relativ, man könne nichts wirklich erkennen,
bewerten oder entscheiden. Eine Attitüde, die sich gar nicht erst auf die
widerstreitenden Positionen einlässt, geschweige denn sie durchdenkt. Im Grunde
ist dies keine skeptische, sondern eine dogmatische Haltung, eine äußerst
denkfaule zudem. Die phyrronische Skepsis der Antike war nicht von dieser Art.
Sie fand die Balance der Seelenruhe nur auf eine paradoxe Weise, indem sie die
Standpunkte immer wieder überprüfte, d.h. fortfuhr zu philosophieren.
Musik:
Sprecher:
Unter
Studenten heute ist das Interesse an antiker Philosophie wieder gewachsen.
Gleichzeitig hat jedoch ihre Kenntnis alter Sprachen abgenommen. In
angelsächsischen Ländern hat man schon vor längerer Zeit auf diesen Missstand
reagiert und die altphilologischen Institute, wo die Sprachen gelehrt werden,
stärker mit den philosophischen Instituten vernetzt. In Deutschland sind
ähnliche Maßnahmen überfällig. Im Oktober wurde in München eine Gesellschaft
für antike Philosophie gegründet. Ihr Vorsitzender ist der Philosoph Christof
Rapp, der an der Berliner Humboldt-Universität antike Philosophie lehrt. Zum
Vorstand gehören auch Christoph Horn und Katja Vogt:
O-Ton, Katja
Vogt:
Die
Gesellschaft für antike Philosophie, abgekürzt GanPH, wurde ... in München
gegründet, und ihre Ziele sind im wesentlichen, in Deutschland eine Stimme für
die antike Philosophie zu schaffen.
Es gibt im
Ausland verschiedene Gesellschaften dieser Art, die sich dafür einsetzen, dass
an Universitäten weiterhin die antike Philosophie unterrichtet wird, dass man
sich auch um den Dialog mit Lehrern an den Schulen bemüht, die alte Sprachen
unterrichten, die vielleicht auch im Ethikunterricht gerne zur Antike ihren
Unterricht gestalten möchten.
In
Deutschland hat eine solche Einrichtung bis heute gefehlt. Da man sich schon
bemühen muss, nicht nur als einzelner zu sprechen, sondern auch eine
Interessenvertretung zu haben gegenüber Stiftungen, gegenüber
wissenschaftlichen Förderinstitutionen in Deutschland und auch gegenüber der
Politik, um dieses Interesse, die Beschäftigung mit der Antike nicht absterben
zu lassen, stark zu machen und in der Öffentlichkeit zu artikulieren.
Sprecherin:
Natürlich
ist eine wissenschaftliche Erforschung der antiken Philosophie unabdingbar.
Aber kann eine Beschäftigung mit ihr über den akademisch-historischen Rahmen
hinaus für die Gegenwart nutzbringend sein? Ist die Antike nicht so fern und
anders geartet in ihrem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang, dass die
philosophischen Gedanken von Epikur, Seneca, Marc Aurel höchstens eine schöne
Sammlung von Lebensweisheiten abgeben?
Oder kann
man an ihre Konzeptionen der Lebenskunst noch anschließen? Wilhelm Schmid
bejaht dies, macht aber auf gewichtige Unterschiede aufmerksam zwischen einem
antiken und einem neuformulierten Lebenskunstmodell, wie es ihm vorschwebt.
O-Ton, Wilhelm Schmid:
Der ganz
große Unterschied ist, dass eine Lebenskunst heute den Namen nicht verdient,
wenn sie nicht auch eine ökologische Lebenskunst ist. Dieses Problem kannten
frühere Zeiten nicht in dem Maße, wie wir das kennen. Dass es zu einer Frage
der menschlichen Existenz geworden ist, ob wir ökologisch handeln und damit
ökologische Ressourcen wahren oder sie ruinieren, und damit auch unsere eigene
Existenz ruinieren. Und wenn mich nicht alles täuscht, hat dieses Problem einen
Zeithorizont von nur noch ein paar Jahrzehnten. So dass wir gut daran tun,
unser Leben so einzurichten, dass wir uns auf Schritt und Tritt fragen, ob das
was wir tun ökologische Konsequenzen hat oder nicht.
Sprecher:
Die antike
Ethik und Konzepte der Lebensführung mussten sich nicht um eine Erhaltung der
Natur kümmern. Die Natur sorgte für sich
selbst; sie war ohnedies viel mächtiger als der Mensch, und es war im Gegenteil
bitter nötig, alle Klugheit und die begrenzten technischen Mittel
zusammenzunehmen, um ihren Gewalten menschliche Lebensmöglichkeiten
abzutrotzen.
Sprecherin:
Neben der
ökologischen Korrektur muss eine moderne Philosophie der Lebenskunst auch die
Definition des guten Lebens offen lassen. Anders als Epikur oder die Stoa kann
heute kein Philosoph über die Köpfe hinweg bestimmen, was das gute Leben sei,
nach dem alle zu streben hätten. Das fällt in einer pluralistischen Demokratie
unter die Selbstbestimmung des Einzelnen. Aber warum sollte die Philosophie die
Antwortsuchenden allein den Angeboten der Psychotherapie, der Religion oder
dubioser Sekten überlassen, und nicht auch selbst Verantwortung in Form von
Beratung übernehmen? Das ist in den letzten Jahren in Gestalt der so genannten
Philosophischen Praxen mit mäßigem Erfolg versucht worden.
Sprecher:
Wilhelm
Schmid schlägt einen existentiellen Imperativ der Lebenskunst vor:
‚Gestalte
Dein Leben so, dass es bejahenswert ist.’
Was aber
heißt bejahenswert? Welche Kriterien sollen darüber entscheiden? Kann ich nicht
eine Lebensweise bejahen, weil sie mir gefällt, auch wenn sie schlecht ist, für
mich oder für andere. D.h. wandert die Lebensführung von einer ethischen auf
ein rein ästhetische Ebene?
Sprecherin:
Gegen den
Einwand, dass ethische Fragen ins Beliebige abdriften könnten, führt Wilhelm
Schmid sein Beispiel ins Feld:
O-Ton, Wilhelm Schmid:
Ich arbeite
regelmäßig in einem Krankenhaus, dazu kann mich niemand nötigen, das ist meine
eigene freie Entscheidung. So etwas zu machen, aber ich möchte den Menschen
gerne nahe sein an dem Punkt, wo es ihnen wehtut, und ich möchte aus meinem
Leben diese Seiten der Existenz nicht verbannt haben, und ich fahre seit fünft
Jahren regelmäßig zur Gastdozentur nach Georgien, das ist ein Land wo 60%
Arbeitslosigkeit herrscht, vor kurzem hat das deutsche Außenministerium vor
Reisen nach Georgien gewarnt, weil die Kriminalitätsrate immer größer wird, das
ist mein glückliches Leben und meine schöne Existenz.
... Ich
glaube, dass man die Lebenskunst missversteht, wenn man glaubt, sie bestünde
darin, sich das Leben leicht zu machen, unter philosophischem Aspekt ist das
pure Gegenteil wahr: sie besteht natürlich darin, sich das Leben schwer zu
machen. Denn nur in der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten kann man wachsen
und reifen. Und nur dann kann man vielleicht auch das Gefühl haben, ein
sinnvolles Leben zu führen, wenn man nicht nur ein Leben für sich allein führt,
sondern auch versucht, für andere dazusein.
Sprecherin:
Mit Absicht und ohne Not das schwerste Leben zu wählen, ist
ein Heroismus der Existenz wie ihn Nietzsche sich auferlegt und darunter
gelitten hat, vielleicht sogar daran zerbrochen ist. Aber als Kontrapunkt zur
herrschenden Konsumideologie des Easy-living scheint Schmids Plädoyer
für die Schwere im Leben sinnvoll. Die Antike kannte und schätzte beide Seiten
des Lebens - diejenige, wo das Leben leicht und heiter ist wie ein Spiel; und
jene andere, wo es ernst wird und eine schwere Bürde.
Zitator:
Wir sind nur
ein einziges Mal geboren; zweimal geboren zu werden ist nicht möglich. Eine
ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein dürfen. Und da schiebst du
das, was Freude macht, auf, obwohl Du nicht einmal Herr bist über das Morgen?
Über dem Aufschieben schwindet das Leben dahin und so manch einer stirbt, ohne
sich jemals Muße gegönnt zu haben.
Musik: