Marseillaise

(zunächst Musik allein, dann den nachfolgenden Sätzen unterlegen, nach Ende der Textpassage Musik wieder hochziehen)

 

Sprecherin:

Die Marseillaise, das Sturmlied der Revolution, hallt seit 1792 durch Europa. Über 20 Jahre lang. Die Soldaten des französischen Volksheeres glauben im Kampf gegen die Söldnerarmeen der Fürsten nicht nur ihr Vaterland zu verteidigen, sondern auch den unterdrückten Völkern die Freiheit zu bringen: liberté, égalité,  fraternité! - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!

 

Marseillaise

 

Sprecher:

Die Jahrhundertwende 1800 sieht die Welt im Bann der Französischen Revolution und ihrer Folgen, eine Welt im Umbruch, der auf allen Ebenen stattfindet.

Was hat die Menschen, ihr Sein und ihr Bewußtsein, um 1800 bestimmt?

Lebten sie selbst in dem Gefühl, daß sich fundamentale Veränderungen vollzogen?

 

Sprecherin:

Heute, wo wir vor der Jahrtausendwende stehen und allzu unvermittelt auf das magische Datum 2000 starren, scheint der Versuch sinnvoll, einmal zurückzutreten und Distanz zu gewinnen. Ein Blick auf eine andere Jahrhundertwende, könnte der aktuellen Diskussion  ein Stück historische Tiefenschärfe verleihen.

 

Sprecher:

Die Französische Revolution von 1789 fordert die Menschenrechte ein, für die auch die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung ein Jahrzehnt zuvor erfolgreich gestritten hat. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte bildet die politische Konsequenz aus den Lehren der Aufklärung. Hier wird ein Begriff des Menschen und seiner unantastbaren Würde geprägt, der heute Weltgeltung beansprucht. Er bildet die Grundlage jedes wahrhaft demokratischen Gemeinwesens. Die Erklärung von 1798 lautet:

 

Zitator:

Artikel I: Die Menschen sind und bleiben von Geburt an frei und gleich an Rechten.

Artikel II: Das Ziel einer jeden politischen Vereinigung besteht in der Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Sicherheit, und Widerstand gegen Unterdrückung.

Artikel VI: Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger sind berechtigt, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken …

 

Sprecherin:

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - die Ideen der Französischen Revolution attackierten die überkommene Ständegesellschaft. Man hob die Privilegien des Adels auf, beseitige dessen Steuerfreiheit ebenso wie den sogenannten Zehnt für die Geistlichkeit. Die Welt des Feudalismus und der Ständegesellschaft waren auf Ungleichheit und Unfreiheit aufgebaut. In Preußen lebten noch bis 1810 zwei Drittel der Einwohner in Erbuntertänigkeit, ostelbische Bauern zumeist, die man politisch wie geistig in völliger Unmündigkeit hielt.

 

Sprecher:

Und in Übersee betrieben die europäischen Kolonialmächte einen blühenden Sklavenhandel, vor allem rund um die karibische Zuckerindustrie. Karl Marx schrieb, 1790 seien auf den englischen Kolonialinseln in der Karibik auf einen freien Mann zehn Sklaven gekommen, auf den französischen Kolonialinseln habe das Verhältnis 1 zu 14, auf den holländischen sogar 1 zu 23 betragen. Vor der Jahrhundertwende ächtete Dänemark als erstes Land 1792 den Sklavenhandel, 1807 folgten die Engländer, ein Jahr später die Vereinigten Staaten.

 

Sprecherin:

Die Ideen der Französischen Revolution entsprangen einer der Aufklärung, die das gesamte 18. Jahrhundert durchzog. Voltaire stritt im Namen der Vernunft gegen die Bevormundung des Menschen durch religiöse Dogmen und unausgewiesene Traditionen. "Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten" - so beginnt Rousseaus Schrift "Vom Gesellschaftsvertrag", worin er die Einrichtung eines demokratischen Gemeinwesens, einer Republik, fordert. Und Immanuel Kant erklärt, der Mensch sei frei und könne sich nur selbst ein vernunftgemäßes moralisches Gesetz geben. Kants freidenkerische Ansichten zu Religion und Kirche trugen ihm 1794 eine scharfe Verwarnung von Seiten des preußischen Königs ein.

 

Sprecher:

Die Dichter und Denker - die Intellektuellen, wie man heute sagen würde - sympathisierten mit den Ideen der Französischen Revolution. Sie dachten und fühlten kosmopolitisch: "Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient", erklärte Friedrich Schiller. Und Goethe, wenngleich konservativer, ging in seinen Werken auf den Geist der Französischen Revolution ein, er arbeitete sich gleichsam daran ab, wie der emeritierte Siegener Literaturwissenschaftler Helmut Kreuzer erläutert:

 

O-Ton, Helmut Kreuzer:

Goethe ist von seinem ganzen Habitus her kein Revolutionär, kein Umstürzler. Das ändert aber nichts daran, daß er ein Repräsentant dieser gesamten Epoche ist und er auf die Französischen Revolution reagiert hat, direkt in Schriften, die nun nicht zu seinen Hauptwerken gehören, - aber zu seinen Hauptwerken gehört nun einmal der Faust, und der Faust geht zurück auf eine andere Revolutionsepoche, auf die Zeit der Bauernkriege, und der Faust ist natürlich von den Zeitgenossen auch gelesen worden als ein großes Werk der Umwälzung, und nicht etwa als ein großes Werk der Bewahrung.

 

Sprecherin:

Faust verkörpert den Typus des neuzeitlichen aufgeklärten Menschen, der sich keinem Dogma und keiner Autorität mehr beugt. Allein auf sich selbst gestellt und von dem unbändigen Willen beseelt, die Welt zu erkennen und sich ihrer zu bemächtigen. Das wird in der Studierstubenszene sinnfällig, wo Faust, über dem Johannesevangelium brütend, sich die philosophische Frage nach der ersten Ursache stellt.

 

Zitator:

Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen.

 

Sprecher:

Das Wort steht für die göttliche Offenbarung, für eine Wahrheit, die der Mensch gleichsam passiv empfängt. Faust verwirft dieses alte Seins- und Weltverständnis und setzt ein neues an dessen Stelle:

 

Zitator:

Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh' ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

 

Sprecherin:

Faust ist der Mensch der Tat, der sich seine Welt buchstäblich schafft, durch die Anstrengung der Erkenntnis ebenso wie durch die praktische Arbeit. Faust verkörpert das historisch gewachsene, nach Macht strebende Selbstbewußtsein des Bürgertums, jener Klasse die den Prozeß der Aufklärung und der Emanzipation des Menschen im wesentlichen trägt.

 

Sprecher:

Aber es spricht aus Goethes Faust keine unmittelbare Stellungnahme zu den politischen Verhältnissen. Zwar haben insbesondere marxistische Literaturkritiker gern jene Stelle aus Faust II herangezogen, wo der bereits erblindete Faust wähnt, unter seiner Initiative würden viele Menschen vereint ein Entsumpfungsprojekt in Angriff nehmen, also ein großes zivilisatorisches Werk. Und hier fallen die oft zitierten Sätze:

 

Zitator:

Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.

 

Sprecherin:

In Wahrheit jedoch rührt jenes Schaufeln, das Faust vernimmt, von den Lemuren, die gerade dabei sind, sein eigenes Grab auszuheben. Unsere heutige Zeit vernimmt eine hellsichtig böse Ironie, mit der Goethe den blinden Aktionismus des Handelns belegt, und nicht aber eine ungebrochen verkündete politische Utopie.

 

Sprecher:

Aber nicht erst heute und nicht nur in kulturelle Werke werden eigene Wunschvorstellungen hineininterpretiert, solche Projektionen geschahen auch damals. In Deutschland projizierten viele Intellektuelle ihre Vorstellungen in die Französische Revolution hinein, meint Christina von Braun, Filmemacherin und Professorin für Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität.

 

O-Ton, Christina von Braun:

Da gab es ungeheuer viele Projektionen, die sich auf Paris gerichtet haben, in Deutschland. Das waren Projektionen, die auch viel mit der internen Situation in Deutschland zu tun hatten, man hoffte, daß dieser Funke überschlagen würde in Deutschland, daß er aber hier ganz andere Dinge bewirken würde, also jeder hat seine Hoffnung an eine Veränderung der Situation geknüpft, an die Französische Revolution und hat sie sich selbst zu eigen gemacht und dienstbar gemacht, aber mit sehr unterschiedlichen Hoffnungen, also wenn man gerade die Frühromantiker betrachtet, das waren Hoffnungen, die gingen in Richtung eines konservativen, in die Vergangenheit gerichteten mittelalterlich idealisierten Elitenstaates, der absolut nichts mit der Französischen Revolution zu tun hatte. Revolution als Gedanke, als Umbruchsituation hat man gern übernommen, aber die Vorstellung, daß tatsächlich das, was in Frankreich stattgefunden hatte, auf Deutschland übertragen werde, das werden Sie nicht in vielen Texten finden, abgesehen vielleicht bei Forster und einigen anderen der Aufklärung und der Französischen Revolution verschriebenen, aber wenn Sie bei Novalis gucken, dann ist das ein in die Vergangenheit gerichtetes, idealisiertes Deutschland, wo Dichter zu Priestern und Priesterkönigen ernannt werden, also auch ein sehr an einer Elitengesellschaft orientiertes Bild, das nichts mit der Französischen Revolution zu tun hat.

 

 

Sprecherin:

1799 verfaßte Novalis, der dem Kreis der Jenaer Frühromantik angehörte, einen religiös-poltitischen Aufsatz mit dem Titel Die Christenheit oder Europa. "Es waren - schreibt Novalis - schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte." Novalis entwarf ein verklärtes Bild des Mittelalters und machte Reformation, Aufklärung und Französische Revolution für die Spaltung Europas verantwortlich. Er träumte, daß auf einer höheren dialektischen Ebene, unter Integration bestimmter Errungenschaften der Aufklärung, eine neue christliche Kultur entstehen würde. Eine Publikation des Aufsatzes in der Zeitschrift Athenäum, dem Sprachrohr der Frühromantiker, war äußerst umstritten. Goethe, dessen Schiedsspruch man ersuchte, sprach sich erfolgreich gegen die Veröffentlichung aus.

 

Sprecher:

Aus Novalis' Verklärung des Mittelalter sprach der Wunsch nach einer neuen kulturellen Einheit, nach Versöhnung im religiösen, geistigen und politischen Sinn. Dieses Streben nach Harmonie und Ausgleich charakterisiert die Romantik. Es antwortete auf den Schreck und die Verunsicherung, die die Radikalisierung der Französischen Revolution in den deutschen Ländern auslöste. 1793/94 unter Herrschaft der Jakobiner Danton, Marat und Robbespierre wütete in Paris die Guillotine. Allein 2000 Opfer zählteman in der Hauptstadt, 15000 in ganz Frankreich.

 

Sprecherin:

Verstört reagierte man in Deutschland und im gesamten Europa vor allem auf die Nachricht, daß der französische König hingerichtet worden sei. Einen König, einen Landesvater umzubringen, erschien, zumal vor dem Hintergrund der deutschen Verhältnisse, als monströse, schlichtweg unvorstellbare Tat, so der Kölner Historiker Otto Dann.

 

O-Ton, Otto Dann:

Diese Deutsche Gesellschaft lebte in einem friedlichen Kompromiß und produktiven Austausch der Stände - ... der Hof, die vielen kleinen Höfe waren der gebildeten Gesellschaft nahe, und jeder kannte einen Fürsten, den Fürsten konnte man erleben auf der Straße. Und nun passierte in Frankreich die Hinrichtung eines Königs - in einem Land, wo das Volk den König nicht einfach erleben konnte. Es gab ja nur einen in diesem Land. Und das konnte man nicht verstehen - den Königsmord, wie man sagte. Dem waren die Septembermorde, der Terreur, vorangegangen, diese Form der Politik stieß in allen Schichten der deutschen Bevölkerung auf völliges Unverständnis. Und so muß man die Distanzierung von der weitertreibenden Revolution seit 1791 verstehen. Es gab dann nur noch eine kleine Gruppe - also die waren nicht organisiert - eine kleine Zahl von politisch engagierten Gebildeten in Deutschland, die auf Grund ihres Republikanismus, ihrer demokratischen Überzeugungen trotzdem bei der Französischen Revolution blieben.

 

Sprecher:

Zu diesen radikalen Anhängern der Französischen Revolution zählten in Deutschland der berühmte Weltumsegler Johann Georg Forster, seine Frau Therese Huber - die erste deutsche Berufsschriftstellerin - Adolph Freiherr von Knigge und auch Jean Paul. Sie hatten sich regimekritisch für Menschenrechte und Demokratiebestrebungen ausgesprochen. Forster griff direkt in die Politik ein. Nachdem die Franzosen 1792 Mainz erobert hatten, gründeten Forster und andere den deutschen Jakobinerclub. Im März 1793 riefen sie in Mainz die erste Republik auf deutschem Boden aus. Nach der Rückeroberung der Stadt durch preußische Truppen wurde der geflohene Forster mit der Reichsacht belegt. Verarmt und politisch isoliert starb er 1794 in Paris.

 

 

Sprecherin:

Die europäische Welt um 1800 schaute immer wieder nach Paris. Wache Zeitgenossen spürten, das sich vieles verändert und in Bewegung geraten war, was früher fest und unverrückbar schien. Die Geschichte war in Fahrt gekommen, sie hatte gleichsam an Tempo zugelegt. Der Historiker Reinhart Koselleck stellte fest, daß man um 1800 begann, von der Geschichte zu sprechen. Nicht mehr nur war die Rede von der Geschichte Preußens oder der Geschichte Neapels, sondern von der einen universalen Geschichte, die alle umfaßte und in ihrer Bewegung mitzog.

 

Sprecher:

Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet für die Epochenwende zwischen 1770 und 1830 zahlreiche sprachliche Neuschöpfungen, die alle mit dem Wort Zeit verknüpft sind: Zeitabschnitt, Zeitaufgabe, Zeitbedrängnis, Zeitdauer bis hin zu Zeiterscheinung und Zeitgeist.

 

Sprecherin:

Das Medium Sprache signalisiert, wie die Menschen um 1800 ein Bewußtsein des geschichtlichen Umbruchs und der bedeutenden Veränderungen ausbildeten. Die Franzosen warfen sogar den Kalender auf den Müllhaufen der Geschichte und erklärten 1792 - die Geburtsstunde der Republik - zum Jahr 1 eines neuen republikanischen Kalenders. In Frankreich betrachtete man die Französische Revolution als einen völligen Neuanfang, in Deutschland und in Europa erlebte man die Zeit um  1800 eher als einen großen Umbruch. Dazu Christina von Braun:

 

O-Ton, Christina von Braun

In Frankreich gilt auf jeden Fall, daß 1789 der tiefe Einschnitt ist, in Deutschland würde ich denken, daß es eher die napoleonischen Kriege sind, die ein neues Lebensgefühl hervorrufen und die den neuen Nationalismus hervorbringen, ein neues kollektives Gefühl von Zusammengehörigkeit, was diese sehr heterogenen deutschen Länder bis dahin gar nicht erfahren hatten, aber dann unter dem Zwang der napoleonischen Kriege erfahren mußten. Also nicht nur die Frage der Zeit - wie Koselleck es beschrieben hat - sondern auch die Frage einer neuen kollektiven Orientierung ist ein ganz entscheidender neuer Faktor, der um 1800 - in Frankreich ein bißchen früher, in Deutschland ein bißchen später - stattfindet, ein neues Gefühl von Nationenbildung, von 'Wir-sagen', statt viele kleine Ichs oder viele kleine Wir zu sagen - das wäre für mich einer der Faktoren, ... die sich bis ins Individuum und seine Selbstwahrnehmung hinein auswirkten.

 

Sprecherin und Sprecher, immer schneller alternierend:

1799 - Honoré de Balzac wird geboren. Georg Christoph Lichtenberg stirbt. Ebenso Georg Washington, der erste amerikanische Präsident. - Alexander Humboldt bricht zu seinen ausgedehnten Forschungsreisen nach Mittel- und Südamerika auf. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte verliert im Atheismusstreit seinen Lehrstuhl in Jena. - Berlin erhält seine erste Dampfmaschine. - In England wird ein Anti-Gewerkschafts­gesetz gegen die aufkommende Arbeiterbewegung erlassen, - in Sibirien findet man ein gefrorenes Mammut, Tokio und London sind Millionenstädte. - Modische Frauen tragen die sogenannte griechische Tracht, stark dekolletierte, unter der Brust gegürtete Hemdkleider, - Männer erhalten ihr bis heute bürgerliches Beinkleid: die langen Hosen.

 

Sprecher:

Ein Ereignis jedoch überragt alle anderen am Vorabend der Jahrhundertwende.

Am 9. November 1799, dem 18. Brumaire, setzt der korsische Artilleriegeneral    Napoléon Bonaparte in einem Staatsstreich das regierende Direktorium ab. Am 24. Dezember erhebt er sich selbst zum Ersten Konsul, de facto zum alleinigen Machthaber. Napoleon spricht die historischen Worte: "Die Revolution ist zu Ende!"

 

Sprecherin:

Seine uneingeschränkte Macht, allein gestützt auf die Armee, ließ sich Napoleon in einer Volksabstimmung bestätigen. 1804 erhob sich zum Kaiser der Franzosen. Den Papst lud er zur Krönungsmesse nach Paris ein, um seine Legitimation zu erhöhen, aber die Krone setzte er sich selbst aufs Haupt. Hegel, der Napoleon 1806 durch das eroberte Jena reiten sah, bewunderte in ihm das "welthistorische Individuum". Hegel schrieb:

 Zitator:

Den Kaiser - diese Weltseele - sah ich ... - es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht."

Beethoven, dritte Symphonie, Erster Satz, Anfang

 

Sprecher:

Ludwig van Beethoven, demokratisch gesinnt, von der Idee der Freiheit und Gleichheit aller Menschen überzeugt, hatte seine dritte Symphonie, die weitgehend im Jahr 1803 entstand, zunächst Napoleon gewidmet. In ihm glaubte er den Bannerträger des republikanischen Gedankens zu schauen. Als Beethoven jedoch erfuhr, daß Napoleon sich zum Kaiser ausrufen ließ, radierte er voller Zorn die namentliche Widmung aus. Sie lautete nun: "Sinfonia eroica, composta per festeggiare il sovvenire d'un gran' uomo - heroische Sinfonie, komponiert, um das Andenken an einen großen Mann zu feiern." 

 

Beethoven, dritte Symphonie, Erster Satz, Fortsetzung

 

Sprecherin:

Von 1792 bis 1814, also über zwanzig Jahre lang, fand ein permanenter Krieg statt. In immer neuen militärischen Auseinandersetzungen kämpfte das zunächst revolutionäre, dann napoleonische Frankreich mit einer wechselnden Allianz, an der Österreich, England, Rußland und anfangs Preußen beteiligt waren. Preußen jedoch schloß 1795 einen Separatfrieden mit Frankreich, der bis 1806 hielt. Damit war der gesamte Norden Deutschlands aus der Kriegsspannung herausgehalten - ein wichtiger Umstand und eine fruchtbare Voraussetzung für die Hochblüte der Weimarer Klassik, so der Kölner Historiker Otto Dann. 

 

O-Ton, Otto Dann:

Gerade dieses Jahrzehnt um die Jahrhundertwende, war für das protestantische Norddeutschland eine Ruhezone, in der eben auch gerade intellektuelle Projekte blühen konnten. Und in dieser ganzen Region, und das kann man mehr oder weniger ausdehnen, gab es nicht mehr eine sich ereifernde Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. Denn diese Revolution war mit dem 9.Termindor, also mit der Beendigung der jakobinischen Diktatur im Jahre 1794 schon eigentlich zu ihrem Ende gekommen. Es wurde nicht mehr mit Terreur Politik gemacht, jetzt wurde mehr Politik gemacht mit der Armee, diese französische Nation marschierte, empfand sich als Grande Nation, entwickelte ihren eigenen Nationalismus, der aber mehr oder weniger akzeptiert wurde, das ging bis zu Goethe und anderen hin. Gegen diese Republik oder gegen Napoleon hatte man eigentlich nichts Ernsthaftes einzuwenden, bis zu jenem Zeitpunkt, wo Napoleon sein System wiederum nur noch mit Zwangsmaßnahmen aufrechterhalten konnte. Das ist aber erst ab 1807 der Fall gewesen. Dann ziehen sich die Sachen wieder fest, aber dieses Jahrzehnt um die Jahrhundertwende ist im Hinblick auf das deutsch-französische Verhältnis und im Hinblick auf die Geisteskultur in Europa ein ganz bemerkenswertes Jahrzehnt des Austausches und der Fluktuation.

 

Sprecher:

Die Weimarer Klassik, die ab 1798 einsetzende Frühromantik in Jena und Berlin, die Philosophie des Deutschen Idealismus von Fichte, Schelling und Hegel, die klassische Musik - das alles ereignete sich nahezu gleichzeitig. Noch heute ist man erstaunt über diese ungeheuer fruchtbare Phase der Kultur in Deutschland. Obwohl oder vielleicht gerade weil sich das Bürgertum hierzulande politisch nicht empörte, weder für eine parlamentarische Monarchie wie in England, noch gar für eine Republik wie in Frankreich stritt, gelang ihm ein geistiger Höhenflug sondergleichen.

 

Sprecherin:

In Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas traf man weiterhin auf eine Ständegesellschaft. Aber sie besaß keine starre Ordnung mehr. Je nachdem, ob es sich um ein mächtiges Fürstentum oder eine freie Reichstadt wie Hamburg oder Lübeck handelte, differierten die Verhältnisse. Und das Bürgertum, auch wenn es nicht politisch herrschte, trug seine Normen und Wertvorstellungen immer emphatischer in die Gesellschaft hinein und suchte sie dort durchzusetzen.

 

O-Ton, Otto Dann:

Natürlich regierten die Fürsten, aber die Fürsten nahmen die Intelligenz der Bürgerlichen in einem ganz anderen Maße in Anspruch, das herausragende Beispiel ist Weimar, wo ein Bürgersohn aus Frankfurt herangeholt wird, und dann geadelt wird, damit er mit an die Hoftafel kommt, wo schon vorher ein Schwabe, Wieland, ein Romanschreiber, zum Fürstenerzieher geholt wird, man sieht hier, diese Ständegesellschaft ist im Grunde eine durchmischte Gesellschaft, die immer mehr neue Kommunikationsformen entwickelt. Also Goethe, ..., hat genau zur Jahrhundertwende ... 1801 ein Mittwochskränzchen ins Leben gerufen, alle vierzehn Tage versammelte man sich in seinem Haus, da gehörte Schiller dazu, ... und auf der anderen Seite kam ein Teil der Hofgesellschaft, also Karl-August selbst, und einige aus seiner Umgebung, ... das war ein bürgerlicher Verein, wenn man es so nimmt, aber eben in dieser eigenartigen Mischung der Stände. Das war Deutschland in dieser Zeit. Eine Gesellschaft, wo noch nichts aufgelöst war, aber wo sich vieles mischte.

 

Sprecher:

Es war eine Gesellschaft im Übergang, in der sich das Spannungsverhältnis zwischen Adel und Bürgertum jedoch nicht politisch entlud, sondern sich in kulturellen Hochleistungen gleichsam sublimierte. Dennoch waren die Gegensätze unübersehbar, selbst in Weimar. Auch wenn Herzog Karl August und seine Gattin Anna Amalia ihrer persönlichen Vorliebe für geistvolle Unterhaltung, für Literatur und Musik huldigten, so unterschied sich das Leben am Weimarer Musenhof in anderer Hinsicht wenig von dem anderer Residenzen der Zeit: Kartenspielen und Konversation, Festbälle und Jagden wechselten einander ab. Immer auf der Sucht nach Zerstreuung, bar jeder gesellschaftlichen Pflicht, frönte der Adel seiner Vergnügungssucht. Sein letzter Stil, das verspielte Rokoko, bot den Abschiedsglanz einer untergehenden Klasse. Seine überfeinerte Sprache verriet Künstlichkeit, ging mit Roheit gegenüber dem Mitmenschen durchaus einher. In seinen Erinnerungen an Weimar erzählt Carl Freiherr von Lyncker folgende Anekdote:

 

Zitator:

Der Herzog brauchte (seinen Läufer) namens Beilschmidt ... zu mancherlei Parforcetouren. Er mußte z.B. bei dem damals gewöhnlichen Hasenbaxieren ganz gesunde allein fangen, und zuweilen befahl ihm der Herzog zu Mittag, Jagden in Ilmenau, Allstedt usw für den anderen Tag anzusagen. Ich hörte daher Serenissimus einst aussprechen: 'Ich habe so viele Pferde zuschanden geritten, so viel Hunde lahm gejagt, und Beilschmidt ist immer noch auf den Beinen.'"

 

Sprecherin:

Gegen diese Inhumanität richtete das Bürgertum seine Wertvorstellungen und Normen, formulierte die Klassik ihr Humanitätsideal.

 

Zitator:

"Edel sei der Mensch / Hilfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen, / Die wir kennen./ Heil den unbekannten / Höhern Wesen, / Die wir ahnen! / Ihnen gleiche der Mensch; / Sein Beispiel lehr uns / Jene glauben. ...

 

Sprecher:

Wo die Tradition auf Gott als Garanten der sittlichen Ordnung baute, dort rückt die Klassik - ganz im Sinne der Aufklärung - den Menschen in die Mitte und lädt ihm die Verantwortung auf. Der Mensch steht nun gleichsam für einen Gott ein, der selber in den Hintergrund tritt. Gott repräsentiert ein Ideal, das der Mensch in seiner Entwicklung und moralischen Vervollkommnung anstreben soll.

 

Sprecherin:

Kant sieht dabei den Menschen in einem fortwährenden Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite gebietet uns die Pflicht mit der inneren Stimme der Vernunft, auf der anderen Seite regiert uns die Neigung mit dem, was den Sinnen gefällt. Friedrich Schiller findet in der Kunst die Brücke über diese Kluft. Denn die Kunst entspringt dem ästhetischen Vermögen des Menschen, dem Spieltrieb, wie es Schiller in seinen Ästhetischen Briefen ... nennt. Im Spieltrieb, so Schiller, treten die verschiedenen Kräfte im Menschen - Vernunft, Phantasie und Sinnlichkeit - in ein freies lebendiges Zusammenspiel, so daß eine Harmonie ohne Zwang entsteht. Ein anderer Name für diese Harmonie lautet: Schönheit. Schönheit, wie die Klassik sie versteht, meint eine Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit, von Geist und Körper, von Innen und Außen, wie es vielleicht der Musik Mozarts in anmutigster Weise gelungen ist.

Mozart, A la Turca, Klaviersonate 11, KV 331,

 

Sprecher:

Schönheit im ästhetischen und Humanität im moralischen Sinn sind jedoch weder von Natur in jedem Einzelnen vorhanden, noch lassen sie sich durch Regeln und Gesetze gesellschaftlich aufzwingen. Vielmehr können sie nur entstehen und reifen, in dem jeder Mensch seine Individualität entfaltet und seine Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit bildet. Das Humanitätsideal ist deshalb vor allem ein Bildungsideal, ein ethisch-pädagogisches Projekt, wie der Siegener Literaturwissenschaftler Helmut Kreuzer erläutert:

O-Ton, Helmut Kreuzer:

Dieses Bildungsideal konnte natürlich nur von einem sehr begrenzten Kreis von Menschen realisiert werden, aber daß dieses Postulat aufgestellt wurde, und zwar eben nicht nur für den Adel, und nicht nur für das Großbürgertum, sondern als Ideal für alle. Und daß es Bildungsromane gab, die das als Prozeß beschrieben haben, und nicht etwa nur als einen Prozeß des Wissenserwerbs zum Zwecke der Kapitalvermehrung, sondern Bildung als etwas, was den ganzen Menschen betrifft und verwandelt und zu einer bestimmten Reife bringt, das bleibt dennoch ein Verdienst dieser Epoche, und sie hat auch einzelne Autoren gehabt, die ohne die guten Voraussetzungen, die Goethe mit sich brachte, den Weg gefunden haben in den Olymp der Literatur - ich meine den irdischen: in das literarische Leben und den Erfolg - denken Sie an Leute wie Moritz oder selbst den jungen Schiller, und so könnten wir fortfahren.

 

Sprecherin:

Gelesen wurden diese Werke um 1800 nur von einer schmalen Schicht der Gebildeten, im Adel und Klerus, und im wohlhabenden städtischen Bürgertum. Das Schulwesen auf dem Lande war in einem miserablen Zustand: Im Herzogtum Weimar kam auf 320 Einwohner ein Lehrer, der im übrigen mehr Gehilfe des Pfarrers denn Jugenderzieher war. Sein Einkommen lag zwischen 50 und 150 Talern im Jahr, rangierte damit kaum über dem des Tagelöhners. So mußte sich der ländliche Schulmeister seinen Lebensunterhalt zusätzlich mit Acker- und Gartenbau, Bienenzucht und Kurrendesingen sichern. Für geistige Interessen blieb wenig Energie, für Bücher kaum Geld übrig. 

 

Sprecher:

Jean Paul hat seine eigenen Erfahrungen als Elementarlehrer 1793 in einer Humoreske festgehalten mit dem Titel: Das Leben des vergnügten Schulmeisters Maria Wutz in Auenthal. Wutz, viel zu arm, um Bücher zu erwerben, schrieb sich seine Bibliothek buchstäblich selber. Ohne das Original je in Händen gehabt zu haben, erschuf er sich Schillers Räuber, Kants Kritik der reinen Vernunft und Cooks Reisebeschreibungen, um sich hernach eifrig ans Studium der zusammenphantasierten Texte zu machen. 

Breite Volkschichten besaßen nur ein einziges Buch zu Hause: Protestanten die Bibel, Katholiken den Bauernkalender. Die Mehrheit aber konnte weder lesen noch schreiben.

O-Ton, Helmut Kreuzer:

Selbstverständlich war der größere Teil der Bevölkerung damals noch dem Schicksal des Analphabetismus ausgesetzt - das ist richtig - auf dem Land schon gar, aber auch in den unteren bürgerlichen Schichten in den Städten, aber gerade deswegen  kommt dem Bildungspostulat eine so große Bedeutung zu. Heute ist das Bildungspostulat angesichts dessen, was jeder für Chancen hat zu lernen, weit weniger relevant als für die Zeit um 1800, das man dort die Bildung so groß geschrieben hat, spricht für diese Epoche, aber sie hatte dies auch nötig.

 

Sprecherin:

Deutschland bildete um 1800 trotz seiner kulturellen Hochblüte ein ökonomisch rückständiges Land. Seit dem 30jährigen Krieg war das Heilige Römische Reich deutscher Nation politisch zersplittert in 314 souveräne Territorien und 1475 Reichsritterschaften; ein Zustand, den ausgerechnet Napoleon beenden sollte, indem er 1803 zugunsten der mächtigeren deutschen Landesfürsten intervenierte und dem alten Reich 1806 den endgültigen Todesstoß versetzte.

 

Sprecher:

1800 glich die politische Landkarte Deutschlands immer noch einem Flickenteppich, unzählige Zollgrenzen behinderten Handel und Verkehr. Selbst innerhalb Preußens bestanden 67 lokale Zolltarife, die mit unzähligen Ein-, Aus- und Durchfuhrzöllen, mit Ein- und Ausfuhrverboten die einheimische Produktion vor dem starken Ausland schützen sollten.

 

Sprecherin:

Das damalige Deutschland stellte mit seinen 18 bis 20 Millionen Menschen ein beachtliches Wirtschaftspotential dar. Doch seine Infrastruktur war kaum entwickelt. Es gab zwar durchgehende Straßen, aber keine befestigten Chausseen und nur unregulierte Wasserwege, so daß Deutschland aus seiner günstigen geographischen Lage im Zentrum Europas und seinen reichen Bodenschätzen kaum Nutzen ziehen konnte. Der deutsche Export nach England betrug gerade ein Sechstel des Imports. Deutschland besaß zwar angesehene Manufakturzentren - für Kupfer- und Messingwaren Nürnberg, Stolberg und Iserlohn, für Gold- und Silberwaren Augsburg, Hanau und Pforzheim, für Baumwollverarbeitung, Seiden- und Samtherstellung Rheydt, Krefeld, Berlin, Magdeburg und Halle - aber der Absatz beschränkte sich im deutschen Raum auf eine schmale Schicht: den Adel und die höfischen Residenzen, das städtische Bürgertum.

 

Sprecher:

Die breite Bevölkerung war arm. In besseren Zeiten lebten leibeigene Bauern Ostelbiens von gesalzenen Heringen. Und ein Aktenhelfer in Preußen, so wird berichtet, nährte sich und seine Leute von Brotwassersuppen und Kartoffeln.

Deutschlands ökonomische Rückständigkeit vor allem gegenüber England und Frankreich galt aber nicht absolut, es gab Ausnahmen. Otto Dann nennt einen zumal für die Kultur wichtigen Bereich, wo Deutschland eine führende Rolle einnahm.

O-Ton, Otto Dann:

Natürlich, die Schwerindustrie war noch nicht entwickelt. Aber bleiben wir einmal bei der Industrie, die uns sehr naheliegt, nämlich die Verlagswirtschaft. Hier haben wir seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit Leipzig als großem Messemittelpunkt, ein kapitalistisches, voll kapitalisiertes Wirtschaftssystem laufen mit einer intensiven Kommunikation, einem sehr schnellen Umschlag von Nachrichten, Mitteilungsblättern usw, wo ein bürgerliches, sich frei organisierendes Publikum, sowohl produzierend als auch konsumierend sich beteiligte.

Und der deutsche Buchmarkt ist bekanntlich damals der entwickelteste in ganz Europa gewesen. Eben gerade weil es nicht diese großen nationalen Suprastrukturen gab, war es dieser Buchmarkt, - das war Deutschland, kann man sagen - und in diesem Buchmarkt allein - das wäre meine These - gab es dieses Jahrhundertbewußtsein oder gab es überhaupt ein Jahrhundertbewußtsein. Es ist eine große Frage, ob die Könige so etwas entwickelt haben, die Adelsgesellschaft, aber diese gebildete Gesellschaft, die eigentlich die geistige Führung hatte, und die ja nun bekanntlich gerade in Deutschland im Unterschied zu der nationalen politischen Krise, in der man sich befand, im geistigen, sozusagen in einem Höhenflug begriffen war.

 

Sprecher:

Die kulturelle Hochblüte im Deutschland lebte und bezog ihre Kraft auch aus inneren Spannungen und geistigen Auseinandersetzungen. Vor allem der Gegensatz von Aufklärung und romantischer Aufklärungskritik prägte die Jahrhundertwende 1800. Während die Aufklärung selbst noch um ihre gesellschaftliche und politische Durchsetzung kämpfte, setzte schon die Kritik an ihr durch die Romantik ein: unser heutiges Unbehagen an der Zivilisation wurde erstmals von der Romantik artikuliert: sie drückte ein Leiden aus an der kalten aufgeklärten Welt von Verstand und Geschäft, an dem "Despotismus des Geldes", wie es August Wilhelm Schlegel, einer der bedeutendsten Gelehrten der Frühromantik, formulierte. In seinen Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst kritisierte er an der Aufklärung:

 

Zitator:

Nach ihrer ökonomischen Richtung gab die Aufklärung alle Tugenden, die sich nicht der Brauchbarkeit für irdische Angelegenheiten fügen wollten, für Überspannung und Schwärmerei aus. Ohne irgendeine Ausnahme für besondere Naturen gelten zu lassen, sollten alle gleichermaßen in das Joch gewisser bürgerlicher Pflichten gespannt werden, in das Gewerbs-, Amts- und Familienleben, und zwar nicht aus Patriotismus und Liebe, sondern um den Acker des Staates wie Zugvieh zu pflügen und die Bevölkerung zu befördern.

 

Sprecherin:

Die Romantiker waren in ihrer Kritik nicht einfach von irrationalistischen Motiven geleitet, wie man manchmal hört; es gab vielmehr tatsächliche Fehlentwicklungen und Einseitigkeiten der Aufklärung, meint Helmut Kreuzer:

O-Ton, Helmut Kreuzer:

Die Aufklärung hatte ja diese doppelte Stoßrichtung, zum einen als eine Bewegung gegen geistige Autoritäten, die man nicht mehr unbefragt als Autoritäten akzeptieren wollte, sondern die sich vor der Vernunft und dem Gedanken rechtfertigen müßten; und zum anderen den Kampf gegen Barrieren, die der wirtschaftlichen Betätigung entgegenstanden, und daraus entwickelte sich das Bildungsbürgertum und das Wirtschaftsbürgertum.

Beide sind ohne die Aufklärung nicht zu denken, aber die Aufklärung ist da nicht mehr das, was sie vor 1800 war, sondern hat sich bereits gespalten, aufdifferenziert, und wir haben eine Aufklärung, die intellektuellen Interessen oder emotionalen Interessen der Selbstbildung und Selbstentfaltung beiseite schiebt zugunsten der wirtschaftlichen Entfaltung und der ökonomischen Interessen. Und dagegen lehnt sich eine andere Generation auf, zum Beispiel die romantische Generation, nicht nur was man bei Novalis annehmen könnte, aus ständischem Interesse, - er kommt nun einmal aus dem Adel - sondern selbstverständlich auch aus dem Interesse an einer Gefühls- und Herzensbildung, die sich nicht mehr befriedigt sieht, mit dem was sich aus der Aufklärung und der Wirtschaftspolitik des Bürgertums entwickelt im 19. Jahrhundert.

 

Sprecher:

Die Romantik kritisiert den vorherrschenden Ökonomismus der Aufklärung. Dabei artikuliert sie eine erste Kapitalismuskritik, die schon Motive der späteren Analysen von Karl Marx vorwegnimmt. Die Romantik richtet sich aber auch gegen die rationalistische Schlagseite der Aufklärung, gegen deren einseitige Orientierung am Verstand auf Kosten von Glaube, Gefühl und Phantasie.

 

Sprecherin:

Die Aufklärung will alles in wissenschaftlichen Definitionen und mathematischen Formeln einfangen. Dieser Entzauberung der Welt widerspricht die Romantik. Sie möchte den Sinn für das Unendliche wahren, das Geheimnis der Welt, die Würde der Natur. Ein solcher Sinn waltet, so glauben die Romantiker, in Nacht und Traum, in Poesie und religiösem Gefühl weit mehr als in der prosaischen Rede und im bürgerlichen Alltag. Die Romantik beschwört eine Wiederverzauberung der Welt. Novalis hat dieses Anliegen in einem Gedicht, in einem gleichsam poetischen Manifest kundgetan:

 

Zitator:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Sind Schlüssel aller Kreaturen,

Wenn die so singen oder küssen

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Wenn sich die Welt ins freie Leben

Und in die Welt wird zurückbegeben

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten

Zu echter Klarheit werden gatten

Und man in Märchen und Gedichten

Erkennt die ew'gen Weltgeschichten

Dann fliegt vor Einem geheimen Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort.

 

Sprecher:

Das Schreckensbild der Romantik hat sich heute vollends erfüllt. Denn nun läßt sich wirklich alles - jeder Satz, jede Musik jedes Bild - in den Zahlen des digitalen Code einfangen und reproduzieren. Vielleicht ist uns gerade deshalb das Unbehagen, das die Romantik ausdrückt, näher als der Zeitabstand vermuten läßt.

 

Sprecherin:

Die Romantik hat die andere Wesenshälfte des Menschen rehabilitiert, jene Nachtseite der Träume und Triebwünsche, die im Alltag des sozialen Rollentheaters kaschiert und verdrängt wird. Dort, wo die Romantik in literarischen Metaphern und Bildern von der Tiefe des Unbewußten spricht, wird hundert Jahre später Sigmunds Psychoanalyse des menschlichen Seelenlebens wiederanknüpfen,  dann freilich mit des Mitteln des Begriffs.

 

Sprecher:

Die Romantik artikuliert den Wunsch nach einem ganzheitlichen Erleben. Sie trägt die Sehnsucht aus, Mensch und Natur, Geist und Körper, Ich und Welt wieder zu versöhnen. Die Romantik ist zum Scheitern verurteilt, denn ihre idealistische Utopie vermag in der gesellschaftlichen Wirklichkeit keinen Ort zu finden. In der bürgerlichen Welt, wo Pragmatismus und Realitätstüchtigkeit gefragt sind, fühlt sich der romantisch gestimmte Geist beengt, unverstanden und fremd. Stets drängt es ihn hinaus, er fühlt sich als Wanderer, sehnt sich nach Heimat und Erlösung, ist immer auf der Suche nach der Blauen Blume, dem romantischen Sehnsuchtssymbol schlechthin.

Schubert, Wandererphantasie

 

Sprecherin:

1798 gründeten die Brüder August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel die Zeitschrift Athenäum in Berlin, Das ist der Auftakt der Frühromantik mit ihren Zirkeln in Jena und Berlin. Neben den Brüdern Schlegel gehören die Dichter Novalis und Tieck, die Philosophen Schelling und Schleiermachter hinzu. Wichtig sind ebenfalls die Frauen Dorothea Veit-Schlegel und Caroline Schlegel, die später Schelling heiratet. Aber bei ihnen wie auch bei der Dichterin Karoline von Günderode wird das fortbestehende Maß der gesellschaftlichen Unterdrückung von Frauen deutlich. Sie können zwar in den literarischen Salons mitwirken, in Briefwechseln und teilweise auch Zeitschriftaufsätzen hervortreten, aber eine wirklich unabhängige Lebensführung und eigenständige Arbeit bleibt ihnen in der patriarchalischen Gesellschaft versperrt.

 

Sprecher:

Christina von Braun beschreibt, wie erste Emanzipationsversuche schon während der Französischen Revolution abgewürgt werden.

 

O-Ton, Christina von Braun:

Es hat in Frankreich wirklich beachtliche Frauen gegeben, die auch in der Französischen Revolution sehr aktiv beteiligt waren, und dann kommt schon - noch in der Revolutionszeit, aber 1794/95 der Umschlag. ... ab 1794/95 erscheinen Texte, die Frauen verbieten, die Kokarde zu tragen, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, an denen sie sehr aktiv, zumindest  in den Großstädten beteiligt waren. Es beginnt also noch in der Revolutionszeit ein Back-lash gegen die weibliche Selbstbestimmung, der sehr beachtlich ist, und unter diesen Aspekten kann man auch einige Texte wie die Lucinde lesen. Natürlich ist da ein Idealbild einer emanzipierten Frau entworfen worden, aber gleichzeitig entstehen Idealbilder - und das wird sich im Laufe des 19. Jahrhunderts noch erheblich verstärken - Idealbilder, von denen man das Gefühl hat, hier ist eigentlich in einem männlichen Entwurf von weiblicher Identität die Rede, während solche Idealwürfe geschrieben werden, werden Frauen in die Nähstuben verbannt, wird es ihnen verboten, die Universitäten zu besuchen usw. Es gibt Parallelen zwischen einerseits weiblichen Emanzipationsbildern, die immer von Männern verfaßt und entworfen werden, und andrerseits einer Rolle, die zunehmend eingeengt werden, denen Frauen im realen Leben ausgesetzt werden.

 

Sprecherin:

Ein solches Emanzipationsbild der Frau, und ein neues, die Zeitgenossen provozierendes Bild der Liebe schuf Friedrich Schlegel  in seinem 1799 erschienenen Roman Lucinde. Wegen seiner freien Ansichten warf man dem Autor Zügellosigkeit und Libertinage vor. Der Sturm der Entrüstung erhob sich um so heftiger, weil Schlegel in dem Werk offensichtlich von seiner außerehelichen Liebesbeziehung zu Dorothea Veit inspiriert war.

 

Sprecher:

Die Hauptfiguren des Romans - Julius, ein junger Künstler, und Lucinde, die ihm ebenbürtige Frau, - finden in einer vollkommenen idealen Liebe zu einander. Julius entdeckt in Lucinde die ihm ähnliche Seele, mit der auf allen Ebenen, geistig, emotional, sexuell verschmelzen möchte. So schwärmt er:

 

Zitator:

Ja! ich würde es für ein Märchen gehalten haben, daß es solche Freude gebe und solche Liebe, wie ich nun fühle, und eine solche Frau, die mir zugleich die zärtlichste Geliebte und die beste Gesellschaft wäre und auch eine vollkommene Freundin. .... Es gehört dir alles und wir sind uns überall die nächsten und verstehn uns am besten. Durch alle Stufen der Menschheit gehst du mit mir von der ausgelassensten Sinnlichkeit bis zur geistigsten Geistigkeit und nur in dir sah ich wahren Stolz und wahre weibliche Demut.

 

Sprecherin:

Schlegel präsentiert uns in diesem Schlüsselwerk das romantische Liebesideal: Beide Partner gehen ganz ineinander auf, in einer vollkommenen Einheit von Liebe, Leidenschaft und Ehe.

Dieses Liebesideal, das unsere Gegenwart immer noch massen- und medienwirksam beherrscht, war jedoch um 1800 etwas unerhört Neues, es entsprang einem bürgerlichen Verständnis von Liebe, das sich gegen das adlige durchsetzte.

 

Sprecher:

Der Adel unterschied vergängliche Romanzen, in denen man Leidenschaften auslebt, erotisches Abenteuer und frivoles Vergnügen findet, sehr genau von der Institution der Ehe, wo es um Erbfolge, Hausstand und Gütergemeinschaft geht. Begehren und Erotik, mit der ganzen Wechselhaftigkeit und Ambivalenz, die menschlichen Gefühlen eigen sind, wollte man nicht mit einer Ehegemeinschaft zusammendenken, die auf Dauer und Konstanz abzielt.

 

 

 

Sprecherin:

Das Bürgertum warf dem Adel im Gegenzug Dekadenz vor, die Oberflächlichkeit seiner Amouren, in denen die Gespielen austauschbar blieben.

Dagegen entdeckte und kultivierte das Bürgertum den Menschen in seiner Unverwechselbarkeit, in der Tiefe seiner Persönlichkeit - mit einem Wort: das einzigartige Individuum. Und in der romantisch verstandenen Liebe bejaht jeder den Anderen in seinem unvergleichbaren Wert, in seiner Einmaligkeit.

 

Sprecher:

Aber in der modernen Massengesellschaft wird Individualität allenthalben nivelliert, in der technisierten und bürokratisierten Welt verkümmert sie zu einem Fetisch der Werbung. Deshalb soll die vollkommene Zweisamkeit die Individualität retten, die Liebe soll dem Anderen geben, was er in der Welt nicht mehr findet. So gerät die romantische Liebe zur letzten Religion, die den modernen Menschen Erlösung verheißt.

 

Sprecherin:

Damit sind die wirklichen Liebesbeziehungen jedoch hoffnungslos überfordert. Und das romantische Liebesideal erweist sich als Falle, wenn es die symbiotische Zweisamkeit verklärt und das Stück Fremdheit und Andersheit im Anderen nicht hinnehmen kann.

 

O-Ton, Christina von Braun:

Die Vorstellung der Liebesehe, die um etwa 1800 aufkommt, daß das Paar ein symbiotisches Paar zu sein hat, wo das eine im anderen aufgeht, wo es überhaupt kein Du mehr gibt, sondern nur noch das Wir als große Einsamkeit statt Zweisamkeit, das ist tatsächlich eine große Ideologie, die ab 1800 eine wichtige Rolle spielt, insbesondere im Bürgertum zur Abgrenzung gegenüber dem Adel, der ja immer auf dieser Basis der Vernunftehe und einer Gütergemeinschaft die Paare zusammengestellt hat und der nie von einer solchen symbiotischen Beziehung zwischen Mann und Frau ausging, und welchen Terror diese Vorstellung ausgeübt hat, das kann man einerseits an der Geschlechterbeziehung sehen bis ins 20. Jahrhundert hinein, - dieses Bild, daß wenn ich nicht eine absolute Einheit mit meinem Partner und meiner Partnerin bilde, eigentlich meine Ehe schon gescheitert ist und ich sie am besten auflöse und den nächsten Versuch unternehme.

 

Sprecher:

Friedrich Schlegel, der 1799 seiner außerehelichen Liebe zu Dorothea Veit und überhaupt einem neuen Mann-Frau-Verhältnis ein so mutiges, skandalentfachendes literarisches Manifest geschaffen hatte, wandelte sich vom jakobinischen Rebellen zum konservativen Ideologen der Restaurationsepoche. Schlegel konvertierte - ebenso wie Brentano - zum Katholizismus, in dem er die vorreformatorische Einheit des Mittelalters, mit einem Papst und einem Kaiser, gewahrt glaubte. Und schließlich ging er an den Hof Metternichs, den Hort der Reaktion, die Europa nach 1815 erwarten sollte.

Denn nach dem Wiener Kongreß 1815 retardierte die Geschichte in der sogenannten Restaurationsepoche. Fürsten und Könige versuchten das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den lebendigen Freiheitsdrang der Individuen wie der Völker zu ersticken.

 

Sprecherin:

 

Aber die Jahrhundertwende 1800, jene Zeit zwischen 1789 und 1815, bedeutete einen entscheidenden Sieg des Bürgertums über den Adel. In Frankreich gelang dabei ein politischer, in Deutschland nur ein geistiger Triumph, der allerdings über Grenzen und Epochen hinaus wirksam blieb. Die Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Adel, der Umbruch von der traditionellen zur modernen Gesellschaft fand auf vielfachem Terrain statt: nicht nur in Politik und Ökonomie, ebenso auf dem Feld der gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Lebensformen, wie sie vor allem Literatur und Kunst entwarfen, vom romantischen Liebesideal bis hin zur Mode.

 

Sprecher:

Nach der Jahrhundertwende setzt auch ein schicksalsträchtiger Wandel zwischen den Völkern ein, was den Begriff der Nation angeht.

Während der Französischen Revolution ist Nation zunächst ein integrativer, keineswegs andere Völker diskriminierender Begriff. Gegen die traditionelle Gesellschaft, die auf dem Standesunterschied der Menschen aufbaut, verheißt der Nationsbegriff Gleichheit: Als Franzosen sind alle Menschen im Staat gleich.

 

Sprecher:

Aber unter der napoleonischen Fremdherrschaft und erst recht in den Befreiungskriegen 1812 bis 1815 beginnen sich bei Deutschen und Franzosen die Dinge zu verkehren. Der Kosmopolitismus der Jahrhundertwende macht einer patriotischen Haltung Platz. Und hier und da sind schon die Töne eines übersteigerten Nationalismus vernehmbar, der der nachfolgenden Geschichte, bis in die Gegenwart hinein, seinen blutigen Stempel aufdrückt.